Führt die Nutzung gewalttätiger Computerspiele zu Aggressionen? - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 9 - 223/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Führt die Nutzung gewalttätiger Computerspiele zu Aggressionen? Ausarbeitung WD 9 - 223/06 Abschluss der Arbeit: 15.12.2006 Fachbereich WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Einleitung In der Liste jugendgefährdender Medien nach § 18 Bundes-Jugendschutzgesetz (JSchuG) sind derzeit 448 „gewaltverherrlichende“ oder gewaltverharmlosende Spiele. indiziert. In der aktuellen Debatte über ein generelles Verbot von Einfuhr, Verkauf und Vermietung der in den populären Medien so genannten „Killerspiele“ steht die Frage nach kausalen Zusammenhängen vom Umgang mit virtueller Gewalt und realen Gewalttätigkeiten im Vordergrund. Gesicherte empirische Erkenntnisse liegen hierzu bislang nicht vor, insbesondere deshalb, weil infolge der Neuheit des Phänomens noch keine ausreichenden Langzeitbeobachtungen unternommen werden konnten. Aber auch die Methodik der bisherigen Untersuchungen ist noch nicht ausreichend entwickelt. Studien zur Wirkung von Mediengewalt basieren weitgehend auf Laboruntersuchungen1 und Befragungen. Die Ergebnisse von Befragungen sind eingeschränkt aussagefähig, weil die Datenerhebung allein auf der Selbsteinschätzung der Probanden beruht. Hingegen wird im Labor eine Spielsituation simuliert und das Ausmaß entstandener Aggressivität anhand physiologischer Indikatoren bestimmt. Auch wenn dieses Verfahren objektiver ist, können die Ergebnisse durch Sterilität und Realitätsferne der Situation verfälscht sein. Fast allen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie sich auf kurzfristig messbare Wirkungen beschränken. Da anzunehmen ist, dass es sich bei der Wirkung von Mediengewalt um einen kumulativen Prozess handelt, wären jedoch längerfristige Effekte von besonderem Interesse, wie sie nur in Langzeitstudien erfasst werden können . 2. Definition In den nachfolgenden Ausführungen wird häufig für Computerspiele, in denen realitätsnahe Tötungshandlungen simuliert werden, die populäre, juristisch nicht definierte Bezeichnung „Killerspiele“ verwendet. Inwiefern die Gewaltdarstellungen in diesen Spielen tatsächlich „verherrlichend“ oder „verharmlosend“ im Sinne des JSchuG sind, ist verallgemeinernd nicht festzustellen und bleibt im Rahmen der vorliegenden Ausarbeitung offen. 1 Probanden spielen in der Regel 20 Minuten lang ein Computerspiel in einem Labor. Anschließend wird anhand physiologischer Messungen (Hautwiderstand, Pulsfrequenz, Schweißaussonderung) Aggressivität gemessen. - 4 - Killerspiele haben in der Regel Kampf- oder Kriegsszenarien zum Inhalt, deren Gewaltdarstellung mit der technischen Entwicklung immer realistischer geworden ist. Am meisten verbreitet sind die Ego-Shooter-Spiele, in denen der Spieler die virtuelle Welt aus der Ich-Perspektive erlebt und dadurch die Möglichkeit hat, eine aktive Rolle in der Kampfhandlung einzunehmen. Dabei muss der Spieler Rätsel lösen, mit taktischem und strategischem Vorgehen sein Ziel erreichen und vor allem Geschick im Umgang mit verschiedenen Waffen unter Beweis stellen. Bekannte Ego-Shooter-Spiele sind Counter-Strike, Wolfenstein, Doom, Quake, Unreal und Half-Life. 3. Pro- und Kontra-Argumente Die Frage, ob und inwiefern das Spielen von Killerspielen aggressiv macht, also schädlich ist oder evtl. auch eine positive, förderliche Wirkung auf die Spieler hat, führt immer wieder zu kontroversen Diskussionen in denen unterschiedliche Grundhaltungen zum Vorschein kommen. Die Bewertung von Gewalt hängt in hohem Maße von den eigenen Wertvorstellungen ab. Während Kritiker die Gewalt eher als Zweck eines Spiels betrachten, sehen Befürworter sie lediglich als Mittel zur Erreichung eines legitimen Zieles (der Spieler ist in der Regel auf der Seite des „Guten“). Eine Fülle von Studien kommt zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, die wiederum unterschiedlich interpretierbar sind. Neben der in den Medien weit verbreiteten Meinung, dass Computerspiele mit Gewaltinhalten zum Nachahmen animieren sowie aggressives Verhalten, emotionale Abstumpfung und Verrohung zur Folge haben, wird verschiedentlich auch eine positive Wirkung dieser Spiele angenommen. Als Pro-Argumente werden genannt: - Förderung von Reaktionsvermögen und taktischem Denken; - Förderung von Teamfähigkeit, Kommunikation und Regelbeachtung bei Mulitplayerspielen ; - Abschreckungseffekt (Gegenteil vom Nachahmungseffekt): der Spieler hat nicht das Bedürfnis die virtuelle Gewalt in die Realität umzusetzen, der abgeschreckt ist; - Katharsis (Abreaktionseffekt), Abbau von Aggressionen durch die gespielte Gewalt ; - Sensibilisierung: der Spieler wird sich durch die realitätsnahe Gewalterfahrung der Konsequenzen seines Handelns eher bewusst; - 5 - - Killerspiele sind ein „normales“ Phänomen der Zeit und werden in einigen Jahren gesamtgesellschaftlich anerkannt sein. Ebenso wie Fernsehen, Beatmusik, Jazz, Comics werden sie zunächst für gefährlich gehalten, da sie neu und noch eher unbekannt sind. 4. Forschungsstand Der Stand der Forschung ist in der im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erstellten Studie "Medien und Gewalt" (BMFSFJ 2004 a) wiedergegeben. Diesem Bericht liegt eine umfassende Recherche deutsch- und englischsprachiger Untersuchungen zu Grunde, die zwischen 1998 und Ende 2003 erschienen sind. Dabei wurde dem interdisziplinären Charakter der Medien- und -Gewalt- Forschung Rechnung getragen. Zu ähnlichen Ergebnissen wie das BMFSFJ ist der Medienforscher Dr. Thilo Hartmann gekommen, die er in seinem Vortrag „Gewaltspiele und Aggression“ (2006)2 zusammengefasst hat. Eine Verallgemeinerung der bisherigen Befunde ist aufgrund z. T. widersprüchlicher und methodisch problematischer Studien nur eingeschränkt möglich. Unter diesem Vorbehalt kann die bisherige Forschungslage – mit aller Vorsicht – folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Ergebnisse der meisten Untersuchungen sprechen für einen kleinen bis mittelstarken Zusammenhang zwischen Mediengewalt und Aggressivität . Schon beimVergleich, der Aggressionspotenziale von gewaltprägenden Fernseh- oder Filminhalten mit denen von Computerspielen gibt es widersprüchliche Ergebnisse. Viele Studien stimmen darin überein, dass die Nutzung gewalthaltiger Spiele kurzfristig - zu aggressivem Verhalten führt, - das aggressive Denken fördert, - aggressive Gemütszustände fördert, also Wut- und Ärger-Emotionen zunehmen, - zu einer Abnahme des pro-sozialen Verhaltens und - zu einer Erhöhung der Erregung der Spieler führt (Hartmann 2006: 13). Als ein aggressionsfördernder Effekt wird das Priming genannt, ein automatisch ablaufender Prozess, bei dem das Gehirn sich während des Computerspiels „aufwärmt“, d. h. 2 Der Vortrag wurde auf der Internationalen Konferenz „Clash of Realities. Computerspiele und soziale Wirklichkeit“ vom 22.-24.03.2006 an der Fachhochschule Köln und Electronic Arts gehalten. - 6 - sich mit aggressiven Gedanken anreichert, die auch noch nach dem Spiel dominieren können. Dieser Effekt wurde insbesondere bei belohnender Gewalt im Spiel beobachtet 3. Ein weiteres Folge-Phänomen von Killerspielen ist die als „hostil attribution bios“4 bezeichnete, eher feindselige Wahrnehmung ambivalenter Erlebnisse (Hartmann 2006). Weiter wurde der „hostil expectation bios – Effekt“ beobachtet, der die automatische Annahme einer aggressiven Haltung oder Reaktion des Gegners in einer Konfliktsituation bezeichnet. Auch wenn – trotz der oben beschriebenen Probleme – von einer generellen Ungefährlichkeit von Mediengewalt fast nicht mehr ausgegangen werden kann, herrscht weit reichende Übereinstimmung darüber, dass die Auswirkungen von Mediengewalt differenziert betrachtet werden müssen. Auch stellt Mediengewalt nur einen Faktor innerhalb eines komplexen Bündels von Ursachen für die Entstehung gewalttätigen Verhaltens dar. Der Medienforscher Michael Kunczik sieht die Auswirkungen von Mediengewalt auf Aggressionsverhalten am ehesten bei jüngeren, männlichen Vielsehern, die in Familien mit hohem Fernsehgewaltkonsum aufwachsen und in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld viel Gewalt erleben (PM-Magazin5). Fazit Der Medienforscher Mike Friedrichsen, deren Studienergebnisse auch in dem BMFSFJ- Bericht berücksichtig wurden, fasst die Erkenntnisse der Mediengewaltforschung wie folgt zusammen: - Gewaltdarstellungen haben auf die große Mehrheit der Rezipierenden keine oder nur schwache Effekte, aber bei bestimmten Problemgruppen können womöglich starke Wirkungen auftreten. Direkte Wirkungen sind nur in Einzelfällen zu belegen. - Gewaltdarstellungen in den Medien tragen nicht zum Abbau von Aggressionen bei (Katharsisthese widerlegt). - Kriminelle oder aggressive Verhaltensweisen sind nicht zwangsläufig auf gewalthaltige Medieninhalte zurückzuführen. - Die Verstärkung von bereits vorhandenen Einstellungen bzw. Aggressionen ist wahrscheinlicher als deren Induktion. 3 Hartmann (2006:13) beschreibt eine Untersuchung, bei der ein Ego-Shooter-Spiel manipuliert wurde : Einmal wurde die Gewalt belohnt, einmal bestraft. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Zugänglichkeit zu aggressiven Gedanken nur nach belohnter Gewalt erhöht war. 4 Wenn man beispielsweise in einem Bus angerempelt wird, kann man das als feindseligen Akt betrachten und aggressiv reagieren. Oder man sieht es als Zufall oder Folge einer Schlenkerbewegung des Busfahrers und reagiert gar nicht. 5 http://www.pm-magazin.de/de/heftartikel/ganzer_artikel.asp?artikel... - 7 - - Bei der Beurteilung von Medieninhalten und ihrer Wirkung auf Rezipierende müssen soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. - Es muss unterschieden werden zwischen kurz- und langfristigen Medienwirkungen. - Lebenswelten und Personenmerkmale der Rezipierenden haben Einfluss auf die Wirkung6. Da mögliche Wirkungsmechanismen bezogen auf Effekte violenter Computerspiele bislang noch immer verhältnismäßig unklar sind, haben einige Forscher zur Einordnung der Befunde theoretische Modelle herangezogen, von denen die bekanntesten im Anhang erläutert werden: 6 http://www.somasoma.de/12/thema/mediengewalt.htm - 8 - Anhang Katharsisthese: Die im Rahmen der Fernsehgewaltforschung als widerlegt zu betrachtende Katharsisthese ist von der Forschung zur Computerspielgewalt wieder aufgegriffen worden. Die Möglichkeit, dass Computerspiele, anders als Fernsehinhalte, kathartische Effekte auslösen, wird u. a. damit begründet, dass Computerspiele im Gegensatz zu anderen Unterhaltungsmedien ein wirksameres, „interaktives Abreagieren“ ermöglichen könnten. Habitualisierungsthese: geht von einem Abstumpfungseffekt des langfristigen Konsums von Mediengewalt aus. Um diese Wirkungsannahme als belegt zu betrachten, liegen nach wie vor nicht genügend Untersuchungen vor. Problematisch ist v. a. das noch immer höchst heterogene Begriffsverständnis von „Habitualisierung“ und die Interpretation zur Untersuchung dieser These oft herangezogener physiologischer Messwerte (Puls, Hautwiderstand usw.). Kultivierungsthese, geht davon aus, dass Medien das Weltbild der Nutzer im Sinne einer „Medienrealität“ prägen. General Aggressionsmodell: versucht verschiedene Theorien zu integrieren. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass die Ausübung von Gewalt v. a. auf dem Lernen, der Aktivierung und der Anwendung aggressionsbezogener, im Gedächtnis gespeicherter Wissensstrukturen basiert. Die Hauptkomponenten des Modells sind Person und Situation des Rezipienten, der gegenwärtige innere Zustand des Individuums und verschiedene , zu impulsiven oder wohlüberlegten Handlungen führende Einschätzungs- und Entscheidungsprozesse. Das Modell drückt die im Grunde nicht neue Idee aus, dass aggressive Medieninhalte Aggression steigern können, indem sie Rezipienten zeigen, wie man Gewalt ausübt, indem sie aggressive Kognitionen prägen, indem sie die Erregung steigern oder indem sie einen aggressiven Gefühlszustand hervorrufen. kognitiv-physiologischen Ansatz: Ein Beitrag zur differenzierteren Erklärung von Wirkungsvorgängen, der allerdings eher als Forschungsdesign denn als eigentliche „Theorie“ interessant ist. Grimm verbindet Nutzungs- und Wirkungsperspektive und - 9 - berücksichtigt sowohl inhalts- als auch personenbezogene Aspekte. Zentrales Ergebnis von Grimms Untersuchungen ist die Bedeutung der Opferperspektive für die Rezeption von Mediengewalt, deren Berücksichtigung Grimm zufolge zur Widerlegung bzw. Modifikation bisheriger Wirkungsthesen (z. B. Katharsis, Habitualisierung, Lerntheorie führt) (BMFSFJ 2004 a: 120ff). Literaturverzeichnis BMFSFJ (2004 a) Medien und Gewalt. Auszug. - Anlage 1 - BMFSFJ (2004 b) Medien und Gewalt. Kurzfassung. - Anlage 2 - Hartmann, Thilo (2006). Gewaltspiele und Aggression. - Anlage 3 - P.M. Magazin. Machen Games dumm und aggressiv? http://www.pm-magazin.de/de/heftartikel/ganzer_artikel.asp?artikel... - Anlage 4 - Gewalt durch Gewalt in den Medien? Was die Medienforschung uns zu sagen hat. http://www.somasoma.de/12/thema/mediengewalt.htm - Anlage 5 - Weiterführende Literaturhinweise Kunczik, Michael; Zipfel, Astrid (2002). Gewalt durch Medien? Politik und Zeitgeschichte 4/2002. - Anlage 6 - dradio.de. Die Verbreitung von Killerspielen lässt sich nicht vermeiden. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kulturinterview/439571/dr... - Anlage 7 - Hopf, Werner (2002). Mediengewaltwirkungen – nichts bewiesen? SchulVerwaltung BY 7/8/2002 - Anlage 8 - Selg, Herbert. Mediengewalt und ihre Auswirkungen auf Kinder (2003). UJ 4/03. - Anlage 9 - - 10 - Rogge, Jan-Uwe. Die Gefahr des Bösen, die Lust am Bösen. Über die Gewalt in den Medien. www.mediageneration.net - Anlage 10 - Kunczik, Michael. Gewalt und Medien (1998). Kunczik, Michael; Zipfel, Astrid. Gewalt und Medien (2006).