© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 115/20 Zum Anspruch von Patienten mit blutübertragbaren Infektionskrankheiten auf Aufnahme in Pflegeheime Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 115/20 Seite 2 Zum Anspruch von Patienten mit blutübertragbaren Infektionskrankheiten auf Aufnahme in Pflegeheime Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 115/20 Abschluss der Arbeit: 25. Januar 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 115/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Infektionskrankheiten als Behinderung 4 3. Einschränkungen im Anwendungsbereich des AGG 6 4. Fazit 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 115/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Durch verbesserte Behandlungsmethoden und die damit folgende, höhere Lebenserwartung besteht zunehmend eine Nachfrage nach der Aufnahme in Alten- und Pflegeheimen – auch von Personen, die mit blutübertragbaren Erregern wie etwa HIV oder Hepatitis C infiziert sind. Berichten zufolge herrschen aber insbesondere gegenüber HIV-Infizierten Vorurteile und Befürchtungen , die teilweise zu einer Ablehnung der Aufnahme durch entsprechende Einrichtungen führen .1 So werde etwa angenommen, es bestehe eine hohe Ansteckungsgefahr, wenn nicht eigene Sanitärbereiche zur Verfügung gestellt würden oder wenn nicht besonders strenge Hygiene- und Desinfektionsregeln eingehalten würden, auch wenn dies tatsächlich nicht notwendig ist und die ohnehin üblichen Hygienemaßnahmen auch hier ausreichend sind.2 Im Folgenden soll die rechtliche Situation im Hinblick auf die Aufnahme von Patientinnen und Patienten mit blutübertragbaren Infektionskrankheiten dargelegt werden. Differenziert werden muss hier zwischen Fällen, in welchen das Recht der Sozialversicherung einschlägig ist, in denen also etwa ein Anspruch auf Pflege in vollstationären Einrichtungen nach § 43 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI)3 besteht , und solchen, in denen ohne zugrundeliegenden sozialversicherungsrechtlichen Anspruch und aus privatem Interesse eine Unterbringung in einer derartigen Einrichtung angestrebt wird, etwa in einer solchen, mit der kein Versorgungsvertrag im Sinne von § 72 SGB XI besteht. 2. Infektionskrankheiten als Behinderung Sowohl das Sozialversicherungsrecht als auch das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)4 untersagen die Benachteiligung von Menschen unter anderem aufgrund von Behinderungen. 1 Vgl. etwa Teggatz, Timo, Ein gemeinsames Heim für Menschen mit und ohne HIV, Evangelische Zeitung vom 23. Juli 2015, abrufbar unter: https://www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/ein-gemeinsames -heim-fuer-menschen-mit-und-ohne-hiv; Schock, Axel, Vorurteilsfreie Versorgung im Alter?, magazin.hiv der Deutschen Aidshilfe, 21. Oktober 2013, abrufbar unter: https://magazin.hiv/2013/10/21/vorurteilsfreie-versorgung -im-alter/; Schock, Axel, HIV in der (Alten-)Pflege: Angst und Vorurteil, iwwit.de, 2015, abrufbar unter: https://www.iwwit.de/blog/2015/02/hiv-in-der-altenpflege/. Diese und alle weiteren Links zuletzt abgerufen am 25. Januar 2021. 2 Vgl. etwa Bundesärztekammer (Hrsg.) / Deutsche Aidshilfe (Hrsg.), Informationen zu HIV für die medizinische Praxis, 2020, S. 12 f. abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads /pdf-Ordner/Patienten/Informationen_zu_HIV_fuer_die_medizinische_Praxis_2020_11_24_FINAL.pdf; siehe ebenfalls Robert Koch-Institut, Hygiene bei der Behandlung von Patienten mit blutübertragbaren Erregern (z. B. HIV, HBV oder HCV), abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygiene/Themen AZ/H/Hyg_blutuebertr_Erreger.html. 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung, Art. 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014, 1015), zuletzt geändert durch Art.3 des Gesetzes vom 22. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3299). 4 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 3. April 2013 (BGBl. I S. 610). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 115/20 Seite 5 § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) stellt fest: „Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“ § 2 AGG legt fest, dass Benachteiligungen aus einem in § 1 genannten Grund unzulässig sind, soweit unter anderem der Sozialschutz einschließlich der sozialen Sicherheit und der Gesundheitsdienste (Nr. 5) oder der Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen (Nr. 8), betroffen sind. Für den Bereich der Sozialversicherung findet nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AGG allerdings nicht das AGG Anwendung, sondern das Sozialversicherungsrecht – hier § 33c Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I)5, dessen Satz 1 lautet: „Bei der Inanspruchnahme sozialer Rechte darf niemand aus Gründen der Rasse, wegen der ethnischen Herkunft oder einer Behinderung benachteiligt werden.“ Eine Ablehnung der Aufnahme in ein Senioren- oder Pflegeheim aufgrund einer HIV-Infektion oder einer chronischen Infektion mit Hepatitis C wäre daher im Bereich der Sozialversicherung und damit auch im Hinblick auf Leistungen im Rahmen der Pflegeversicherung nach SGB XI unzulässig , wenn es sich dabei um Behinderungen handelt. Die relevanten Vorschriften, § 1 AGG und § 33c SGB I, wurden mit dem Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung6 geschaffen. Ihnen liegt daher eine übereinstimmende Definition des Begriffs der Behinderung zugrunde. Ausweislich der Gesetzesbegründung7 ist der Behindertenbegriff aus § 2 Abs. 1 S. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)8 heranzuziehen, der in der Rechtsprechung9 als bio-psycho-sozialer Behindertenbegriff bezeichnet wird. Dies entspricht auch der vorherrschenden Auffassung in der Fachliteratur.10 Hiernach sind Menschen mit Behinderungen „Menschen, die körperliche, seelische , geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungsund umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher 5 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil, Art. I des Gesetzes vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 12. Juni 2020 (BGBl. I S. 1248). 6 Gesetz zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897). 7 Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 18. Mai 2006, BR-Drs. 329/06, S. 31. 8 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), zuletzt geändert durch Art. 3 Abs. 6 des Gesetzes vom 9. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2075). 9 So etwa Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2013, Az. 6 AZR 190/12, Rn. 58. 10 Vgl. für viele Däubler/Bertzbach, Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, 2018, AGG, § 1, Rn. 82. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 115/20 Seite 6 Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“ Das Vorliegen einer Behinderung hängt dabei nicht von der Anerkennung als schwerbehinderter Mensch oder von der Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen ab.11 Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in einem Urteil vom 19. Dezember 201312 festgestellt, dass eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung im Sinne von § 1 AGG zur Folge hat, solange das auf eine solche Infektion zurückzuführende soziale Vermeidungsverhalten sowie die darauf beruhenden Stigmatisierungen andauern.13 Die Infektion sei chronisch unheilbar. Sie habe einen Immundefekt zur Folge, der eine Abweichung vom allgemein anerkannten Stand des biomedizinischen Zustands darstelle, der zu einer Beeinträchtigung der Funktion des Körpers im Sinne des Behindertenbegriffs des AGG führe. Auch chronische Erkrankungen seien von diesem erfasst, solange – wie im Falle einer HIV-Infektion – eine Beeinträchtigung der Teilhabe an der Gesellschaft vorliege. Es genüge dabei eine Stigmatisierung in interpersonellen Beziehungen. Hierunter falle auch soziales Vermeidungsverhalten aus Furcht vor einer Infektion, etwa die Verweigerung ärztlicher Behandlung. Im konkreten Fall wurde die angefochtene Kündigung durch den Arbeitgeber aufgrund des Vorliegens einer ansteckenden Krankheit als Argument für das Vorliegen einer Behinderung herangezogen. Die Argumentation des BAG lässt sich auf eine Infektion mit Hepatitis C übertragen. Die hiernach erforderliche Stigmatisierung ist jedenfalls mit der Ablehnung durch die betreffende Einrichtung indiziert. 3. Einschränkungen im Anwendungsbereich des AGG Etwas anderes kann gelten, wenn keine Leistungen nach dem Recht der Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) erbracht werden sollen und das AGG Anwendung findet. Grundsätzlich schließt § 2 AGG eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung in den dort aufgeführten Bereichen aus. Im privatrechtlichen Bereich ist neben § 2 Abs. 1 AGG hinaus allerdings auch § 19 Abs. 1 AGG zu beachten. Hiernach gilt das Verbot der Benachteiligung aus Gründen einer Behinderung im zivilrechtlichen Bereich lediglich bei der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse, die „typischerweise ohne Ansehen der Person zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen (Massengeschäfte) oder bei denen das Ansehen der Person nach der Art des Schuldverhältnisses eine nachrangige Bedeutung hat und die zu vergleichbaren Bedingungen in einer Vielzahl von Fällen zustande kommen“ (Nr. 1). Ein Massengeschäft liegt vor, wenn ein Geschäft regelmäßig wiederkehrend in zahlenmäßig nicht nur unbedeutendem Umfang durchgeführt wird und der Anbieter im Rahmen seiner Kapazitäten grundsätzlich und ohne Weiteres bereit ist, den Vertrag mit jeder zahlungswilligen und zahlungsfähigen Person zu schließen, die mit seinen Bedingungen einverstanden ist.14 Als Beispiel für 11 vgl. Ernst, Hildegund/ Braunroth, Anna/ Wascher, Angelika in: NomosKommentar Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz , 2. Auflage 2013, AGG, § 1, Rn. 7. 12 Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2013, Az. 6 AZR 190/12, Rn. 58. 13 Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 19. Dezember 2013, Az. 6 AZR 190/12, Leitsatz 2 sowie ausführlich Rn. 56 ff. 14 Wendland, Holger, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 56. Edition, November 2020, AGG, § 19, Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 115/20 Seite 7 Schuldverhältnisse mit nachrangiger Bedeutung des Ansehens der Person führt die Kommentarliteratur etwa den Einlass in Diskotheken an.15 Nicht erfasst würden hingegen solche Fälle, in denen der Anbieter seine Entscheidung über den Vertragsschluss erst nach einer individuellen Würdigung seines Vertragspartners trifft.16 Ob ein solcher Fall vorliegt, muss anhand des individuellen Angebots beurteilt werden, einzelne Vertragsarten können nicht pauschal eingeordnet werden.17 Es ist etwa zu berücksichtigen, wie die Betreuung im Einzelnen ausgestaltet werden soll und ob besondere Näheverhältnisse entstehen , so dass das Ansehen der Person im Sinne von § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG nicht nur nachranging Berücksichtigung findet. Soweit eine Benachteiligung hiernach unzulässig ist, dürfte auch die Ausnahme vom Benachteiligungsverbot zur Vermeidung von Gefahren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken vergleichbarer Art (§ 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AGG) in diesem Fall keine Anwendung finden. Nach § 21 Abs. 1 AGG bestünde in diesem Fall ein Anspruch auf Beseitigung der Beeinträchtigung oder nach § 21 Abs. 2 AGG auf finanzielle Entschädigung. 4. Fazit Die Ablehnung der Aufnahme in ein Pflegeheim aufgrund einer chronischen Infektionskrankheit wie HIV oder Hepatitis C dürfte in der weit überwiegenden Zahl der Fälle aufgrund von § 33c Abs. 1 SGB I unzulässig sein. Auch eine Unzulässigkeit im Anwendungsbereich des AGG ist denkbar, wenn im konkreten Einzelfall die Anforderungen des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG vorliegen . In der Praxis dürfte jedoch schwierig zu entscheiden sein, ob eine nach § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG verbotene Benachteiligung vorliegt; dies bedürfte im Einzelfall gerichtlicher Klärung. Hinzu kommt, dass die Gründe für die Ablehnung eines Patienten nicht offengelegt werden müssen. Eine effektive Rechtsdurchsetzung könnte daher bereits an der Nachweisbarkeit der Benachteiligung scheitern. *** 15 Wendland, Holger, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 56. Edition, November 2020, AGG § 19,, Rn. 5, mit weiteren Nachweisen. 16 Wendland, Holger, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 56. Edition, November 2020, AGG § 19, Rn. 5, mit Verweis auf BGH, Urteil vom 25. April 2019, Az I ZR 272/15. 17 Wendland, Holger, in: Beck’scher Online-Kommentar BGB, 56. Edition, November 2020, AGG § 19, Rn. 3.