Deutscher Bundestag Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen unter Haftbedingungen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 9 – 3000/139-11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 2 Aktenzeichen: WD 9 – 3000/139-11 Abschluss der Arbeit: 28. Dezember 2011 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren und Jugend Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtliche Rahmenbedingungen 4 2.1. Einsatz von Substitutionsmitteln in der Drogentherapie 5 2.2. Gesundheitsversorgung von Personen in Haft 6 2.3. Substitution unter Haftbedingungen 6 3. Aus- und Fortbildungen von Ärzten im Zusammenhang mit Substitutionen 7 4. Drogenabhängigkeit und Drogensubstitution in Haft – Die Situation in Deutschland 7 5. Rechtliche und praktische Erfordernisse zur Intensivierung der Substitution unter Haftbedingungen 10 6. Quellen und Literaturhinweise 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 4 1. Einleitung Obwohl die Anwendung von Substitutionsmitteln als Behandlungselement von Opiatabhängigen 1 allgemein anerkannt ist, gibt es deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Anwendungshäufigkeit innerhalb beziehungsweise außerhalb von Haftanstalten. Auf dieses Missverhältnis wies auch die Drogenbeauftrage der Bundesregierung, Mechthild Dyckmans, in einer gemeinsamen Presseerklärung mit der Deutschen Beobachtungstelle für Drogen und Drogensucht vom 15. November 2011 hin.2 Pressemeldungen zufolge hat ein derzeit in der bayrischen Justizvollzugsanstalt (JVA) Kaisheim einsitzender Häftling ein Rechtsverfahren mit dem Ziel angestrengt, dass seine zuvor in Freiheit begonnene Substitution auch während der Haftzeit weitergeführt wird.3 Im Folgenden sind die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie Informationen zum Stand der Substitutionsbehandlungen in Haftanstalten zusammengestellt. 2. Rechtliche Rahmenbedingungen Gemäß der Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung - BtMVV) wird unter der Substitution von Drogen „die Anwendung eines ärztlich verschriebenen Betäubungsmittels bei einem opiatabhängigen Patienten (Substitutionsmittel) zur 1. Behandlung der Opiatabhängigkeit mit dem Ziel der schrittweisen Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz einschließlich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes , 2. Unterstützung der Behandlung einer neben der Opiatabhängigkeit bestehenden schweren Erkrankung oder 3. Verringerung der Risiken einer Opiatabhängigkeit während einer Schwangerschaft und nach der Geburt.“4 verstanden. 1 Im Folgenden wird der Begriff Substitution verwandt. 2 Der Text der Presseerklärung „Drogenkonsum in Deutschland unverändert“ vom 15. November 2011 ist eingestellt auf: http://drogenbeauftragte.de/presse/pressemitteilungen/2011-04/jahresberichte-zurdrogensituation .html (Stand 13. Dezember 2011) 3 Süddeutsche Zeitung vom 24. August 2011, Artikel „Kalter Entzug“, eingestellt auf: http://www.gesundinhaft.eu/wp-content/uploads/2011/09/SubstitutionSZ240811.pdf (Stand 15. Dezember 2011) und beigefügt als Anlage 1. 4 Der vollständige Text der Verordnung unter: http://www.gesetze-iminternet .de/btmvv_1998/BJNR008000998.html (Stand 12. Dezember 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 5 2.1. Einsatz von Substitutionsmitteln in der Drogentherapie Am 21. Juli 2009 trat das „Gesetz zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung“ in Kraft. Durch die in dem Gesetz vollzogenen Änderungen des Betäubungsmittelgesetzes, des Arzneimittelgesetzes und der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung wurden die rechtlichen Voraussetzungen für die Anwendung von Substitutionen als Bestandteil der Regelversorgung geschaffen . Unter anderem ist geregelt, dass beispielsweise Diamorphin im Rahmen einer Substitutionsbehandlung von Schwerst-Opiatabhängigen verschrieben werden kann. Auf der Grundlage des § 5 Abs. 11 Betäubungsmittelverschreibungsgesetz (BtMVV) verabschiedete die Bundesärztekammer am 19. Februar 2010 die „Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger“5. In der Präambel der Richtlinien wird die Opiatabhängigkeit als eine „behandlungsbedürftige, schwere chronische Krankheit“ bezeichnet. Ziel einer Behandlung ist das schrittweise Erreichen einer Betäubungsmittelabstinenz eines Patienten. Die Substitution soll in ein umfassendes Therapiekonzept eingebunden sein. Insbesondere muss eine psychosoziale Betreuung als integraler Bestandteil der Substitutionsbehandlung angeboten werden. Am häufigsten wird Methadon und Buprenorphin zur Substitution von Heroin eingesetzt. Gemäß § 13 Abs. 3 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) für die Länder das so genannte Substitutionsregister. Demnach ist jeder Arzt verpflichtet, von ihm verordnete Substitutionsmittel der Bundesopiumstelle im BfArM mitzuteilen. Gemäß § 5a Abs. 2 der Verordnung über das Verschreiben, die Abgabe und den Nachweis des Verbleibs von Betäubungsmitteln (Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung – BtMVV) müssen hierbei der Patientencode6, das Datum der ersten Verschreibung, das verschriebene Substitutionsmittel, das Datum der letzten Verschreibung sowie Name und Adresse des verschreibenden Arztes übermittelt werden. In § 85 Abs. 2a SGB V ist festgelegt, dass „Vertragsärztliche Leistungen bei der Substitutionsbehandlung der Drogenabhängigkeit gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses von den Krankenkassen außerhalb der nach Absatz 2 vereinbarten Gesamtvergütungen“ vergütet werden. 5 Der vollständige Text der Richtlinie auf: http://www.bundesaerztekammer.de/downloads/RL-Substitution_19- Februar-2010.pdf (Stand 12. Dezember 2011). Die Richtlinien sind in der Anlage 2 beigefügt. 6 Der Patientencode setzt sich aus Teilen des Vor- und Familiennamens, dem Geschlecht und Teilen des Geburtsnamens zusammen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 6 2.2. Gesundheitsversorgung von Personen in Haft Strafgefangene sind in Deutschland nicht gesetzlich krankenversichert.7 Gemäß § 16 Absatz 4 Sozialgesetzbuch V (SGB V) ruhen Ansprüche, wenn die Versicherten „sich in Untersuchungshaft befinden, nach § 126a der Strafprozessordnung (StPO) einstweilen untergebracht sind oder gegen sie eine Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung vollzogen wird, soweit die Versicherten als Gefangene Anspruch auf Gesundheitsfürsorge nach dem Strafvollzugsgesetz haben oder sonstige Gesundheitsfürsorge erhalten“. Die gesundheitliche Versorgung von Inhaftierten ist in den §§ 56 bis 66 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) geregelt. Demnach ist gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 zu gewährleisten, dass für die körperliche und geistige Gesundheit eines Häftlings gesorgt wird. Im § 190 Nr. 1 bis 10 und Nr. 13 bis 18 sowie §§ 191 bis 193 StVollG ist eine Einbeziehung von inhaftierten Straftätern zwar vorgesehen, aber gemäß § 198 Abs. 3 StVollzG von der Verabschiedung eines eigenen Bundesgesetzes hierzu abhängig, was noch nicht vollzogen ist. Weiterhin liegt seit dem Inkrafttreten der Föderalismusreform I am 1. September 2006 die Strafvollzugsgesetzgebung bei den Ländern. In der gesundheitlichen Versorgung von Strafgefangenen gilt das Äquivalenzprinzip. Gemäß § 61 StVollG gelten für die medizinische Versorgung gefangener Patienten die entsprechenden Vorschriften des Sozialgesetzbuches und die auf Grund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen . Insoweit die Bundesländer eigene Strafvollzugsgesetze verabschiedet haben, wurde diese Regelung jeweils übernommen. Anstaltsärzte sind bei den Justizministerien der Länder beschäftigt. Ihre Position ist mit denen von Betriebsärzten vergleichbar. In Haftanstalten besteht keine freie Arztwahl. Weiterhin gibt es in vielen Haftanstalten ein festes Budget für die Gesundheitsbetreuung von Strafgefangenen. Es wird vermutet, dass die entsprechenden Budgets durch den verstärkten Einsatz von Substitutionsbehandlungen nicht zusätzlich belastet werden sollen.8 2.3. Substitution unter Haftbedingungen In der Präambel der „Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung“, Anlage I, Kapitel 7 wird unter Bezugnahme auf § 27 SGB V die Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen ausdrücklich als ärztliche Methode aufgeführt. 9 Weiterhin wird in Punkt 8 (Verabreichung unter kontrollierten Bedingungen ) ausdrücklich festgehalten, dass bei einem Wechsel in eine Krankenhausbehandlung, Rehabilitationsmaßnahme, Inhaftierung oder anderen Formen einer stationären Unterbringung die Kontinuität der Behandlung durch die übernehmende Institution sicherzustellen sei. 7 Dies gilt auch für die Rentenversicherung. Dagegen sind Strafgefangene in der gesetzlichen Arbeitslosen- und Unfallversicherung versichert. Vgl. hierzu auch Antwort der Bundesregerung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Neskovic (u.a.) und der Fraktion DIE LINKE, abgedruckt auf BT-Drs. 16/11362 vom 15. Dezember 2008. 9 Der Text der Richtlinie ist eingestellt auf: http://www.g-ba.de/downloads/62-492-538/MVV-RL_2011-07-21.pdf (stand 12. Dezember 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 7 3. Aus- und Fortbildungen von Ärzten im Zusammenhang mit Substitutionen Ärzte können unter der Voraussetzung, dass sie gemäß § 5 Abs. 2, Satz 6 BtMVV eine entsprechende fachliche Fortbildung nachweisen können, Substitutionen vornehmen.10 Im Jahr 2010 waren 77.400 Substitutionspatienten gemeldet (2004: 42.000). Die Zahl der Ärzte, die eine Qualifikation für Substitutionsbehandlungen erworben hatten, lag bei 7008 (2004: 5.516). Hiervon führten im Jahr 2010 2.710 Ärzte entsprechende Behandlungen durch (2004: 2616). Den höchsten Anteil an Substitutionspatienten je 100.000 Einwohner hatte die Stadtstaaten (Hamburg: 285, Bremen: 274 und Berlin: 148), gefolgt von Nordrhein-Westfalen (132) und Schleswig-Holstein (125). Die niedrigsten Anteile hatten die neuen Bundesländer (zwischen 4 und 32). Bayern lag mit 68 Substitutionspatienten je 100.000 Einwohner auf dem 10. Rang. Die meisten Ärzte, die Substitutionsbehandlungen durchführen, praktizieren in Nordrhein-Westfalen (768) und Baden- Württemberg (445), gefolgt von Bayern (303). Die geringste Zahl von Ärzten, die Substitutionen durchführen, wies Brandenburg (12) auf. In Nordrhein-Westfalen ist der Nachweis einer solchen fachlichen Fortbildung eine Voraussetzung für die Einstellung als Anstaltsarzt.11 Die bayerische Landesärztekammer (BLÄK) weißt darauf hin, dass sie seit 1999 Seminare als eine relevante Basis zum Erwerb der Zusatzbezeichnung "Suchtmedizinische Grundversorgung" anbiete. In den vergangenen zwölf Jahren hätten ca. 650 Ärztinnen und Ärzte, unter ihnen auch viele aus den Vollzugsanstalten Bayerns, an diesen Fortbildungen teilgenommen. Weiterhin habe der Vorstand der BLÄK am 14. Mai 2011 einen Arzt, der in einer bayrischen Justizvollzugsanstalt tätig sei, zur Mitwirkung in der Kommission „Qualitätssicherung Substitutions-Beratung“ der BLÄK kooptiert.12 4. Drogenabhängigkeit und Drogensubstitution in Haft – Die Situation in Deutschland Der Anteil intravenös Drogen Konsumierender ist in Haftanstalten zwischen 73- und 99-mal höher als in der Gesamtbevölkerung. Im Zusammenhang mit dieser Art des Drogenkonsums in Haftanstalten steht auch ein wesentlich höherer Anteil an Hepatitis-C (Faktor 20-44) und HIV- Erkrankungen (Faktor 16-24)13 Trotz vielfältiger Sicherheitsvorkehrungen werden Drogen auch in Haftanstalten illegal verbracht . Die besonderen Bedingungen, unter denen innerhalb von Haftanstalten Drogen beschafft werden, führen zu Risikofaktoren, die diejenige außerhalb der Haftsituation verstärken. Hierzu gehören: 10 Entsprechende Fortbildungen bieten die Ärztekammern der Länder an. Eine Musterfortbildung in Form eines so genannten „Musterkursbuches Suchtmedizinische Grundversorgung“ an. 11 Gemäß einer Email der Bundesärztekammer vom 21. Dezember 2011 und einem Schreiben des Justizministeriums NRW vom 21. Dezember 2011 jeweils an den Verfasser. Vergleiche hierzu auch Abschnitt C, Nr. 45 der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Nordrhein). 12 Gemäß einer Email der BLÄK an den Verfasser vom 22. Dezember 2011. 13 Schäfer, Dirk, S. 22. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 8 Eine ungeschützte Beschaffungsprostitution, eine suchtbeeinflusste Beschaffungsmentalität, die die Umsetzung von Resozialisationszielen erschwert, unterschiedliche Vorschriften und Behandlungspraxis in den Bundesländern, Widerstände einzelner Anstaltsärzte gegen eine Substitution in Haft, eine unzureichende Vernetzung, Kooperation und fachlicher Austausch mit externen Ärzten und Drogenberatungsstellen, der Abbruch der außerhalb des Vollzugs durchgeführten Behandlungen bei Inhaftierten, eine inadäquate Entzugsbehandlung eine willkürliche zeitliche Begrenzung der Substitution sowie Substitutionen, die ausschließlich im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Haftentlassung vorgenommen werden.14 Schätzungen zufolge gab es im Jahr 2009 ca. 130.000 bis 150.000 Heroinabhängige in Deutschland , bei denen 69.000 Substitutionsbehandlungen durchgeführt wurden. Für Insassen von Haftanstalten in Nordrhein-Westfalen wurde die Zahl der Heroinabhängigen mit 2.500 bis 3.500 angegeben . Hiervon erhielten nur 139 eine Substitutionsbehandlung.15 Der Leiter des Projekts „Langfristige Substitution Opiatabhängiger: Prädiktoren, Moderatoren und Outcome“ (Premos), Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen, geht davon aus, dass in mehr als zwei Drittel aller Fälle mit einer Inhaftierung eine bereits begonnene Substitution abgebrochen wurde. Allerdings bezögen sich diese Angaben ausschließlich auf zuvor langfristig Substituierte. Die gesamte Zahl sei wesentlich höher einzuschätzen.16 Nach Angaben der Bundesärztekammer (BAEK) liegt die Behandlungsquote von drogenabhängigen Häftlingen, die einer Substitutionsbehandlung unterzogen werden, derzeit bundesweit zwischen 3,5 Prozent und 10 Prozent. Weiterhin geht die BAEK davon aus, dass in Deutschland zwischen 21 Prozent und 30 Prozent aller Inhaftierten opiatabhängig sind.17 Der Anteil der Opiatabhängigen in der Gesamtbevölkerung liegt dagegen bei 0,3 Prozent. Grundsätzlich werden insgesamt in Deutschland unterschiedliche quantitative Niveaus der Substitutionsbehandlungen konstatiert, wobei ein Nord-Süd- und Ost-West-Gefälle festgestellt wird. Weiterhin ist in den Haftanstalten nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Ärzten berechtigt , Substitutionen durchzuführen. Dies wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass diese über keine hierzu erforderliche Ausbildung, wie beispielsweise den Fachkundenachweis „Suchtmedizin“, verfügen. In denjenigen Bundesländern – wie in NRW -, in denen die entspre- 14 Keppler, Karlheinz, Probleme und Praxis der Substitution im Justizvollzug, in: Stöver (2007), S. 24 bis 25 15 Vergleiche hierzu: Husmann, Klaus (2010), S. 11. und Stöver, Heino (2007), S. 25. 17 Angaben gemäß einer Email der BAEK vom 21. Dezember an den Verfasser unter Berufung von Schätzungen von Prof. Stöver. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 9 chenden Rahmenbedingungen geschaffen würden, stiege auch die Anzahl der Substitutionen deutlich an.18 Die zahlenmäßige Relation zwischen Ärzten und Patienten innerhalb und außerhalb von Haftanstalten in Deutschland ist in etwa gleich. Während bundesweit außerhalb von Haftanstalten auf einen Arzt 257 Patienten kamen, waren es innerhalb der Haftanstalten 261.19 Im Hinblick auf eine Anwendung von Substitutionen muss aber berücksichtigt werden, dass, wie beschrieben, der Anteil von Drogenabhängigen in Haftanstalten und damit von Patienten, die für eine Substitutionsbehandlung in Frage kommen, deutlich höher liegt.20 Nach Auskunft des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) melden substituierende Ärzte gemäß § 5a Abs. 2 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) auch Patienten, die im offenen oder geschlossenen Vollzug einer Justizvollzugsanstalt behandelt werden, an das Substitutionsregister. Die rechtlich vorgegebenen statistischen Auswertungen für die Landesbehörden gemäß § 5a Abs. 5 Satz 2, 6 und 7 BtMVV erfolgt ausschließlich gebietsspezifisch nach Gebietskennzahlen. Die statistische Auswertung speziell nach Substitutionsbehandlungen in Haftanstalten sei betäubungsmittelrechtlich nicht vorgesehen und vor dem Hintergrund der aus datenschutzrechtlichen Gründen restriktiv eingeschränkten Verwendungsmöglichkeiten der von den Ärzten gemeldeten Daten gemäß § 5a Abs. 1 BtMVV, EDV-technisch nicht möglich.21 Die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen Und Drogensucht (DBDD)gibt an, dass der haftanstaltsinterne Anteil für die Behandlung von Drogenkonsumenten an allen Behandlungen in den Bundesländern sehr unterschiedlich ausfalle. In den untersuchten Bundesländern22 liege dieser Anteil zwischen einem Prozent (Brandenburg, Sachsen), zehn bis 25 Prozent (Baden- Württemberg, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz, Thüringen), 30 bis 40 Prozent (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen). Der Anteil in Bremen lag bei 70 Prozent. Offenbar existieren zwischen den einzelnen Haftanstalten, aber auch innerhalb der Bundesländer signifikante Unterschiede. So wird für Schleswig-Holstein angegeben, dass der Anteil dort je nach Haftanstalt zwischen fünf und 80 Prozent lag. In Bayern wurde gemäß einer Untersuchung aus dem Jahr 2006 Substitution nicht als Programm oder Therapie, aber in Einzelfragen nach Anordnung durch den Anstaltsarzt in einigen Sonderfällen durchgeführt.23 Hierzu zählten die folgenden Gefangenengruppen: Gefangene mit kurzen Haftstrafen, drogenabhängige Schwangere, Jugendstrafgefangene oder Schwerkranke . 19 Im Land Bremen, dem Saarland, Schleswig-Holstein war diese Relation deutlich schlechter. Die Verteilung in Bayern (1:266) entsprach in etwa der auf Bundesebene. In den neuen Bundesländern und Niedersachsen lag das Verhältnis dagegen leicht über dem Bundesdurchschnitt. 20 DBDD, S. 266. 21 Gemäß Email des BfArM vom 16. Dezember 2011 auf Anfrage. 22 Aus Bayern sowie dem Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, dem Saarland und Sachsen, lagen keine Angaben vor. Neue Angaben sind laut DBDD nicht verfügbar. 23 DBDD, S. 229 und 233 bis 234. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 10 Die Deutsche AIDS-Hilfe vermutet, dass hinter der geringen Anzahl von Substitutionsbehandlungen in Gefängnissen auch die Befürchtung von Gefängnisleitungen stehen könnte, dass von der Anzahl der entsprechenden Behandlungen jeweils auf den Drogenkonsum in der betroffenen Haftanstalt generell geschlossen werden könnte und problematisiert in diesem Zusammenhang, dass die Anstaltsärzte als Mitarbeiter der Verwaltung der Haftanstalten anders als frei praktizierende Ärzte in besondere Loyalitäten eingebunden seien. Weiterhin stelle die geringe ärztliche Personaldecke in Haftanstalten ein Problem dar. So würden beispielsweise jährlich 200 Drogenabhängige in die JVA Moabit in Berlin aufgenommen. Für das Verhältnis von Inhaftierten wird als Beispiel die JVA Stadelheim in Bayern angeführt. Dort versorgen sieben Anstaltsärzte, von denen einer über einen Fachkundenachweis „Suchtmedizin“ verfügt, rund 1200 Haftgefangene.24 In der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung soll ein behandelnder Arzt maximal 50 Substitutionsbehandlungen gleichzeitig durchführen.25 Einige Haftanstalten wie beispielsweise die Justizvollzugsanstalt (JVA) Willich I in Nordrhein-Westfalen haben eigene interne Abteilungen für Drogenaussteiger eingerichtet.26 5. Rechtliche und praktische Erfordernisse zur Intensivierung der Substitution unter Haftbedingungen Von wissenschaftlicher Seite wird darauf hingewiesen, dass es weniger um die Schaffung neuer rechtlicher Instrumente, als um die konsequente Anwendung der Substitution auch in Haftanstalten gehe. Die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen und hier insbesondere die „Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger“ seien eindeutig. Diese Haltung wird auch von der deutschen AIDS-Hilfe und der Bundesärztekammer unterstützt. Obwohl der Strafvollzug Ländersache ist, fordert die Deutsche AIDS-Hilfe vom Bund eine eindeutige inhaltliche positive Positionierung gegenüber der Substitution als Behandlungsmethode auch in Haftanstalten.27 Als Reaktion auf die unterdurchschnittliche Quote von Substitutionsbehandlungen in Haftanstalten erarbeitete das Justizministerium in Nordrhein-Westfalen (NRW) im Jahr 2007 gemeinsam mit den Ärztekammern des Landes NRW „ärztliche Handlungsempfehlungen zur medikamentösen Therapie der Opioidabhängigkeit im Justizvollzug“.28 In der Handlungsempfehlung wird aus- 25 Vergleiche hierzu die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung - MvV- Richtlinie) in der Fassung vom 17. Januar 2006, § 11 Abs. 4, zuletzt geändert am 20. Januar 2011. 26 Das Konzept der Abteilung für Drogenaussteiger der JVA Willich I ist als Anlage 3 beigefügt. Einen aktuellen Gesamtüberblick zu der Frage der Gesundheitsförderung in Haft und hier speziell zu Maßnahmen zur Behandlung von Suchtkranken bietet der aktuelle Drogenbericht der eingestellt auf: http://www.dbdd.de/images/2011_Pressekonferenz/reitox_report_2011_dt.pdf (Stand 23. Dezember 2011). 28 Die Handlungsempfehlung wurde auf Anfrage durch das Justizministerium NRW übermittelt und ist als Anlage 4 beigefügt. Das Ministerium weißt in seinem Anschreiben vom 27. Dezember 2011 darauf hin, dass die Empfehlung Teil einer Verwaltungsvorschrift und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen sei. Herr Prof. Stöver schätzt die Richtlinie auch für andere Bundesländer als Beispiel gebend ein. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 11 drücklich festgestellt, dass es sich bei der Opiadabhängigkeit um eine behandlungsbedürftige Krankheit handele, eine Substitutionsbehandlung im Vollzug den Krankheitsverlauf von Opioidabhängigen positiv beeinflussen könne und diese der Erreichung des Vollzugszieles dienlich sei. Dagegen sei für Drogenabhängige, die für sich im Vollzug nur den Ausweg der subkulturellen Betätigung29 oder des resignativen Abwartens sehen, die Zeit im Hinblick auf die Ziele der Resozialisierung über den Strafvollzug vertan. Das Justizministerium NRW betont, dass Drogenkranken über Substitutionstherapien wirksam und mit einem perspektivischen Behandlungsansatz geholfen werden könne.30 Es wird auch darauf hingewiesen, dass unter Haftbedingungen die Therapiefreiheit der behandelnden Ärzte erhalten bleibe. 29 Gemeint ist unter anderem die illegale Drogenbeschaffung im Justizvollzug beispielsweise auch durch Beschaffungsprostitution . 30 Gemäß Schreiben des Justizministerium NRW vom 27. Dezember 2011 an den Verfasser. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 12 6. Quellen und Literaturhinweise Akzent e.V. (Hrsg.), Vierte Europäische Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft, Wien April 2009, eingestellt auf: http://www.gesundinhaft.eu/wpcontent /uploads/2010/06/Gesundheitsförderung-in-Haft-2009-1.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Akzent, e.V. (Hrsg.), Strategien zur Sicherung und Verbesserung der Substitutionsbehandlung, Berlin 2009. eingestellt auf: http://www.akzept.org/experten_gespraech/pdf/strategien_fuer_web.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Es handelt sich um einen Tagungsbericht zu dem Thema. Akzept e.V. (Hrsg.), Rzepka, Dorothea, Weiterentwicklung der Substitutionsbehandlung , herausgegeben von akzept e.V. Berlin 2008, Folgegutachten 2009, eingestellt auf: http://www.akzept.org/experten_gespraech/pdf/gutachten_endf_200308.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Ausführung des Landesprogramms gegen Sucht in Nordrhein-Westfalen hier: Betreuung drogenabhängiger Gefangener in Justizvollzugsanstalten und Zusammenarbeit mit außervollzuglichen Institutionen Gemeinsamer Runderlass des Ministeriums für Inneres und Justiz (4550 - IV B. 65) und des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit (V A 4 - 0392.3) vom 3. November 1998 - JMBl. NW S. 297 -Deutsche AIDS-Hilfe, Substitution in Haft, Berlin 2009 (3. Aufl.), eingestellt auf: http://www.gesundinhaft.eu/wp-content/uploads/2008/04/Broschüresubstitution -in-haft.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Deutsche AIDS-Hilfe, Pressemitteilung, Inhaftierte Drogenkonsumenten haben ein Recht auf Gesundheit , 9. November 2011, eingestellt auf: http://www.aidshilfe.de/aktuelles/meldungen/pressemitteilung-inhaftierte-drogenkonsumentenhaben -ein-recht-auf-gesundheit (Stand 9. Dezember 2011). Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht - DBDD (Hrsg.), Bericht 2011 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD, Deutschland, Drogensituation 2010 / 2011, o. D., eingestellt auf: http://www.dbdd.de/images/2011_Pressekonferenz/reitox_report_2011_dt.pdf (Stand 27. Dezember 2011), hier insbesondere Teil B: ausgewählte Themen, 11. Drogenbezogene Gesundheitspolitik und Gesundheitsförderung in Haft, S. 219 bis 255. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD), Gemeinsame Presseerklärung, Drogenkonsum in Deutschland unverändert, Kinder aus suchtbelasteten Familien noch besser unterstützen, Berlin 15. November 2011., eingestellt auf: http://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateiendba /Presse/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen_2011/11-11- 15__PM_Jahresberichte_DBDD_EBDD.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Gerlach, R., Stöver, Heino. (Hrsg.), Psycho-soziale Betreuung: Zur Praxis und Bedeutung psychosozialer Unterstützung in der Substitutionsbehandlung. Freiburg 2009. Husmann, Klaus, Substitutionstherapie in der Haft. Ärztliche Behandlungsempfehlungen zur medikamentösen Therapie der Opiodabhängigkeit, Berlin 2010, eingestellt auf: http://www.akzept.org/experten_gespraech/pdf_4_10/husmann.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 13 Der Autor bezieht sich in seinen Ausführungen auf die vollzugliche Betreuung suchtmittelabhängiger Gefangener seit dem Jahr 2007. Justizvollzugsanstalt Willich 1, Konzept der Abteilung für Drogenaussteiger, Willich 2011, eingestellt auf: http://www.jva-willich1.nrw.de/aufgaben/betr_beh/drogen/konzept/index.php (Stand 9. Dezember 2011). Keppler, K. (u.a.), Behandlungsmöglichkeiten von Opiatabhängigkeit. In: Keppler, K. (u.a.), Gefängnismedizin . Medizinische Versorgung unter Haftbedingungen. Stuttgart 2009, S. 193 Michels, I.I. (u.a.), Praxis, Probleme und Perspektiven der Substitutionsbehandlung Opioidabhängiger in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt –Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2009, Ausg. 52, S. 111–121, Berlin 2009. SCHULTE-SCHERLEBECK, CHRISTINA, Substitutionsbehandlungen Opiatabhängiger im Strafvollzug – Einblicke in Problematiken und Konfliktbereiche der praktischen Behandlungsumsetzung am Beispiel der Justizvollzugsanstalten im Bundesland Nordrhein-Westfalen, Münster 2010, eingestellt auf: http://www.indro-online.de/Scherlebeck2010.pdf (Stand 27. Dezember 2011). Sönnecken, Ilka, Substitution im Strafvollzug, Medizinrecht (MedR) 2004, Heft 5, S. 246-248, eingestellt auf: http://www.springerlink.com/content/cfet00rgdb40j85n/ (Stand 12. Dezember 2011). Stöver, Heino (u.a.), Substitution Treatment in European Prisons, London 2004. Stöver, Heino, (Hrsg.), Substitution in Haft, Berlin 2007, erschienen in der Reihe AIDS-Forum DAH, Band 52, eingestellt auf: http://www.aidshilfe.de/sites/default/files/forum_52_substitution.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Stöver, Heino, Was wissen wir über die Substitutionsbehandlung in Haft, wie machen es andere?, Berlin 2010, eingestellt auf: http://www.akzept.org/experten_gespraech/pdf_4_10/stoever.pdf (Stand 9. Dezember 2011). Bei der Quelle handelt es sich um eine Power-Point-Präsentation. Schäfer, Dirk, Stöver, Heino, Drogen, HIV, Aids – ein Handbuch, herausgegeben von der deutschen AIDS-Hilfe, Berlin 2011, 2. üb. Aufl.. Hier insb. Knorr, Bärbel, Gesundheit und Prävention in Haft, S. 207 ff., eingestellt auf: https://www.fhfrankfurt .de/fileadmin/de/Forschung/Institute/ISFF/_broschuere_drogenhandbuch.pdf (Stand 27. Dezember 2011). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000/139-11 Seite 14 Website des Forums zur Gesundheitsförderung in Haft: http://www.gesundinhaft.eu/?cat=1 (Stand 12. Dezember 2011). Dort findet sich unter http://www.gesundinhaft.eu/?page_id=4 (Stand 12. Dezember 2011) auch eine umfangreiche Bibliographie mit entsprechenden Linkhinweisen zu Thema Gesundheit unter Haftbedingungen im Allgemeinen und dem zur Drogensubstitution unter Haftbedingungen im Speziellen.