© 2015 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 115/14 Individualbeschwerdeverfahren nach den Fakultativprotokollen zur UN-Frauenrechts- und UN-Kinderrechtskonvention – bisherige Rechtspraxis zur Umsetzung sozialer Menschenrechte und deren Auswirkungen Martin Ostermann Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 2 Individualbeschwerdeverfahren nach den Fakultativprotokollen zur UN-Frauenrechts- und UN- Kinderrechtskonvention – bisherige Rechtspraxis zur Umsetzung sozialer Menschenrechte und deren Auswirkungen Verfasser/in: Regierungsdirektor Martin Ostermann unter Mitwirkung von Referendarin Antonia Reitter Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 115/14 Abschluss der Arbeit: 23. Dezember 2014 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Telefon: +49 30 227-35747 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Rechtsgrundlagen eines Individualbeschwerdeverfahrens beim Frauenrechts- und Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen 7 2.1. Das Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 7 2.2. Das Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren 9 2.3. Kompetenzen des UN-Frauen- und Kinderrechtsausschusses bei der Prüfung einer Individualbeschwerde 12 3. Die bisherige Entscheidungspraxis des UN-Frauen- und Kinderrechtsausschusses im Überblick 12 3.1. Die Entscheidungspraxis des Frauenrechtsausschusses 12 3.2. Die Entscheidungspraxis des Kinderrechtsausschusses 14 4. Entscheidungen des UN-Frauenrechtsausschusses zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Berufsleben 15 4.1. R. K. B. gegen die Türkei 15 4.1.1. Sachverhalt 15 4.1.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 24. Februar 2012 16 4.1.3. Bedeutung der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses und ihre Auswirkungen auf die Situation in der Türkei 18 4.2. Elisabeth de Blok et al. gegen die Niederlande 18 4.2.1. Sachverhalt 18 4.2.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 17. Februar 2014 20 4.2.3. Auswirkungen der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses auf die Situation in den Niederlanden 21 5. Entscheidungen des UN-Frauenrechtsausschusses zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Gesundheitswesen 21 5.1. Andrea Szijjarto gegen Ungarn 21 5.1.1. Sachverhalt 21 5.1.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 14. August 2006 22 5.1.3. Auswirkungen der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses auf die Situation in Ungarn 24 5.1.3.1. Angaben der ungarischen Regierung in ihrem verbundenen siebten und achten Bericht an den UN-Frauenrechtsausschuss vom 22. September 2011 24 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 4 5.1.3.2. Angaben der ungarischen Regierung in ihrer Antwort auf vom UN- Frauenrechtsausschuss nach Vorlage des siebten und achten Berichts gestellte Nachfragen vom 21. November 2012 25 5.1.3.3. Aussagen der ungarischen Frauenlobby und des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma in ihrem Alternativbericht an den UN-Frauenrechtsausschuss von Januar 2013 25 5.2. Maria de Lourdes da Silva Pimentel gegen Brasilien 26 5.2.1. Sachverhalt 26 5.2.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 25. Juli 2011 28 5.2.3. Auswirkungen und Bedeutung der Entscheidung des UN- Frauenrechtsausschusses 29 5.2.3.1. Angaben der brasilianischen Regierung anlässlich der Sitzungen des UN-Frauenrechtsauschusses am 2. und 7. März 2012 29 5.2.3.2. Würdigung der Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur 30 5.3. T.P.F. gegen Peru 31 5.3.1. Sachverhalt 31 5.3.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 17. Oktober 2011 32 5.3.3. Auswirkungen und Bedeutung der Entscheidung des UN- Frauenrechtsausschusses 34 5.3.3.1. Angaben der peruanischen Regierung in ihrer Antwort auf vom UN-Frauenrechtsausschuss nach Vorlage des siebten und achten Berichts gestellte Nachfragen vom 12. März 2014 34 5.3.3.2. Würdigung der Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur 35 6. Anlagenverzeichnis 35 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 5 1. Einleitung Anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind die menschenrechtlichen Fachausschüsse der Vereinten Nationen und die dort für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen bestehende Möglichkeit, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs gegen einen Vertragsstaat eine Individualbeschwerde einzureichen, in Deutschland eher unbekannt. Dabei kann dieses Verfahren als internationaler Rechtsbehelf eine wichtige Rolle für den Menschenrechtsschutz im Einzelfall spielen und im Hinblick auf die nationale Rechtslage und Praxis über den Einzelfall hinaus entscheidende Wirkung entfalten.1 Auch der EGMR selbst bezieht sich zunehmend auf die Spruchpraxis der UN-Fachausschüsse.2 UN-Fachausschüsse sind die zu jedem Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen eingerichteten Überwachungsorgane (englisch „treaty bodies“), bestehend aus unabhängigen Expertinnen und Experten. Sie haben die Verwirklichung der verschiedenen Abkommen zu kontrollieren und die jeweiligen Bestimmungen durch „General Comments“ („Allgemeine Bemerkungen“) zu konkretisieren.3 Die Überwachungsmechanismen sind je nach Abkommen unterschiedlich ausgestaltet .4 Die Möglichkeit für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen, eine Individualbeschwerde gegen einen Vertragsstaat zu erheben, besteht mittlerweile bei acht UN-Fachausschüssen , zu denen unter anderem auch der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (UN-Frauenrechtsausschuss) und der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtsauschuss ) gehören.5 Beschwerden können dabei nur gegen Vertragsstaaten eingereicht werden, die die Zuständigkeit des jeweiligen Ausschusses für Einzelfallbeschwerden anerkannt haben, in dem sie das jeweilige Abkommen ratifiziert und eine entsprechende Erklärung abgegeben oder ein das Individualbeschwerdeverfahren vorsehendes Zusatzprotokoll (Fakultativprotokoll) ratifiziert haben . Deutschland hat bislang sieben der acht wirksamen UN-Beschwerdemechanismen anerkannt. Das UN-Individualbeschwerdeverfahren ist im Gegensatz zum Verfahren beim EGMR kein Gerichtsverfahren . Die UN-Fachausschüsse sind keine Menschenrechtsgerichtshöfe und können keine rechtlich verbindlichen oder vollstreckbaren Urteile aussprechen. Die politische Wirkkraft 1 Althoff, Das Individualbeschwerdeverfahren zu den UN-Fachausschüssen, in: Anwaltsblatt (AnwBl), 2012, 52 (52). 2 Siehe zum Beispiel EGMR, Opuz gegen die Türkei, Nr. 33401/02 vom 9. Juni 2009. 3 Siehe Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR), Hrsg., Die General Comments zu den VN-Menschenrechtsverträgen , Baden Baden 2005; siehe im Übrigen die jeweiligen Ausschussseiten beim Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR): www.ohchr.org/EN/HRBodies/Pages/HumanRightsBodies.aspx 4 Informationen zu allen Verfahren auf den Institutswebsites: www.institut-fuer-menschenrechte.de oder www.aktivgegen -diskriminierung.de 5 Diese Möglichkeit besteht auch beim Menschenrechtsausschuss (CCPR) zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt, ICCPR), beim Ausschuss zur Anti-Folter-Konvention (CAT), beim Ausschuss zur Anti-Rassismus-Konvention (CERD), beim Ausschuss zur Behindertenrechtskonvention (CRPD) sowie beim UN-Fachausschuss zur Konvention gegen das Verschwindenlassen (CED). Auch für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche , soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt, ICESCR) sieht ein Zusatzprotokoll ein solches Individualbeschwerdeverfahren vor, das international am 5. Mai 2013 in Kraft getreten ist. Von Deutschland wurde dieses Protokoll bisher jedoch noch nicht ratifiziert. Für den Ausschuss für die Rechte aller Wanderarbeitnehmenden und ihrer Familienangehörigen (CMW) ist zwar ebenfalls ein Individualbeschwerdeverfahren vorgesehen; allerdings ist hier der Beschwerdemechanismus bislang mangels Anerkennung durch die Mindestzahl von zehn Vertragsstaaten noch nicht wirksam. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 6 der in den Entscheidungen oder Einschätzungen (englisch „views“) enthaltenen Empfehlungen und Rügen an den jeweiligen Staat ist gleichwohl hoch.6 So werden die Entscheidungen auch in der Regel akzeptiert7 und entfalten über den Einzelfall hinaus Wirkung, indem sie in anderen Verfahren zur Auslegung und Anwendung nationalen Rechts herangezogen werden und gesetzliche, strukturelle sowie soziale Veränderungen bewirken.8 Die Empfehlungen an den Vertragsstaat können auch Schadensersatz für die verletzte Person umfassen. Die Ausschüsse können in dringenden Fällen, in denen sonst irreparable Schäden drohen, zudem vorläufige Maßnahmen empfehlen. Bis zu der eigentlichen Entscheidung kann etwa eine Abschiebung in ein Land, in dem Folter droht, aufgeschoben oder eine Zwangsmedikation ausgesetzt werden.9 Darüber hinaus wird im Rahmen von Follow-Up-Verfahren überprüft, ob der Vertragsstaat die Empfehlungen befolgt hat. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es nicht, die vom UN-Frauenrechtsausschuss bisher behandelten Individualbeschwerden umfassend darzustellen und zu analysieren. Auftragsgemäß werden im Rahmen dieser Ausarbeitung vielmehr nur die Entscheidungen des Frauenrechtsausschusses in den Blick genommen, in denen der Ausschuss eine geschlechterbasierte Diskriminierung von Frauen im Berufsleben und im Gesundheitswesen nach Art. 11 und 12 des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW10) angenommen hat.11 Individualbeschwerdeverfahren, in denen der Ausschuss zu der Feststellung gelangt ist, ein Vertragsstaat habe gegen das Recht von Frauen auf soziale Sicherheit, insbesondere auf Leistungen bei Eintritt in den Ruhestand, bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität und im Alter oder bei sonstiger Arbeitsunfähigkeit nach Art. 11 Abs. 1 lit. e) der Frauenrechtskonvention verstoßen, liegen demgegenüber – soweit ersichtlich – bislang noch nicht vor und scheiden damit – obwohl vom Auftragsthema an sich mit umfasst – als Gegenstand einer weiteren Analyse von vornherein aus. Bevor die danach maßgeblichen Entscheidungen des UN-Frauenrechtsausschusses zur Gleichstellung von Männern und Frauen im Berufsleben12 und im Gesundheitswesen13 im Einzelnen analysiert und auch auf ihre praktischen Auswirkungen hin näher untersucht werden, ist nachfolgend zunächst darzulegen, auf welchen rechtlichen Grundlagen das Individualbeschwerdeverfahren vor 6 Althoff, Das Individualbeschwerdeverfahren zu den UN-Fachausschüssen, in: Anwaltsblatt 1/2012, S. 52 (52). 7 Zur Umsetzung der Empfehlungen siehe Open Society Initiative (Hrsg.), From Judgement to Justice, New York 2010, S. 117 ff; siehe auch K., Hüfner, How to File Complaints on Human Rights Violations, Bonn 2010. 8 Exemplarisch zu den Folgen einer CEDAW Entscheidung siehe R. Logar (2009), UNO-Frauenrechtskonvention CE- DAW als Instrument zur Bekämpfung der Gewalt an Frauen, in: Frauenfragen, Heft 1, S. 22 ff. 9 Zu sofortigen Schutzmaßnahmen im Falle häuslicher Gewalt siehe CEDAW, A. T. gegen Ungarn, Mitteilung Nr. 2/2003 vom 26. Januar 2005; abrufbar unter: http://www.bayefsky.com//pdf/hungary_t5_cedaw_2_2003.pdf 10 Convention on the Elimentation of All Forms of Discrimination Against Woman (CEDAW) vom 18. Dezember 1979 11 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den Gliederungspunkten 4. und 5. 12 Vgl. hierzu die Ausführungen zu dem Gliederungspunkt 4. 13 Vgl. hierzu die Ausführungen zu dem Gliederungspunkt 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 7 diesem Ausschuss beruht14 und wie sich die bisherige Entscheidungspraxis des Frauenrechtsausschusses - insbesondere im Verhältnis zur Spruchpraxis anderer UN-Fachausschüsse - entwickelt hat bzw. wie diese in der wissenschaftlichen Literatur bewertet wird.15 In diesem Zusammenhang wird auch die bisher einzige Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses über eine Deutschland betreffende Individualbeschwerde behandelt, die der Ausschuss allerdings unter anderem deshalb für unzulässig erklärte, weil es die Beschwerdeführerin versäumt habe, die innerstaatlichen Rechtsbehelfe auszuschöpfen.16 Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hatte demgegenüber - soweit ersichtlich - bisher noch über keine Individualbeschwerde eines Kindes unter Berufung auf eine Verletzung seiner Rechte aus der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen zu entschieden. Ein knapper Überblick über den Inhalt, die Entstehungsgeschichte und das Inkrafttreten des dritten Fakultativprotokolls vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren als Rechtsgrundlage eines Individualbeschwerdeverfahrens vor diesem Ausschuss 17 dürfte aber gleichwohl von Interesse sein, da erst vor diesem Hintergrund hinreichend verständlich wird, warum die erste Entscheidung des UN-Kinderrechtsauschusses über eine solche Beschwerde derzeit noch aussteht.18 2. Rechtsgrundlagen eines Individualbeschwerdeverfahrens beim Frauenrechts- und Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen 2.1. Das Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau Das Individualbeschwerdeverfahren beim UN-Frauenrechtsausschuss ist in dem Fakultativprotokoll 19 zum Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) geregelt. Es wurde am 6. Oktober 1999 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und ist am 22. Dezember 2000 völkerrechtlich wirksam geworden . Für die Bundesrepublik Deutschland ist das Zusatzprotokoll am 15. April 2002, drei Monate nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunde beim Generalssekretär der Vereinten Nationen, in Kraft getreten;20 damit ist es seitdem unmittelbar geltendes Recht in Deutschland. Bisher haben 14 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den Gliederungspunkten 2.1. und 2.3. 15 Vgl. hierzu die Ausführungen zu dem Gliederungspunkt 3.1. 16 Vgl. hierzu die Ausführungen zu dem Gliederungspunkt 3.1. 17 Vgl. hierzu die Ausführungen zu den Gliederungspunkten 2.2. und 2.3. 18 Vgl. hierzu die Ausführungen zu dem Gliederungspunkt 3.2. 19 Für den deutschen Text des Fakultativprotokolls siehe das Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 3. Dezember 2001, in: BGBl. II, S. 1237 ff. (beigefügt als Anlage 1). 20 Vgl. die Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Fakultativprotokolls zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 4. März 2002, in: BGBl. II S. 1197. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 8 104 Staaten das Fakultativprotokoll ratifiziert. Es ergänzt das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 197921 um zwei Kontrollverfahren. Durch das Fakultativprotokoll wurde der bei den Vereinten Nationen nach Teil V des Übereinkommens bereits eingerichtete Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau ermächtigt, Mitteilungen von Einzelpersonen oder Personengruppen, die behaupten, Opfer einer Verletzung eines im Übereinkommen niedergelegten Rechts durch einen Vertragsstaat zu sein, entgegenzunehmen (Art. 2 des Fakultativprotokolls) und in einem im Einzelnen in den Artikeln 3 bis 7 des Fakultativprotokolls geregelten Verfahren zu prüfen (sog. Individualbeschwerdeverfahren). Bei zuverlässigen Angaben, die auf schwerwiegende oder systematische Verletzungen der im Übereinkommen niedergelegten Rechte durch einen Vertragsstaat hinweisen, erhielt der Ausschuss zusätzlich die Kompetenz, ein Untersuchungsverfahren durchzuführen (Art. 8 und 9 des Fakultativprotokolls ), wobei die Vertragsstaaten nicht verpflichtet sind, das vorgesehene Untersuchungsverfahren anzuerkennen (Art. 10 des Fakultativprotokolls, „opting-out“-Regelung). Das Fakultativprotokoll enthält keine materiell-rechtlichen Regelungen, sondern sieht ein rein prozedurales Instrumentarium für ein Individualbeschwerde- und Untersuchungsverfahren vor, das zu diesem Zeitpunkt bereits existierenden Verfahrensregelungen anderer Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen nachgebildet wurde. Das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 kann einen bedeutsamen Beitrag zum weltweiten Menschenrechtsschutz von Frauen leisten. Da die Menschenrechte von Frauen inzwischen als unveräußerlicher und integraler Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte anerkannt werden, war es zur Überprüfung ihrer Wahrung geboten, wirksamere Kontrollverfahren zu schaffen.22 Mit dem Fakultativprotokoll erhielten Frauen nicht nur ein dem Standard anderer UN-Menschenrechtsübereinkommen vergleichbares Individualbeschwerdeverfahren, das es ihnen ermöglicht, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs einen eventuellen persönlichen Diskriminierungsfall vom Ausschuss zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau überprüfen zu lassen. Durch das nach dem Fakultativprotokoll ebenfalls vorgesehene Untersuchungsverfahren kann der Ausschuss – wie bereits erwähnt – darüber hinaus bei zuverlässigen Angaben, die auf schwerwiegende oder systematische Verletzungen der im Übereinkommen niedergelegten Rechte hinweisen, auch von sich aus tätig werden und die Vertragsstaaten zur Stellungnahme auffordern. Dieses Untersuchungsverfahren stellt eine wichtige Ergänzung zum Individualbeschwerdeverfahren dar. 21 Für den deutschen Text der Frauenrechtskonvention siehe das Gesetz zu dem Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 25. April 1985, in: BGBl. II, S. 647 ff. (beigefügt als Anlage 2). 22 Vgl. hierzu die Würdigung des Fakultativprotokolls durch die Bundesregierung in BT-Drs. 14/7012, S. 14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 9 2.2. Das Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren Rechtliche Grundlage eines Individualbeschwerdeverfahrens beim UN-Kinderrechtsausschuss ist das dritte Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren .23 Das dritte Fakultativprotokoll wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 19. Dezember 2011 verabschiedet und ist bisher von 45 Staaten unterzeichnet worden. Für die Bundesrepublik Deutschland und neun weitere Staaten ist das dritte Fakultativprotokoll am 14. April 2014, drei Monate nachdem es am 14. Januar 2014 von Costa Rica als zehntem Staat ratifiziert worden ist, in Kraft getreten.24 Das Fakultativprotokoll ergänzt das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 198925 sowie das Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten26 und das Fakultativprotokoll vom 25. Mai 2000 betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornographie27 um mehrere Kontrollmechanismen. Es enthält – ebenso wie das Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau – keine materiell-rechtlichen Regelungen, sondern sieht ein rein prozedurales Instrumentarium für verschiedene Überprüfungsmöglichkeiten der Einhaltung der Verpflichtungen aus dem Übereinkommen und den beiden Fakultativprotokollen vor. Mit dem dritten Fakultativprotokoll erhielt der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes, der mit Art. 43 des Übereinkommens eingerichtet wurde, die Zuständigkeit, Mitteilungen von Einzelpersonen oder Personengruppen entgegenzunehmen, die behaupten, in einem Recht aus dem Übereinkommen oder den beiden Fakultativprotokollen durch einen Vertragsstaat verletzt worden zu sein (Art. 5 des dritten Fakultativprotokolls). Die Geltendmachung der Verletzung eines dieser beiden Fakultativprotokolle setzt voraus, dass der am Verfahren beteiligte Staat das jeweilige Protokoll ratifiziert hat, was für Deutschland bei beiden Protokollen der Fall ist. Neben der vorgenannten Individualbeschwerde sieht das dritte Fakultativprotokoll auch die Möglichkeit eines Untersuchungs- und eines Staatenbeschwerdeverfahrens vor. Im Rahmen des Untersuchungsverfahrens steht dem Ausschuss für die Rechte des Kindes die Befugnis zu, von sich aus aktiv zu werden, wenn er zuverlässige Hinweise auf schwerwiegende oder systematische Verletzungen der Rechte aus dem Übereinkommen oder den beiden Zusatzprotokollen durch einen Vertragsstaat erhält (Art. 13 des dritten Fakultativprotokolls). Allerdings besteht für jeden Vertragsstaat die Möglichkeit, eine Erklärung abzugeben, sich diesem Verfahren nicht zu unterwerfen.28 23 Für den deutschen Text siehe das Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren vom 20. Dezember 2012, in: BGBl. II, S. 1546 ff. (beigefügt als Anlage 3). 24 Vgl. hierzu die Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Fakultativprotokolls vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren vom 26. März 2014, in: BGBl. II, S. 300. 25 BGBl. 1992 II S.121,122. 26 BGBl. 2004 II S. 1354, 1355; 2006 II S. 1015. 27 BGBl. 2008 II S. 1222, 1223; 2011 II S. 1288. 28 Deutschland hat bei der Ratifizierung des Protokolls keine entsprechende Erklärung abgegeben, so dass Untersuchungsverfahren gegen Deutschland möglich sind. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 10 Jeder Vertragsstaat kann zudem bei der Ratifikation und später die Erklärung abgeben, dass er die Zuständigkeit des Ausschusses für die Entgegennahme und Prüfung von sogenannten zwischenstaatlichen Mitteilungen anerkennt. Bei zwischenstaatlichen Mitteilungen macht ein Vertragsstaat geltend, ein anderer Vertragsstaat komme seinen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen oder den beiden Fakultativprotokollen nicht nach (Art. 12 des dritten Fakultativprotokolls). Das dritte Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren orientiert sich damit weitestgehend an den Regelwerken zu bereits bestehenden Beschwerdemechanismen anderer Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen, insbesondere an den Beschwerdemechanismen zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Mit der Einführung von Beschwerdeverfahren zur Kinderrechtskonvention wurde eine Lücke im internationalen Menschenrechtsschutzsystem geschlossen. Sämtliche Kerndokumente des internationalen Menschenrechtsschutzes sahen schon bislang Beschwerdeverfahren vor, in denen Personen die Verletzung ihrer Rechte geltend machen konnten. Auch zum Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) aus dem Jahr 1966 hat die UN-Generalversammlung im Jahr 2008 ein Fakultativprotokoll zu Beschwerdeverfahren verabschiedet. Damit haben die Staaten nach langer Auseinandersetzung anerkannt, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – wie bürgerliche und politische Rechte – einklagbar und durchsetzbar sind.29 Lediglich die Kinderrechtskonvention sah zuletzt allein das Staatenberichtsverfahren nach Art. 44 der Kinderrechtskonvention als Kontroll- und Durchsetzungsmechanismus vor. Zwar hatten die Staaten bereits bei den Verhandlungen zur Kinderrechtskonvention in den achtziger Jahren über die Möglichkeit einer Individualbeschwerde im Rahmen der Kinderrechtskonvention diskutiert. Der Vorschlag zu einem solchen Verfahren konnte sich damals allerdings noch nicht durchsetzen. Ein Grund dafür bestand darin, dass sich die Staaten damals noch nicht darauf verständigen konnten , wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als einklagbar und durchsetzbar anzuerkennen und die Kinderrechtskonvention neben bürgerlichen und politischen Rechten auch wirtschaftliche , soziale und kulturelle Rechte enthält. Ab der Jahrtausendwende wurde der Vorschlag für ein Beschwerdeverfahren wieder vermehrt diskutiert . Nach zunächst informellen Konsultationen auf UN-Ebene setzte der UN-Menschenrechtsrat im Juni 2009 eine Arbeitsgruppe ein, um die Möglichkeit einer Individualbeschwerde zu prüfen .30 Im darauf folgenden Jahr wurde die Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Fakultativprotokolls zur Kinderrechtskonvention beauftragt.31 Dem Engagement etlicher Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) weltweit, unterstützt vom Ausschuss für die Rechte des Kindes, ist die Entwicklung zu verdanken, dass das Fakultativprotokoll schließlich von genügend 29 Aichele, Ein Meilenstein für die Unteilbarkeit: Das neue Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt, Vereinte Nationen 2/2009, S. 72-78. 30 UN Doc. A/HRC/RES/11/1 vom 17. Juni 2009; abrufbar unter: http://ap.ohchr.org/documents/E/HRC/resolutions /A_HRC_RES_11_1.pdf 31 UN Doc. A/HRC/RES/13/3 vom 24. März 2010; abrufbar unter: http://www.bayefsky.com//reform /a_hrc_res_13_3.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 11 Staaten befürwortet wurde.32 Auch deutsche NGOs haben sich für das Protokoll eingesetzt, ebenso die großen Dachorganisationen Forum Menschenrechte und „National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland“.33 Deutschland hat das Protokoll lange Zeit nicht befürwortet und insbesondere bezweifelt, dass es sich bei den Rechten der Kinderrechtskonvention überhaupt um individuelle, einklagbare Rechtspositionen handelt.34 Im Jahr 2009 hat Deutschland dann aber die Initiative im UN-Menschenrechtsrat , eine Arbeitsgruppe einzusetzen, um die Möglichkeit einer Individualbeschwerde zu prüfen , unterstützt. Im Jahr 2011 gehörte Deutschland zu den Initiatoren, welche die Resolution zur Verabschiedung des Fakultativprotokolls im Menschenrechtsrat einbrachten.35 In ihrer Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren hat die Bundesregierung hervorgehoben, das Fakultativprotokoll leiste aus ihrer Sicht einen zentralen Beitrag zur besseren Umsetzung der Rechte des Kindes weltweit und bestätige Kinder in ihrer Eigenschaft als Träger eigener Rechte.36 Die Bedeutung des Fakultativprotokolls erschöpfe sich jedoch nicht in der Einführung der formalen Möglichkeit für Kinder, auf internationaler Ebene ein Beschwerdeverfahren gegen Verletzungen ihrer Rechte führen zu können. Es schließe vielmehr die verbliebene Lücke in der vollständigen Anerkennung der Rechte des Kindes auf internationaler Ebene. Mit dem neuen Durchsetzungsmechanismus würden die Rechte des Kindes auch in Bezug auf ihre Durchsetzung als gleichwertig mit Rechten aus anderen Menschenrechtskonventionen anerkannt. Die im Fakultativprotokoll vorgesehenen Beschwerdemechanismen deckten dabei alle relevanten Konstellationen ab, in denen ein Beschwerdemechanismus notwendig sei. Mit dem Untersuchungsverfahren für schwerwiegende und systematische Verletzungen sei es dem Ausschuss auch möglich, unabhängig von konkreten Einzelfällen und Individualbeschwerden Rechtsverletzungen zu untersuchen .37 Mit der von der Bundesregierung nunmehr angestrebten Ratifikation werde die bisherige aktive Unterstützung des Fakultativprotokolls konsequent fortgesetzt. So habe Deutschland durch die eigene frühe Unterzeichnung und die Werbung für eine frühe Unterzeichnung bei anderen Staaten dazu beigetragen, dass am 28. Februar 2012 bereits insgesamt 20 Staaten das Fakultativprotokoll unterzeichnet hätten.38 32 Cremer, Neue Beschwerdemöglichkeit für Kinder: Das dritte Fakultativprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention, in: Vereinte Nationen 1/2014, S. 22 (23). 33 Eine herausragende Rolle beim Engagement deutscher NGOs für das Protokoll spielte die Kinder-Nothilfe. 34 Siehe dazu Cremer, Hintergrundpapier, Zur Rolle Deutschlands bei der Schaffung eines Individualbeschwerdeverfahrens zur UN-Kinderrechtskonvention, Kindernothilfe (Hrsg.), Duisburg 2009. 35 Siehe zur Rolle Deutschlands während des Verhandlungsprozesses Löhr, Die Individualbeschwerde zur Kinderrechtskonvention , in: MenschenRechtsMagazin, 2/2011, S.115-128. 36 Vgl. BT-Drs. 10/10916, S. 19. 37 Vgl. BT-Drs. 10/10916, S. 19. 38 Vgl. BT-Drs. 17/10916, S. 19. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 12 2.3. Kompetenzen des UN-Frauen- und Kinderrechtsausschusses bei der Prüfung einer Individualbeschwerde Die Kompetenzen des UN-Frauen- und Kinderrechtsausschusses bei der Prüfung einer Mitteilung bzw. Individualbeschwerde nach dem jeweiligen Fakultativprotokoll bestehen darin, seine Auffassungen zusammen mit etwaigen Empfehlungen den betreffenden Parteien zu übermitteln. Zusätzlich können die Ausschüsse den Vertragsstaat auffordern, weitere Angaben über alle Maßnahmen , die er als Reaktion auf die Auffassungen oder etwaige Empfehlungen der Ausschüsse getroffen hat, gegebenenfalls auch in den Staatenberichten gemäß Art. 18 des Frauenrechtsübereinkommens bzw. nach Art. 44 des Kinderrechtsübereinkommens, vorzulegen (Art. 7 Abs. 5 des Fakultativprotokolls zum Frauenrechtsübereinkommen und Art. 11 Abs. 2 des Fakultativprotokolls zum Kinderrechtsübereinkommen). Die Auffassungen und Empfehlungen der Ausschüsse sind für die Regierung des betroffenen Vertragsstaates nicht bindend. Sie muss die ihr zugegangene Meinungsäußerung des Ausschusses nicht notwendig zum Anlass nehmen, Maßnahmen zum Beispiel auf dem Gebiete der Gesetzgebung einzuleiten, wenn sie die Meinung des Ausschusses nicht teilt. Jeder Vertragsstaat ist lediglich verpflichtet, die Auffassung des Ausschusses zusammen mit etwaigen Empfehlungen gebührend in Erwägung zu ziehen und diesem innerhalb von sechs Monaten eine schriftliche Antwort zu unterbreiten, die auch alle unter Berücksichtigung der Auffassungen und Empfehlungen des Ausschusses getroffenen Maßnahmen beinhaltet. Demgegenüber sind die Vertragsstaaten im Verfahren aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nach Art. 46 Abs. 1 der Konvention verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. 3. Die bisherige Entscheidungspraxis des UN-Frauen- und Kinderrechtsausschusses im Überblick 3.1. Die Entscheidungspraxis des Frauenrechtsausschusses Während der Menschenrechtsausschuss zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (CCPR) das Individualbeschwerdeverfahren am längsten durchführt und mit über 2.000 registrierten Mitteilungen mit Abstand die meisten Beschwerdeverfahren zu verzeichnen hat, gefolgt vom Ausschuss zur Anti-Folter-Konvention (CAT) mit über 500 Verfahren, hat der Ausschuss zur Anti-Rassismus-Konvention (CERD) bisher rund 50 und der Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) lediglich 36 Beschwerden behandelt.39 Nach den vom UN- Frauenrechtsausschuss veröffentlichten Abschlussberichten zu diesen 36 Individualbeschwerdeverfahren wurden insgesamt 19 der Beschwerden und damit mehr als die Hälfte der bisher abgeschlossenen Vorgänge vom Ausschuss für unzulässig erklärt. Von den übrigen 17 Beschwerden sah der Frauenrechtsausschuss nur eine als nicht begründet an. Die bisher einzige Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses über eine Deutschland betreffende Individualbeschwerde wurde vom Ausschuss nicht zur Entscheidung angenommen. Beschwerdeführerin dieses Verfahrens gegen Deutschland war eine 57-jährige deutsche Staatsangehörige , die drei Kinder großgezogen hatte und auf Wunsch des Ehemannes auf den Wiedereinstieg in den Beruf verzichtet bzw. diesen immer wieder hinausgeschoben hatte. Im Jahre 1999 reichte 39 Alle Ausschussentscheidungen in Beschwerdeverfahren sind über die englische Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte unter „Treaty Bodies Search“ recherchierbar; http://tbinternet.ohchr.org/_layouts/treatybodyexternal /TBSearch.aspx?Lang=en Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 13 der Ehemann nach 30 Jahren Ehe die Scheidung ein. Im Jahr 2000 wurde die Ehe daraufhin geschieden . Die Frage, in welcher Höhe der Ehemann der Beschwerdeführerin eine Unterhaltsrente schulde, war zum Zeitpunkt der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses am 14. Juli 2004 noch nicht geklärt. In ihrer Beschwerde bzw. Mitteilung vom 20. August 2002, mit ergänzenden Informationen vom 10. April 2003, rügte die Beschwerdeführerin, das deutsche Scheidungsrecht sei geschlechterdiskriminierend, da die unbezahlte Betreuungsarbeit und die daraus folgenden schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die vor allem Frauen treffe, vom Scheidungsrecht nicht hinreichend berücksichtigt werde. Das deutsche Scheidungsrecht verletze sie deshalb in ihren Rechten nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW). In seiner Entscheidung vom 14. Juli 200440 setzte sich der UN-Frauenrechtsausschuss lediglich mit der Frage der formellen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Beschwerde auseinander und erklärte sie schließlich für unzulässig, da die Beschwerdeführerin versäumt habe, gemäß Art. 4 Abs. 1 des Fakultativprotokolls41 die innerstaatlichen Rechtsbehelfe auszuschöpfen und sich der streitige Sachverhalt noch vor dem Inkrafttreten des Fakultativprotokolls für den Vertragsstaat Deutschland am 15. April 2002 ereignet habe ohne nach diesem Zeitpunkt weiterzubestehen, was nach Art. 4 Abs. 2 lit. e) des Fakultativprotokolls ebenfalls zur Unzulässigkeit der Mitteilung führe. In der wissenschaftlichen Literatur wird zum Teil kritisiert, dass der Ausschuss bislang nur eine geringe Anzahl von Beschwerden als zulässig angesehen habe und die dieser Beurteilung zugrunde liegenden Erwägungen deutliche Inkonsistenzen aufwiesen.42 Dadurch werde die Wirkkraft der Frauenrechtskonvention nicht unerheblich in Frage gestellt. In den bisherigen Entscheidungen des Ausschusses nähmen im Übrigen Fälle, in denen die Verletzung der körperlichen oder sexuellen Integrität von Frauen im Mittelpunkt gestanden habe, eine vorherrschende Rolle ein. So seien insbesondere Konventionsverstöße in Fällen häuslicher und/oder sexueller Gewalt durch Private gerügt worden, während Identitäts-, Asyl- und Flüchtlingsfälle häufig nicht zur Entscheidung angenommen worden seien.43 Kritisiert wird darüber hinaus, dass Beschwerdeverfahren auf dem Gebiet der Beschäftigung und der ökonomischen Rechte vielfach als unzulässig abgewiesen oder inkonsistent entschieden worden seien und den Staaten in diesen Bereichen ein derart weiter Ermessensspielraum zur Umsetzung der Empfehlungen des Ausschusses zugestanden werde, dass die 40 CEDAW, B.-J. gegen Deutschland, Mitteilung Nr. 1/2003 vom 14. Juli 2004; abrufbar unter: http://www.bayefsky.com//pdf/germany_t5_cedaw_1_2003.pdf 41 Zum Fakultativprotokoll zum Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vgl. näher oben zu Gliederungspunkt 2.1. 42 Hodson (2014), S. 435 (567), beigefügt als Anlage 4; Jansen (2012), S. 435 (449), beigefügt als Anlage 5. 43 Hodson (2014), S. 435 (567-574). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 14 faktische Durchsetzbarkeit entsprechender Rechte bezweifelt werden müsse.44 Insgesamt bleibe zudem eine Vielzahl von Entscheidungen des Ausschusses mangels rechtlicher Bindungswirkung letztlich folgenlos.45 3.2. Die Entscheidungspraxis des Kinderrechtsausschusses Der Ausschuss zur Kinderrechtskonvention (CRC) hat demgegenüber – wie bereits erwähnt – bislang noch über keine einzige Individualbeschwerde entschieden. Da das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren als Rechtsgrundlage eines Individualbeschwerdeverfahrens beim UN-Kinderrechtsausschuss – wie dargelegt46 – für die Bundesrepublik Deutschland und neun weitere Staaten erst am 14. April 2014 in Kraft getreten ist und eine Individualbeschwerde vor diesem Ausschuss nach dem in Art. 7 lit. e) des Fakultativprotokolls verankerten sog. Grundsatz der Rechtswegerschöpfung in der Regel nur dann zulässig ist, wenn die Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführenden in ihrem Vertragsstaat zuvor erfolglos alle zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe eingelegt und sämtliche Instanzen durchschritten haben,47 ist dieser Befund – bedenkt man, dass mittlerweile erst acht Monate seit Inkrafttreten des Protokolls verstrichen sind – allerdings auch nicht weiter überraschend. Ob und in welchem Umfang Kinder und Jugendliche in Zukunft von der Möglichkeit Gebrauch machen werden, im Wege des Individualbeschwerdeverfahrens die Verletzung ihrer Rechte aus der Kinderrechtskonvention und den beiden Zusatzprotokollen aus dem Jahr 2000 auf internationaler Ebene beim UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes zu rügen, dürfte nicht zuletzt davon abhängig sein, welche Maßnahmen ergriffen werden, um den Zugang von Erwachsenen und Kindern zu dem Fakultativprotokoll sicherzustellen. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Carin Marks hat in ihrer Antwort vom 24. Januar 2014 auf die Schriftliche Frage der Abgeordneten Dr. Franziska Brandner erklärt, die Bundesregierung werde eine kindgerechte Broschüre bereitstellen, damit sich besonders Kinder und Jugendliche über den neuen Beschwerdemechanismus informieren können.48 Die Nutzung des Individualbeschwerdeverfahrens zur Kinderrechtskonvention setzt aber auch voraus, dass sich einzelne NGOs und/oder Anwältinnen und Anwälte in diesem Feld professionalisieren, sofern sie bei einzelnen Verfahren unterstützend tätig werden wollen.49 44 Hodson (2014), S. 435 (571 f.); Jansen (2012), S. 435 (451). 45 Jansen (2012), S. 435 (452). 46 Vgl. hierzu oben zu Gliederungspunkt 2.2. 47 Eine Ausnahme vom Grundsatz der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs gilt nach Art. 7 lit. e) Satz 2 dann, wenn die Anwendung innerstaatlicher Rechtsbehelfe unangemessen lange dauert oder keine wirksame Abhilfe erwarten lässt. 48 Vgl. BT-Drs 18/412 S. 67. 49 Ein spezifisches Fortbildung-und Informationsangebot für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte zu Menschenrechten und Diskriminierungsschutz in nationalen und internationalen Verfahren bietet das Projekt“ Anwaltschaft für Menschenrechte und Vielfalt“, über: www.institut-fuer-menschenrechte.de Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 15 4. Entscheidungen des UN-Frauenrechtsausschusses zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Berufsleben 4.1. R. K. B. gegen die Türkei In dem Individualbeschwerdeverfahren R. K. B. gegen die Türkei50 ging es um eine türkische Staatsangehörige, deren Arbeitsvertrag mit der Begründung gekündigt worden war, sie unterhalte am Arbeitsplatz „sexuell-orientierte Beziehungen zu Personen des anderen Geschlechts“ und die daraufhin eine Schadensersatzklage beim Arbeitsgericht wegen geschlechterbasierter Diskriminierung eingereicht hatte. Der UN-Frauenrechtsausschuss gelangte in seiner Entscheidung vom 24. Februar 201251 zu der Feststellung, die Entscheidungen der mit dieser Klage befassten türkischen Gerichte hätten den zahlreichen und evidenten Hinweisen für eine geschlechterbasierte Diskriminierung am Arbeitsplatz keine Beachtung geschenkt, basierten auf einer stereotypen Wahrnehmung der Rollenverteilung von Mann und Frau und hätten deshalb die Beschwerdeführerin insbesondere in ihren Rechten aus Art. 11 Abs. 1 lit. a) (Recht auf Arbeit als unveräußerliches Recht jedes Menschen) und Art. 11 Abs. 1 lit. d) (Recht auf Gleichbehandlung bei der Arbeit) der Frauenrechtkonvention verletzt. 4.1.1. Sachverhalt Beschwerdeführerin in dem Verfahren R. K. B. gegen die Türkei war eine türkische Staatsangehörige , die in einem Friseursalon arbeitete. Im Februar 2006 wurde ihr Arbeitsvertrag mit der Begründung gekündigt, ein Kunde habe sich über sie beschwert. Nach der Zeugenaussage einer Arbeitskollegin wurde die Beschwerdeführerin bei der Kündigung von ihrem Arbeitgeber dazu gedrängt, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der sie auf alle rechtlichen Ansprüche gegenüber ihrem Arbeitgeber verzichten sollte. Dies sei unter der Androhung des Arbeitgebers geschehen, dass er andernfalls Gerüchte über eine von ihr unterhaltene außereheliche Beziehung in Umlauf setzen würde. Obwohl die Beschwerdeführerin nach eigener Aussage aufgrund dieser Drohung „sehr verängstigt “ war, unterschrieb sie das Dokument gleichwohl nicht.52 Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin eine Klage auf Schadensersatz und Entlassungsabfindung beim Arbeitsgericht ein und machte eine Verletzung von Art. 19 des türkischen „Labour Acts“ geltend, da ihr Arbeitsvertrag ohne sachlichen Grund aufgelöst worden sei. Vor dem Arbeitsgericht rechtfertigte der Arbeitgeber die Entlassung mit der Begründung, die Beschwerdeführerin sei vor der Kündigung bereits mehrere Male wegen ihres Verhaltens verwarnt worden. Insbesondere habe sie „sexuell-orientierte Beziehungen mit Personen des anderen Geschlechts am Arbeitsplatz “ unterhalten. Der Arbeitgeber trug außerdem vor, es sei in dem Tätigkeitsfeld der Beschwerdeführerin besonders wichtig, dass die Angestellten sich in jeder Hinsicht moralisch unangreifbar verhielten und beantragte die Abweisung der Klage. Während des Prozess unterstützten sowohl ihr Ehemann als auch eine ehemalige Arbeitskollegin den von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Sachverhalt. Diese habe mit dem von dem Arbeitgeber benannten Arbeitskollegen zu keinem 50 Mitteilung Nr. 28/2010. 51 CEDAW/C/51/D/28/2010; abrufbar unter http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CEDAW/Jurisprudence/CE- DAW-C-51-D-28-2010_en.pdf 52 CEDAW/C/51/D/28/2010, 2.1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 16 Zeitpunkt eine Beziehung unterhalten. Darüber hinaus gab die Zeugin an, zu den Problemen am Arbeitsplatz sei es erst gekommen, als die Beschwerdeführerin sich geweigert habe, einem anderen Manager des Salons die Schlüssel zu ihrer Wohnung auszuhändigen, weil dieser dort einer außerehelichen Beziehung mit seiner Freundin habe nachgehen wollen. Der Ehemann der Beschwerdeführerin wies darauf hin, dass die meisten männlichen Angestellten des Friseursalons derartige außereheliche Beziehungen unterhielten – zum Missfallen der Beschwerdeführerin, wie diese mehrfach geäußert habe. Am 6. Juni 2007 erweiterte die Beschwerdeführerin ihre Klage und machte eine Verletzung von Art. 5 des türkischen „Labour Acts“ wegen einer geschlechterbasierten Diskriminierung am Arbeitsplatz geltend. Sie trug vor, dass sie während des Prozesses zum ersten Mal davon gehört habe, dass ihr Arbeitsvertrag wegen „sexuell-orientierter Beziehungen am Arbeitsplatz “ aufgelöst worden sei. Angesichts der Tatsache, dass dem Manager, mit dem sie angeblich eine Beziehung führe, nicht gekündigt worden sei, liege in ihrem Fall eindeutig eine geschlechterbasierte Diskriminierung vor.53 Im September 2007 entschied das angerufene Arbeitsgericht, dass die Kündigung des Arbeitsvertrags ohne tragfähigen Grund erfolgt und deshalb rechtswidrig sei. In seinem Urteil folgte das Gericht der Argumentation der Beschwerdeführerin, es sei nicht zulässig, von unmoralischem Verhalten am Arbeitsplatz auszugehen, nur weil die Beschwerdeführerin und ihr Kollege miteinander zu Mittag gegessen, gemeinsam zum Arbeitsplatz gekommen bzw. diesen zusammen verlassen hätten . Im Ergebnis sprach das Gericht der Beschwerdeführerin eine Abfindung zu. Hinreichende Gründe für eine geschlechterbasierte Diskriminierung im Sinne von Art. 5 des türkischen “Labour Acts“ lägen hingegen nicht vor, da es insoweit an den erforderlichen Hinweisen dafür fehle, dass ihre Entlassung nur erfolgt sei, weil sie weiblichen Geschlechts sei. Dass nicht auch der Manager entlassen worden sei, reiche für den Nachweis einer geschlechterbasierten Diskriminierung nicht aus.54 Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin beim Kassationshof Beschwerde gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichtes ein und machte geltend, dass dessen Urteil nicht nur gegen den innerstaatlichen „Labour Act“ und dessen Gleichbehandlungsgrundsatz verstoße, sondern auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau verletze. Das höchste ordentliche Gericht in der Türkei wies die Klage ab, ohne auf die geltend gemachten Verletzungen hinsichtlich einer geschlechtsbasierten Diskriminierung einzugehen. Daraufhin reichte die Beschwerdeführerin eine Individualbeschwerde beim UN-Frauenrechtsausschuss ein, in der sie eine Verletzung von Art. 1, Art. 2 lit. a) und lit. c), Art 5 lit. a) sowie von Art. 11 Abs. 1 lit. a) und lit. d) der Konvention geltend machte.55 4.1.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 24. Februar 2012 In seiner Entscheidung vom 24. Februar 2012 gab der UN-Frauenrechtsausschuss der Beschwerdeführerin in allen Punkten Recht. 53 CEDAW/C/51/D/28/2010, 2.2-2.6. 54 CEDAW/C/51/D/28/2010, 2.7 f. 55 CEDAW/C/51/D/28/2010, 2.10-3.5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 17 Der Ausschuss hielt zunächst fest, dass die Türkei zwar rechtliche Grundlagen für die Gleichbehandlung von Mann und Frau geschaffen, diese im vorliegenden Fall aber nicht angewendet habe. Weil Art. 2 der Frauenrechtskonvention neben der Schaffung von gesetzlichen Grundlagen aber auch deren tatsächliche Anwendung zum Schutz der Frauen vor Diskriminierung erfordere, habe die Türkei vorliegend diese Bestimmung verletzt. Der Ausschuss war der Ansicht, dass das Arbeitsgericht zahlreichen und evidenten Hinweisen für eine geschlechterbasierte Diskriminierung keine Beachtung geschenkt habe. Neben der Tatsache, dass der besagte Manager im Gegensatz zu der Beschwerdeführerin nicht entlassen worden sei, wies der Ausschuss auch auf die nie bestrittene Zeugenaussage hin, wonach die meisten männlichen Angestellten des Friseursalons außereheliche Beziehungen unterhalten hätten. Damit sei offensichtlich, dass für Frauen ein anderer Maßstab gelte als für Männer. Der Kassationshof habe zudem ignoriert, dass die Hauptzeugen aufgrund ihrer Aussagen zu einer außerehelichen sexuellen Beziehung der Beschwerdeführerin wegen Verleumdung strafrechtlich verurteilt worden seien.56 Der Ausschuss hielt außerdem fest, dass die Argumentation sowie die Entscheidungen der beiden türkischen Arbeitsgerichte auf einer stereotypen Wahrnehmung der Rollenverteilung von Mann und Frau basiert und deshalb Art. 5 lit. a) der Konvention verletzt hätten: Während außereheliche sexuelle Beziehungen von Männern gutgeheißen würden, seien diejenigen von Frauen als moralisch verwerflich angesehen worden. Der Ausschuss zeigte sich insbesondere besorgt darüber, dass das Arbeitsgericht zu keinem Zeitpunkt die offensichtlich diskriminierende Art des vom Arbeitsgeber vorgebrachten Kündigungsgrundes angesprochen habe. Anstatt die Argumentation des Arbeitgebers , die Beschwerdeführerin würde „sexuell-orientierte Beziehungen mit Personen des anderen Geschlechts führen“, zurückzuweisen, habe es diese Behauptung in seinem Urteil näher untersucht und lediglich die moralische Integrität der Beschwerdeführerin, nicht jedoch diejenige ihres ehemaligen Arbeitgebers geprüft. Zusätzlich kritisierte der Ausschuss, dass es der Kassationshof gänzlich unterlassen habe, die geschlechtsbezogenen Aspekte des Falles zu untersuchen.57 Darüber hinaus hielt der Ausschuss fest, dass das Verhalten des ehemaligen Arbeitgebers – insbesondere seine Drohung, er werde Gerüchte über eine außereheliche Beziehung in Umlauf setzen, falls die Beschwerdeführerin die rechtliche Verzichtserklärung nicht unterschreibe – als Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot von Frauen und Männern im Berufsleben nach Art. 11 der Frauenrechtskonvention zu bewerten sei. Der Ausschuss vertrat insoweit die Auffassung, dass der Arbeitgeber diese Drohung nur deshalb ausgesprochen habe, weil es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Frau, insbesondere um eine verheiratete Frau, gehandelt habe. Dass die Gerichte sich mit diesem Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot im Berufsleben nicht befasst hätten, stelle eine Verletzung von Art. 11 Abs. 1 lit. a) (Recht auf Arbeit als unveräußerliches Recht jedes Menschen ) und Art. 11 Abs. 1 lit. d) (Recht auf Gleichbehandlung bei der Arbeit) der Konvention durch den türkischen Staat dar.58 Dementsprechend empfahl der Frauenrechtsausschuss dem türkischen Staat, die effektive Umsetzung der Verbote von geschlechterbasierter Diskriminierung aus dem türkischen „Labour Act“ und 56 CEDAW/C/51/D/28/2010, 8.2-8.6. 57 CEDAW/C/51/D/28/2010, 8.7 f. 58 CEDAW/C/51/D/28/2010, 8.9 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 18 der Konvention durch türkische Gerichte und andere Institutionen in der Praxis sicherzustellen. Zudem müssten für Richter, Anwälte und andere der Rechtspflege dienende Berufe Schulungen hinsichtlich der Rechte aus der Frauenrechtskonvention angeboten werden, die gewährleisteten, dass die juristische Entscheidungsfindung nicht durch geschlechterbasierte Vorurteile beeinflusst werde.59 4.1.3. Bedeutung der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses und ihre Auswirkungen auf die Situation in der Türkei Die vorgenannte Entscheidung des Frauenrechtsausschusses vom 24. Februar 2012 macht deutlich, dass es nach der Frauenrechtskonvention nicht als ausreichend anzusehen ist, gesetzliche Grundlagen für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Berufsleben zu schaffen. Vielmehr gehört es darüber hinaus zur Pflicht der Vertragsstaaten, zu gewährleisten, dass die entsprechenden Bestimmungen auch tatsächlich angewendet werden. Außerdem stellt die Entscheidung klar, dass die Konvention die Vertragsstaaten nicht nur dazu verpflichtet, Schritte zu unternehmen, um direkte und indirekte Diskriminierung von Frauen zu verhindern und deren faktische Position in der Gesellschaft zu stärken, sondern auch dazu, bestehende „Geschlechtsstereotypen zu modifizieren, zu transformieren und unrechtmäßige Geschlechtertypisierung zu eliminieren“. Informationen zu den konkreten Auswirkungen der Entscheidung – insbesondere auf die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung in der Türkei – konnten nicht ermittelt werden. 4.2. Elisabeth de Blok et al. gegen die Niederlande In dem Individualbeschwerdeverfahren Elisabeth de Blok et al. gegen die Niederlande60 ging es um die Aufhebung einer gesetzlichen Pflichtversicherung, die Arbeitnehmerinnen in den Niederlanden einen Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub eingeräumt hatte. Mit seiner Entscheidung vom 17. Februar 201461 stellte der UN-Frauenrechtsausschuss fest, dass die Niederlande gegen Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Frauenrechtskonvention verstoßen habe, der die Verpflichtung der Vertragsstaaten enthält, geeignete Maßnahmen zur Einführung eines bezahlten oder mit vergleichbaren sozialen Vorteilen verbundenen Mutterschaftsurlaubs ohne Verlust des bisherigen Arbeitsplatzes zu treffen, um eine Diskriminierung der Frau wegen Mutterschaft zu verhindern und ihr ein wirksames Recht auf Arbeit zu gewährleisten. 4.2.1. Sachverhalt Im Jahr 1998 wurde in den Niederlanden eine gesetzliche Pflichtversicherung für Selbständige zum Schutz vor Berufsunfähigkeit eingeführt, die auch einen Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub gewährte. Das diese Pflichtversicherung begründende Gesetz wurde im August 2004 59 CEDAW/C/51/D/28/2010, 8.10. 60 Mitteilung Nr. 36/2012. 61 CEDAW/C/57/D/36/2012; abrufbar unter: http://docstore.ohchr.org/SelfServices/FilesHandler.ashx?enc=6QkG1d%2fPPRiCAqhKb7yhslEELoUVuU1rtqrRBlad IK1p%2bpBfcNA6ozs81Lzgyj9i70SqcAleajZjMVO2p4jKrg3I7fY3F93oIsKjNtRLj0UffSvvhMBHYAw7nJOa UBN%2fxvD8VcCO6yYbskCQiISFmA%3d%3d Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 19 aufgehoben, da die Regierung der Ansicht war, dass es keine Verpflichtung zur Absicherung von mutterschaftsbedingtem Arbeitsausfall Selbständiger gebe und diesbezüglich auch private Versicherungsverträge abgeschlossen werden könnten. Nach Abschaffung des Gesetzes erhielten selbständig erwerbstätige Frauen im Mutterschaftsurlaub in den Niederlanden zunächst keine öffentlichen Leistungen mehr. Die privaten Versicherungen, die mutterschaftsbedingten Arbeitsausfall abdeckten, griffen nahezu ausschließlich nur dann ein, wenn der errechnete Geburtstermin mindestens zwei Jahre nach dem Abschluss des Versicherungsvertrags lag. Im Jahr 2008 verabschiedete das niederländische Parlament ein Gesetz, das erneut einen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Mutterschaftsurlaub für Selbständige gewährleistete; ausgeschlossen waren jedoch Frauen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 4. Juni 2008 entbunden hatten.62 Bei den Beschwerdeführerinnen handelte es sich um sechs Frauen niederländischer Staatsangehörigkeit , die in der Zeit nach der Aufhebung des die Pflichtversicherung begründenden Gesetzes im August 2004 selbständig erwerbstätig waren und in der Zeit zwischen Juni 2005 und März 2006 entbunden hatten. Da ihr Mutterschaftsurlaub somit in den Zeitraum zwischen Aufhebung des Pflichtversicherungsgesetzes 2004 und Inkrafttreten des neuen Schutzgesetzes 2008 fiel, erhielten sie wegen ihrer aus Entbindung und Mutterschaft folgenden Arbeitsunfähigkeit keine öffentliche Sozialleistungen. Fünf der sechs Beschwerdeführerinnen erhielten als Kompensation für ihren Arbeitsausfall auch keine privaten Versicherungsleistungen. Ein Teil dieser Beschwerdeführerinnen hatte keine private Versicherung abgeschlossen, da sich diese infolge der zweijährigen Sperrfrist nicht als sinnvoll erwies oder weil sie mit wesentlich höheren Beiträgen verbunden gewesen wäre als die ursprüngliche gesetzliche Pflichtversicherung. In einem Fall entsprachen die zu zahlenden Beiträge beinahe dem gesamten Einkommen einer Beschwerdeführerin. Denjenigen Beschwerdeführerinnen , die eine entsprechende private Versicherung abgeschlossen hatten, wurde die Gewährung von Versicherungsleistungen im Hinblick auf die Unterschreitung der zweijährigen Sperrfrist verweigert – lediglich in einem Fall kam es zu einer Leistung, nachdem eine der Beschwerdeführerinnen ihrer Versicherung eine Klage angedroht hatte.63 Klagen gegen die zweijährige Sperrfrist der Versicherungen wegen einer Verletzung des Verbots der Geschlechtsdiskriminierung blieben erfolglos. Der Oberste Gerichtshof der Niederlande war der Ansicht, es sei vom Beurteilungsspielraum der Versicherungen umfasst, entsprechende Regelungen zu treffen. Auch die Klagen der Beschwerdeführerinnen, die in diesen unter anderem eine Verletzung von Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Frauenrechtskonvention rügten, wurden in drei Instanzen, zuletzt vom Obersten Gerichtshof der Niederlande, abgewiesen. Die Gerichte gingen davon aus, dass die Konvention nicht verletzt sei, da die in Frage stehende Regelung keine unmittelbare Wirkung entfalte, lediglich eine Richtlinie darstelle und zu allgemein gefasst sei, um gerichtlich direkt angewandt werden zu können.64 In dem Verfahren vor dem UN-Frauenrechtsausschuss rügten die Beschwerdeführerinnen eine Verletzung von Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Konvention für die Zeit vom 1. August 2004 bis zum 4. Juni 2008, da der niederländische Staat in diesem Zeitraum keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub für Selbständige gewährleistet habe. Es sei mit den nach Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Konvention von 62 CEDAW/C/57/D/36/2012, 2.1-2.10. 63 CEDAW/C/57/D/36/2012, 1, 2.12-2.15. 64 CEDAW/C/57/D/36/2012, 2.9, 2.16-2.18. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 20 den Vertragsstaaten zu treffenden Maßnahmen zur Einführung eines bezahlten oder mit vergleichbaren sozialen Vorteilen verbundenen Mutterschaftsurlaubs nicht vereinbar, einen Teil der Frauen vollständig vom Schutz auszunehmen. Dies sei mit der Aufhebung des Gesetzes im Jahr 2004 jedoch geschehen, da die privaten Versicherungen infolge der hohen Beiträge und der zweijährigen Sperrfrist keine adäquate Alternative zu der gesetzlichen Pflichtversicherung dargestellt hätten. Der niederländische Staat als Beschwerdegegner vertrat in dem Verfahren demgegenüber die Auffassung , eine Verletzung von Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Konvention komme schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Bestimmung lediglich Frauen in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen und keine selbständig erwerbstätigen Frauen schütze. Jedenfalls bestehe kein Erfordernis für eine staatliche Regelung, da Frauen dem Risiko mutterschaftsbedingten Arbeitsausfalls durch Sparen oder durch den Abschluss privater Versicherungen begegnen könnten. Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Konvention entfalte zudem keine unmittelbare Wirkung, da er nicht hinreichend konkret formuliert sei, um von nationalen Gerichten in Einzelfällen angewendet werden zu können. Selbst wenn aus dieser Bestimmung jedoch die innerstaatliche Verpflichtung erwachsen sollte, „geeignete Maßnahmen “ zu treffen, räume diese Formulierung dem nationalen Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum ein, dem in den Niederlanden mit dem adäquaten privaten Versicherungssystem in konventionskonformer Weise Rechnung getragen worden sei.65 4.2.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 17. Februar 2014 Der UN-Frauenrechtsausschuss stellte in seiner Entscheidung vom 17. Februar 2014 zunächst fest, dass Art. 11 der Konvention auch den Schutz selbständig arbeitender Frauen erfasse. Darüber hinaus stellte er klar, dass die von den Vertragsstaaten mit der Unterzeichnung der Konvention eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden müssen. Zwar hänge die direkte Anwendbarkeit der Konvention auf nationaler Ebene davon ab, welcher Status den Verträgen in der nationalen Rechtsordnung zukomme. Das ändere jedoch nichts daran, dass unter der Konvention die Verpflichtung bestehe , den Regelungen Wirkung zukommen zu lassen und deren Anwendung sicherzustellen. Die Niederlande hätten sich mit der Ratifizierung der Konvention und des Zusatzprotokolls dazu verpflichtet , für Abhilfe zu sorgen, soweit die Rechte aus der Konvention verletzt würden.66 Nach dem Außerkrafttreten des Gesetzes zur gesetzlichen Pflichtversicherung im August 2004 seien vom Frauenrechtsausschuss gegenüber den Niederlanden bereits im Jahr 2007 Bedenken hinsichtlich der Aufhebung des bezahlten Mutterschaftsurlaubs für Selbständige geäußert worden.67 Die aus Art. 11 der Konvention erwachsenden Verpflichtungen seien durch die Aufhebung der staatlichen Pflichtversicherung ohne Bereitstellung einer adäquaten Alternative verletzt worden. Die Aufhebung des Gesetzes aus dem Jahr 1998 im August 2004 habe eine Geschlechtsdiskriminierung und eine Verletzung der Verpflichtung aus Art. 11 Abs. 2 lit. b) der Konvention bewirkt, 65 CEDAW/C/57/D/36/2012, 3.1-6.5. 66 CEDAW/C/57/D/36/2012, 8.4-8.6. 67 CEDAW/C/57/D/36/2012, 8.6; siehe zu den 2004 geäußerten Bedenken CEDAW/C/NLD/CO/4, 29; abrufbar unter: http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/cedaw25years/content/english/CONCLUDING_COMMENTS/Netherlands /Netherlands-CO-4.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 21 alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um eine Diskriminierung der Frau wegen Mutterschaft zu verhindern und ihr ein wirksames Recht auf Arbeit zu gewährleisten.68 Vor diesem Hintergrund empfahl der Frauenrechtsausschuss dem niederländischen Staat, den Beschwerdeführerinnen als finanzielle Kompensation für den Verlust der Leistungen im Mutterschaftsurlaub eine angemessene Entschädigung zu leisten. Mit der Neuregelung des Mutterschaftsurlaubs für Selbständige im Juni 2008 bestehe nunmehr zwar wieder ein entsprechender Schutz; es fehle jedoch an einer Regelung zur Entschädigung selbständiger Frauen, die zwischen dem 1. August 2004 und dem 4. Juni 2008 entbunden hätten.69 4.2.3. Auswirkungen der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses auf die Situation in den Niederlanden Informationen über die Auswirkungen der Entscheidung in der Sache de Blok et al. gegen die Niederlande konnten neun Monate nach der Veröffentlichung des Abschlussberichts des UN-Frauenrechtsausschusses nicht ermittelt werden. 5. Entscheidungen des UN-Frauenrechtsausschusses zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Gesundheitswesen 5.1. Andrea Szijjarto gegen Ungarn In dem Individualbeschwerdeverfahren Andrea Szijjarto gegen Ungarn70, in dem es um die Sterilisation einer der ethnischen Minderheit der Roma angehörenden Frau ohne deren Einwilligung ging, stellte der Frauenrechtsausschuss mit seiner Entscheidung vom 14. August 200671 fest, dass Ungarn gegen Art. 10 lit. h) (Aufklärung und Beratung in Bezug auf die Familienplanung), Art. 12 (Gleichstellung von Frauen und Männer im Gesundheitswesen) und Art. 16 Abs. 1 lit. e) (Recht auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl und den Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder) der Frauenrechtskonvention verstoßen habe. 5.1.1. Sachverhalt Die Beschwerdeführerin Andrea Szijjarto, Mutter von drei Kindern und Angehörige der ethnischen Minderheit der Roma, wurde im Januar 2001 unter starken Schmerzen in ein ungarisches Krankenhaus eingeliefert. Während ihrer Behandlung stellte der Arzt fest, dass der Fötus in ihrer Gebärmutter gestorben war. Er riet der Frau, sich sofort einem Kaiserschnitt zu unterziehen, um den toten Fötus zu entfernen. Im Operationssaal des Krankenhauses wurde die Frau gebeten, ein ihr vorgelegtes Formular zu unterzeichnen, mit dem sie ihr Einverständnis zu diesem Eingriff erklären 68 CEDAW/C/57/D/36/2012, 8.9. 69 CEDAW/C/57/D/36/2012, 9. 70 Mitteilung Nr. 4/2004. 71 CEDAW, A/61/38 (2006); abrufbar unter: http://www.bayefsky.com/pdf/hungary_t5_cedaw_4_2004.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 22 sollte. Am Ende dieses Formulars hatte der behandelnde Arzt eine schwer lesbare handgeschriebene Notiz folgenden Inhalts aufgenommen: «Ich habe meine Fehlgeburt zur Kenntnis genommen und da ich nicht beabsichtige, wieder schwanger zu werden, bitte ich Sie nachdrücklich, mich zu sterilisieren», wobei für das Wort «Sterilisation» ein lateinischer Begriff verwendet wurde, den die Beschwerdeführerin nicht verstehen konnte. Ohne die Bedeutung und Tragweite ihrer Erklärung zu übersehen, unterschrieb die Patientin das ihr vorgelegte Dokument. Erst als sie ihren Arzt nach der Operation fragte, ab welchem Zeitpunkt eine erneute Schwangerschaft möglich sei, erfuhr sie von ihrer Sterilisation.72 Im Oktober 2001 erhob die Beschwerdeführerin eine Zivilklage gegen das Vorgehen des Krankenhauses . Das Krankenhaus habe ihre Grundrechte verletzt, da die Sterilisation ohne ihr Einverständnis und ohne ausreichende Informationen durchgeführt worden sei. Ihre Klage wurde sowohl in erster als auch in zweiter Instanz abgewiesen. Das zweitinstanzlich zuständige Landgericht bestätigte zwar, dass es das Krankenhaus pflichtwidrig unterlassen habe, seinen Aufklärungspflichten gegenüber der Beschwerdeführerin nachzukommen und deshalb deren Grundrechte verletzt habe. Das Gericht lehnte es jedoch ab, der Frau eine Entschädigung zuzusprechen, da eine Sterilisation an sich eine reversible Operation sei und die Geschädigte keinen Nachweis darüber habe erbringen können, dass sie aufgrund des Eingriffs einen bleibenden Schaden erlitten habe. Die Beschwerdeführerin – so argumentierte das Landgericht in seiner Urteilsbegründung – könne durch andere Methoden, wie beispielsweise durch eine künstliche Befruchtung, immer noch schwanger werden. Damit stehe ihr auch kein Anspruch auf Entschädigung zu.73 Gegen die Entscheidung des Landgerichts reichte die Beschwerdeführerin, vertreten durch das European Roma Rights Center (ERRC) und das Legal Defence Bureau for National and Ethnic Minorites – zwei Organisationen, die sich insbesondere für die Rechte der Roma-Minderheit einsetzen – Individualbeschwerde beim UN-Frauenrechtsausschuss ein, in der sie dem ungarischen Staat vorwarf , mit der ohne ihr Einverständnis durchgeführten Sterilisation gegen Art. 10 lit. h), Art. 12 und Art. 16 Abs. 1 lit. e) der Frauenrechtskonvention verstoßen zu haben.74 5.1.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 14. August 2006 In seiner Entscheidung vom 14. August 2006 stellte der UN-Frauenrechtsausschuss fest, dass es durch den medizinischen Eingriff und seine Umstände tatsächlich zu einer Verletzung der vorgetragenen Gewährleistungen der Frauenrechtskonvention zu Lasten der Beschwerdeführerin gekommen sei. So habe der ungarische Staat Art. 10 lit. h) der Frauenrechtskonvention verletzt, der eine umfassende Aufklärung und Beratung in Bezug auf die Familienplanung gewährleiste. Das Versagen des 72 CEDAW, A/61/38 (2006), 1.1-2.3. 73 CEDAW, A/61/38 (2006), 2.5-2.8. 74 CEDAW, A/61/38 (2006), 3.1-3.8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 23 Krankenhauspersonals, über die Folgen der Sterilisation und alternative Maßnahmen zur Familienplanung aufzuklären, um die Durchführung eines Eingriffs ohne informiertes Einverständnis zu verhindern, sei dem Staat zuzurechnen.75 Ferner habe der ungarische Staat auch die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 12 der Frauenrechtskonvention verletzt, der unter anderem eine angemessen Betreuung von Frauen während der Schwangerschaft garantiere. Diese Gewährleistung umfasse auch, dass die Betreuung auf der Basis eines aufgeklärten und informierten Einverständnisses der betroffenen Frau erfolge. Eine umfassende Aufklärung über die Sterilisation und deren Risiken und Vorteile sowie über mögliche Alternativen sei im vorliegenden Fall jedoch nicht erfolgt. Das werde bereits dadurch deutlich, dass die Sterilisation schon 17 Minuten nach Aufnahme der Beschwerdeführerin in das Krankenhaus durchgeführt worden sei, was eine entsprechende Aufklärung schon zeitlich unmöglich gemacht habe. Zudem habe die Beschwerdeführerin – was unbestritten geblieben sei – nach dem Eingriff ihren Arzt gefragt, wann sie wieder schwanger werden könne und insoweit ihr fehlendes Bewusstsein hinsichtlich der Konsequenzen des Eingriffs offenbart.76 Durch die Sterilisation sei die Beschwerdeführerin ferner – entgegen der Auffassung des ungarischen Staates – dauerhaft ihrer natürlichen Fähigkeit beraubt worden, wieder schwanger werden zu können. Folglich sei auch ihr Recht aus Art. 16 Abs. 1 lit. e) der Frauenrechtskonvention, frei über die Anzahl ihrer Kinder zu entscheiden, verletzt worden.77 Der Ausschuss forderte Ungarn auf, die Beschwerdeführerin zu entschädigen und dafür zu sorgen, dass die im vorliegenden Fall maßgeblichen Bestimmungen der Konvention und die entsprechenden Vorschriften der Allgemeinen Empfehlung des UN-Frauenrechtsausschusses bezüglich der reproduktiven Gesundheit und der Rechte von Frauen dem Personal in öffentlichen und privaten Gesundheitszentren, Krankenhäusern und Kliniken bekannt sind und von diesem auch tatsächlich eingehalten werden. Darüber hinaus forderte der Ausschuss den ungarischen Staat auf, seine Gesetzgebung in Bezug auf das Prinzip des informierten Einverständnisses in Fällen der Sterilisation zu überprüfen und deren Konformität mit internationalen Menschenrechts- und medizinischen Standards sicherzustellen. Außerdem müsste eine Änderung von innerstaatlichen Bestimmungen in Betracht gezogen werden, die es den Ärzten nach bisheriger Rechtslage erlaubten, in Fällen, in denen es nach den Umständen angemessen erscheine, eine Sterilisation auch ohne eine vorherige Aufklärung durchzuführen. Ferner seien öffentliche und private Gesundheitszentren und Krankenhäuser hinsichtlich der Einholung informierter Einwilligungen von Patientinnen vor einer Sterilisation zu überwachen und angemessene Sanktionen bei einer Verletzung dieser Verpflichtung einzuführen.78 75 CEDAW, A/61/38 (2006), 11.2. 76 CEDAW, A/61/38 (2006), 11.3. 77 CEDAW, A/61/38 (2006), 11.4. 78 CEDAW, A/61/38 (2006). 11.5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 24 5.1.3. Auswirkungen der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses auf die Situation in Ungarn 5.1.3.1. Angaben der ungarischen Regierung in ihrem verbundenen siebten und achten Bericht an den UN-Frauenrechtsausschuss vom 22. September 2011 Nach Angaben der ungarischen Regierung in ihrem verbundenen siebten und achten Bericht an den UN-Frauenrechtsausschuss79 gemäß Art. 18 der Konvention80 vom 22. September 2011 reagierte Ungarn auf die Feststellungen und Empfehlungen des Frauenrechtsausschusses sowohl mit einer Gesetzesänderung als auch mit der Zahlung einer Entschädigung an die Beschwerdeführerin Szijjarto.81 In Zusammenarbeit mit Experten und privaten Verbänden, unter anderem auch dem Europäischen Zentrum für die Rechte der Roma, seien – so wird in diesem Bericht ausgeführt – die die Sterilisation betreffenden rechtlichen Regelungen im Lichte der Empfehlungen des Frauenrechtsausschusses angepasst worden. So sei das Gesetz, das die Leistungen der Gesundheitsfürsorge regle („Act CLIV of 1997 on Health“), dahingehend abgeändert worden, dass nunmehr bei jeder Sterilisation eine umfassende Aufklärung durchgeführt werden müsse. Nach der aktuellen Regelung dürften Sterilisationen zudem nur nach einer obligatorischen Wartezeit vorgenommen werden. Diese Wartezeit müsse sowohl zwischen dem Ersuchen um eine Sterilisation und einer erneuten Bestätigung des Wunsches, als auch zwischen der Bestätigung des Wunsches und dem operativen Eingriff selbst eingehalten werden und betrage für unter 26-Jährige jeweils sechs Monate und für über 26-Jährige jeweils drei Monate. Diese Fristen müssten nach der gesetzlichen Regelung auch dann beachtet werden, wenn die Sterilisation aus gesundheitlichen Gründen erfolgen solle.82 Auf der Grundlage einer entsprechenden Entschließung der ungarischen Regierung vom 18. März 2009 wurde der Beschwerdeführerin Szijjarto in Umsetzung der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 14. August 2006 am 11. Juni 2009 zudem ein Betrag in Höhe von 5,4 Mio. ungarischen Forint (etwa 17.500 Euro) als Entschädigung ausgezahlt.83 79 CEDAW/C/HUN/7-8. 80 Nach Art. 18 Abs. 1 der Frauenrechtskonvention sind die Vertragsstaaten verpflichtet, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zur Beratung durch den Frauenrechtsausschuss mindestens alle vier Jahre und so oft es der Ausschuss verlangt, einen Bericht über die zur Durchführung des Übereinkommens getroffenen Gesetzgebungs-, Gerichts -, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen und die diesbezüglichen Fortschritte vorzulegen. 81 CEDAW/C/HUN/7-8, Nr. 73-78. 82 CEDAW/C/HUN/7-8, Nr. 75. 83 CEDAW/C/HUN/7-8, Nr.77 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 25 5.1.3.2. Angaben der ungarischen Regierung in ihrer Antwort auf vom UN-Frauenrechtsausschuss nach Vorlage des siebten und achten Berichts gestellte Nachfragen vom 21. November 2012 In ihrer Antwort vom 21. November 2012 auf die vom UN-Frauenrechtsausschuss nach Vorlage des verbundenen siebten und achten Berichts gestellten Nachfragen84 gab die ungarische Regierung an, die gesetzlichen Regelungen sähen vor, dass medizinisch indizierte Sterilisationen nur nach detaillierter Aufklärung und schriftlicher Zustimmung der betroffenen Frau durchgeführt werden dürften. Die derzeitigen Bestimmungen sähen keine Regelung für eine notfallmäßig erforderlich werdende Sterilisation vor. Insoweit gewährleiste das Gesetz, dass dem grundlegenden Recht der Patientinnen auf Aufklärung in jedem Falle Rechnung getragen werde.85 Die Einholung informierter Einwilligungen vor einer Sterilisation werde durch das „Institute for Quality- and Organisational Development in Healthcare and Medicines“ kontrolliert. In diesem Zusammenhang finde eine Registrierung der vorgenommenen Eingriffe in einer für staatliche Gesundheitsleistungen eingerichteten Datenbank statt. Zur Kontrolle und Erfassung auch der privatärztlich durchgeführten Sterilisationen sei geplant, einen beide Sektoren behandelnden Bericht zu erstellen. Seit 2010 habe eine für die Patientinnen zuständige Beschwerdestelle zudem keine Beschwerden mehr im Zusammenhang mit Sterilisationen erhalten.86 Ferner stehe für die betroffenen Patientinnen nunmehr ein Aufklärungs- und Einwilligungsvordruck zur Verfügung, der unter Mitwirkung insbesondere der ungarischen Ärztekammer und der ungarischen Krankenhausvereinigung entwickelt worden sei.87 5.1.3.3. Aussagen der ungarischen Frauenlobby und des Europäischen Zentrums für die Rechte der Roma in ihrem Alternativbericht an den UN-Frauenrechtsausschuss von Januar 2013 Im Januar 2013 legten die ungarische Frauenlobby und das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma einen Alternativbericht zu dem siebten und achten Bericht der ungarischen Regierung an den UN-Frauenrechtsausschuss vor, in dem sie die fehlende Umsetzung der Konvention und der Empfehlungen des Frauenrechtsausschusses durch die ungarische Regierung beklagten.88 Auch sechs Jahre nach der Entscheidung des Frauenrechtsausschuss vom 14. August 2006 seien dessen Empfehlungen noch nicht vollständig umgesetzt worden. Die die Sterilisation betreffenden gesetzlichen Regelungen würden in Ungarn auch weiterhin nicht den internationalen Standards entspre- 84 CEDAW/C/HUN/Q/7-8/Add.1. 85 CEDAW/C/HUN/Q/7-8/Add.1, Nr. 127 f. 86 CEDAW/C/HUN/Q/7-8/Add.1, Nr. 129. 87 CEDAW/C/HUN/Q/7-8/Add.1, Nr. 130. 88 Alternative Report submitted to the UN CEDAW Committee for consideration in relation to the examination of the combined seventh and eighth periodic reports of Hungary – January 2013 – by the Hungarian Women’s Lobby and the European Roma Rights Centre, abrufbar unter: http://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared%20Documents /HUN/INT_CEDAW_NGO_HUN_13260_E.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 26 chen. Kritisiert wird in dem alternativen Bericht insbesondere die konkrete Ausgestaltung der Aufklärung , da nach der derzeit bestehenden Rechtslage nicht hinreichend sichergestellt sei, dass auch über die dauerhaften Konsequenzen einer Sterilisation umfassend aufgeklärt werden müsse. Außerdem fehle es an Regelungen zu medizinisch nicht indizierten Sterilisationen.89 Zudem reagierten auch die Gerichte weiterhin nicht angemessen auf Zwangssterilisationen: So habe ein Gericht erster Instanz in einem Fall, in dem eine Frau in einem staatlichen Krankenhaus im Jahr 2008 ohne hinreichende Aufklärung und Beratung zwangssterilisiert worden sei, eine Verletzung ihres Rechts auf informierte Einwilligung verneint.90 5.2. Maria de Lourdes da Silva Pimentel gegen Brasilien In dem Individualbeschwerdeverfahren Maria de Lourdes da Silva Pimentel gegen Brasilien91 ging es um eine im sechsten Monat schwangere Frau afrikanischer Abstammung, die an den durch eine Totgeburt hervorgerufenen Blutungen verstorben war, nachdem sie zuvor über einen Zeitraum von acht Stunden auf den Abtransport in ein Krankenhaus hatte warten müssen und der dort diensthabende Arzt nur unzureichend über die zuvor in einem Gesundheitszentrum durchgeführten Maßnahmen und die medizinische Vorgeschichte der Patientin informiert worden war. In seiner Entscheidung vom 25. Juli 201192 gelangte der UN-Frauenrechtsausschuss zu der Feststellung, der brasilianische Staat habe wegen der unzureichenden medizinischen Versorgung der Patientin insbesondere gegen Art. 12 Abs. 2 der Konvention verstoßen, der die Vertragsstaaten verpflichte, für eine angemessene und erforderlichenfalls unentgeltliche Betreuung der Frau während der Schwangerschaft sowie während und nach der Entbindung zu sorgen. Der Ausschuss stellte außerdem fest, dass die Patientin als Frau afrikanischer Abstammung und aufgrund ihres sozio-ökonomischen Hintergrundes sowohl in dem Gesundheitszentrum als auch im Krankenhaus mehrfachen Diskriminierungen ausgesetzt gewesen sei und Brasilien dadurch deren Rechte nach Art. 2 lit. c) und e) der Konvention verletzt habe. 5.2.1. Sachverhalt In dem Verfahren Maria de Lourdes da Silva Pimentel gegen Brasilien klagte die Beschwerdeführerin als Mutter der verstorbenen Alyne da Silva Pimentel Teixeira. Alyne war brasilianische Staatsangehörige afrikanischer Abstammung, verheiratet und hatte eine Tochter. Am 11. November 2002 suchte Alyne ein Gesundheitszentrum auf, da sie unter Schmerzen im Unterleib und starker Übelkeit litt. Zu diesem Zeitpunkt war sie im sechsten Monat schwanger. Der sie behandelnde Gynäkologe verschrieb ihr Medikamente gegen die Übelkeit, Vitamin B12 sowie Präparate zur lokalen Behandlung einer Vaginalinfektion und schickte sie anschließend nach Hause. In der Folgezeit verschlechterte sich Alynes gesundheitliche Verfassung. Als sie zwei Tage später erneut das Gesundheitszentrum aufsuchte, wurde sie stationär aufgenommen. Der sie behandelnde Arzt 89 Alternative Report by the Hungarian Women’s Lobby and the European Roma Rights Centre, Art. 12 Abs. 7. 90 Alternative Report by the Hungarian Women’s Lobby and the European Roma Rights Centre, Art. 12 Abs. 8. 91 Mitteilung Nr. 17/2008. 92 CEDAW/C/49/D/17/2008; abrufbar unter: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CEDAW/Jurisprudence/CE- DAW-C-49-D-17-2008_en.pdf Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 27 konnte bei einer darauf folgenden Untersuchung den Herzschlag des Kindes nicht mehr hören, woraufhin er am Nachmittag die Geburt des toten Fötus einleitete. Am folgenden Tag entfernten die Ärzte sodann operativ Teile der Plazenta und die Nachgeburt.93 Da sich Alynes gesundheitlicher Zustand gleichwohl weiter verschlechterte, setzte sich das Gesundheitszentrum mit einigen privaten und öffentlichen Krankenhäusern in Verbindung, die über bessere medizinische Einrichtungen verfügten, um die Patientin an eines dieser Krankenhäuser zu überweisen. Nur eines dieser Krankenhäuser verfügte zu diesem Zeitpunkt über freie Kapazitäten, war aber zunächst nicht bereit, den einzigen vorhandenen Krankenwagen für den Transport der Patientin bereitzustellen. Da es der Mutter und Alynes Ehemann trotz intensiver Bemühungen nicht gelang, einen privaten Rettungswagen zu organisieren, war Alyne in ihrem akut gesundheitsbedrohlichen Zustand gezwungen, über einen Zeitraum von acht Stunden auf den Abtransport in das zur Weiterbehandlung vorgesehene Krankenhaus zu warten, wobei sie in den letzten beiden Stunden klinische Symptome eines Komas entwickelte.94 Als Alyne um 21.45 Uhr schließlich in dem Krankenhaus eintraf, zeigte sie Symptome einer disseminierten intravaskulären Blutgerinnung und musste, da ihr Blutdruck inzwischen auf den Nullpunkt abgefallen war, wiederbelebt werden. Weil in dem Krankenhaus inzwischen jedoch kein Bett mehr frei war, wurde Alyne notdürftig im Eingangsbereich der Notaufnahme untergebracht. Alynes Krankenakte wurde nicht aus dem Gesundheitszentrum mitgebracht, so dass der diensthabende Arzt des Krankenhauses nur mündlich über die bisher dort vorgenommenen Maßnahmen und Eingriffe sowie die medizinische Vorgeschichte der Patientin informiert werden konnte. Am darauf folgenden Tag starb Alyne. Die Obduktion ihres Leichnams ergab, dass Alyne an den durch die Totgeburt hervorgerufenen Blutungen im Verdauungstrakt gestorben war. Am Tag nach Alynes Tod suchte ihre Mutter das Gesundheitszentrum auf, das ihre Tochter zunächst behandelt hatte, wo ihr mitgeteilt wurde, der Fötus sei bereits seit Tagen tot gewesen, was den Tod Alynes verursacht habe.95 Am 11. Februar 2003 erhob Alynes Ehemann in seinem und im Namen seiner Tochter eine Schadensersatzklage , über die auch viereinhalb Jahre später noch nicht entschieden worden war. Alynes Mutter reichte daraufhin Individualbeschwerde beim UN-Frauenrechtsausschuss ein, in der sie geltend machte, der brasilianische Staat habe die Rechte ihrer Tochter auf Leben und Gesundheit verletzt, indem er keine angemessene Versorgung während Schwangerschaft und Entbindung sichergestellt und damit deren Rechte aus Art. 2 und Art. 12 der Konvention verletzt habe. Diesen Gewährleistungen komme gegenüber dem brasilianischen Staat unmittelbare Wirkung zu. Insbesondere verpflichte die Konvention die Staaten nicht nur dazu, gesetzliche Regelungen zu erlassen, mit denen eine geschlechterbasierte Diskriminierung bekämpft werde, sondern auch deren praktische Umsetzung und Einhaltung sicherzustellen. Diese Verpflichtung sei vorliegend jedoch verletzt worden, da es der brasilianische Staat versäumt habe, Zugang zu einer adäquaten gynäkologischen Notfallversorgung zu gewährleisten, was entscheidend zu Alynes Tod beigetragen habe.96 93 CEDAW/C/49/D/17/2008, 1-2.6. 94 CEDAW/C/49/D/17/2008, 2.6-2.8. 95 CEDAW/C/49/D/17/2008, 2.9-2.13. 96 CEDAW/C/49/D/17/2008, 2.14.-3.14. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 28 5.2.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 25. Juli 2011 In seiner Entscheidung vom 25. Juli 2011 stellte der UN-Frauenrechtsauschuss fest, dass der Vorwurf der Beschwerdeführerin, ihre Tochter sei medizinisch unzureichend betreut worden und sie habe keine angemessene Versorgung im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft erhalten, berechtigt sei. Dies ergebe sich insbesondere daraus, dass es bereits bei Alynes erstem Arztbesuch im Gesundheitszentrum versäumt worden sei, eine Blut- und Urinuntersuchung durchzuführen, die Entfernung der Nachgeburt erst 14 Stunden nach der Totgeburt stattgefunden habe und der Eingriff in einer medizinischen Einrichtung durchgeführt worden sei, die dafür nicht angemessen ausgerüstet gewesen sei. Außerdem sei es nicht angemessen gewesen, die Patientin über einen Zeitraum von acht Stunden auf den Abtransport in das zur Weiterbehandlung vorgesehene Krankenhaus warten zu lassen, ihre Krankenakte nicht mit zu übergeben und sie später 21 Stunden unbeaufsichtigt im Flur der Notaufnahme liegen zu lassen, wo sie schließlich verstorben sei. Da der Staat zur Regulierung und Überwachung privater Gesundheitsdienstleister verpflichtet sei und deshalb auch die Verantwortung für entsprechende Versäumnisse im privaten Sektor trage, habe er seine Verpflichtung aus Art. 12 Abs. 2 der Konvention zur Sicherstellung einer angemessenen Versorgung bei Schwangerschaft und Geburt verletzt.97 Die Lücken im Versorgungssystem von Schwangeren und Müttern in Brasilien stellten zudem eine Diskriminierung von Frauen nach Art. 2 und Art. 12 Abs. 1 der Konvention dar, der die Vertragsstaaten verpflichte, alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau im Gesundheitswesen zu treffen, um der Frau gleichberechtigt mit dem Mann Zugang zu den Gesundheitsdiensten , einschließlich derjenigen im Zusammenhang mit der Familienplanung, zu gewährleisten . Der Ausschuss hielt ferner fest, dass Alyne nicht nur auf Grund ihres Geschlechts, sondern auch auf Grund ihrer afrikanischen Herkunft und ihres sozioökonomischen Hintergrundes diskriminiert worden sei. Außerdem sei der brasilianische Staat in dem von Alynes Ehemann angestrengten Verfahren seiner Verpflichtung, effektiven Rechtschutz zu gewährleisten, nicht nachgekommen .98 Der Ausschuss empfahl dem brasilianischen Staat, Alynes Mutter und Tochter angemessen zu entschädigen . Zudem sei von staatlicher Seite das Recht auf sichere Mutterschaft und der Zugang zu adäquater gynäkologischer Notfallversorgung sicherzustellen. Dementsprechend sei es erforderlich , professionelle Schulungen von Gesundheitsdienstleistern durchzuführen und einen effektiver Rechtschutz zu gewährleisten, soweit reproduktive Gesundheitsrechte von Frauen verletzt würden. Es müsse ferner sichergestellt werden, dass private Gesundheitsdienstleister in Übereinstimmung mit nationalen und internationalen Standards arbeiteten und angemessene Sanktionen im Falle der Verletzung reproduktiver Gesundheitsrechte von Frauen zur Verfügung stünden. Insbesondere bedürfe es einer Senkung der Zahl vermeidbarer Todesfälle im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Entbindung.99 97 CEDAW/C/49/D/17/2008, 7.2-7.5. 98 CEDAW/C/49/D/17/2008, 7.6-7.8. 99 CEDAW/C/49/D/17/2008, 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 29 5.2.3. Auswirkungen und Bedeutung der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses 5.2.3.1. Angaben der brasilianischen Regierung anlässlich der Sitzungen des UN-Frauenrechtsauschusses am 2. und 7. März 2012 Die brasilianische Regierungsvertreterin Menicucci de Oliveira bekundete im Rahmen der 1026. Sitzung des UN-Frauenrechtsausschuss am 2. März 2012100 die Bereitschaft der brasilianischen Regierung, Konsequenzen aus der Alyne-Entscheidung zu ziehen. Auch der Gouverneur von Rio de Janeiro habe sich persönlich dazu bereiterklärt, die Umsetzung dieser Entscheidung sicherstellen .101 Ergänzend wies sie darauf hin, dass aufgrund von Kabinettsverfügungen der brasilianischen Regierung aus den Jahren 2003 und 2008 schon jetzt strengere Anforderungen an die Überwachung der Müttersterblichkeit gestellt würden und ein Programm des Gesundheitsministeriums – das sog. „Storchen-Netzwerk“ („Rede Cegonha“)102 – eingeführt worden sei, um eine sichere und humane medizinische Behandlung während der Schwangerschaft und Geburt zu gewährleisten. Dieses Programm verfolge darüber hinaus auch das Ziel, die Zahl unnötiger Kaiserschnittgeburten zu verringern , die Schulung der Hebammen zu verbessern und einen breiteren Zugang zur Schmerzmedikation zu fördern.103 Die Vertreterin der brasilianischen Regierung wies außerdem darauf hin, dass auf kommunaler und staatlicher Ebene Ausschüsse gebildet worden seien, die die Aufgabe hätten, Einrichtungen, in denen es im Zusammenhang mit Schwangerschaften und Geburten zu Todesfällen gekommen sei, aufzusuchen, um dort deren Ursachen aufzuklären. Ferner habe das Gesundheitsministerium mit dem „Sekretariat für die Förderung ethnischer Gleichbehandlung“ eine Vereinbarung zur Verringerung der Müttersterblichkeit in Brasilien unterzeichnet.104 Da zum Zeitpunkt der Sitzung des UN-Frauenrechtsausschusses am 2. März 2012 über die von dem Ehemann der verstorbenen Alyne da Silva Pimentel Teixeira eingereichte Schadensersatzklage noch nicht entschieden worden war, sah sich der Frauenrechtsausschuss veranlasst, die aus seiner Sicht zu lange Dauer des Gerichtsverfahrens zu rügen. Dies mache deutlich, wie problematisch es in solchen Fällen sei, berechtigte Ansprüche auf gerichtlichem Wege durchzusetzen. Von entscheidender Bedeutung sei - worauf der Ausschuss bereits in seiner Entscheidung vom 25. Juli 2011 hingewiesen habe - im Übrigen, dass sowohl die Justiz als auch die Anbieter von Gesundheitsleistungen in Brasilien Schulungen hinsichtlich der Rechte von Frauen – insbesondere nach der UN-Frauenrechtskonvention – erhielten.105 Als positiv würdigte der UN-Frauenrechtsausschuss in seiner Sitzung vom 2. März 2012 den vor dem Hintergrund der Alyne-Entscheidung zum 100 CEDAW/C/SR.1026. 101 CEDAW/C/SR.1026, Nr. 12. 102 Das Netzwerk wurde im Jahr 2011 eingeführt, vgl. CEDAW/C/BRA/CO/7, 28; abrufbar unter: http://www2.ohchr .org/english/bodies/cedaw/docs/co/CEDAW-C-BRA-CO-7.pdf 103 CEDAW/C/SR.1026, Nr. 9. 104 CEDAW/C/SR.1026, Nr. 26. 105 CEDAW/C/SR.1026, Nr.21. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 30 damaligen Zeitpunkt geplanten symbolischen Akt, einen Flügel des Krankenhauses nach der verstorbenen Alyne da Silva Pimentel Teixeira zu benennen.106 In der darauffolgenden Sitzung des UN-Frauenrechtsausschusses am 7. März 2012107 wies die brasilianischen Regierung darauf hin, dass seit dem Amtsantritt der neuen Präsidentin im Jahr 2011 schwerpunktmäßig nun vor allem die Ausbildung von Hebammen und der Aufbau lokaler Versorgungszentren für Mütter in ländlichen Gebieten gefördert werde, um dem Problem der ansteigenden Müttersterblichkeit in diesen Gebieten zu begegnen.108 5.2.3.2. Würdigung der Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur In einem im Jahr 2013 unter dem Titel „Human Rights and Maternal Health: Exploring the Effectiveness of the Alyne Decision” erschienenen Aufsatz wird von der Autorin Rebecca Cook109 die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der Alyne-Entscheidung hervorgehoben. Diese liege vor allem darin, dass die brasilianische Regierung für allgemeine, institutionell bedingte Missstände im dortigen Gesundheitswesen zur Verantwortung gezogen worden sei, die zu dem vermeidbaren Tod von Alyne da Silva Pimentel Teixeira geführt hätten.110 Die Empfehlungen des Frauenrechtsausschusses enthielten deshalb konsequenterweise nicht nur den Hinweis, Brasilien solle zugunsten der Hinterbliebenen individuelle Entschädigungsleistungen erbringen, sondern auch die klare Aufforderung, allgemeine Maßnahmen zur Verringerung der Müttersterblichkeit in Brasilien zu ergreifen.111 Dies führe jedoch dazu, dass eine Untersuchung zu den praktischen Auswirkungen der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses nicht unproblematisch sei, da die Umsetzung genereller Empfehlungen, wie etwa die, ein „Recht auf sichere Mutterschaft zu gewährleisten “, nicht immer konkret fassbar sei.112 Trotz seines beträchtlichen Umfangs von zwanzig Seiten enthält der Aufsatz leider nur einige wenige Hinweise zu der Frage, inwieweit der brasilianische Staat die Empfehlungen des UN-Frauenrechtsausschusses nahezu zwei Jahre nach der Alyne-Entscheidung konkret umgesetzt hat. Die Autorin legt lediglich dar, dass der Versuch der brasilianischen Regierung, eine verpflichtende Registrierung von Schwangerschaften einzuführen, unter Hinweis auf den Datenschutz zu heftigen Protesten in der Bevölkerung geführt habe und deshalb gescheitert sei.113 Ferner habe eine Menschenrechtsinitiative anlässlich des ersten Jahrestages der Alyne-Entscheidung die brasilianische 106 CEDAW/C/SR.1026, Nr.23. 107 CEDAW/C/SR. 1027. 108 CEDAW/C/SR.1027, Nr. 28. 109 Cook, Rebecca: Human Rights and Maternal Health: Exploring the Effectiveness of the Alyne Decision, in: The Journal of Law, Medicine & Ethics, Volume 41:1 (Spring 2013), S. 103–123. 110 Cook (2013), S. 103 (109 f.). 111 Cook (2013), S. 103 (110). 112 Cook (2013), S. 103 (108). 113 Cook (2013), S. 103 (110) m. w. N. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 31 Regierung dazu aufgerufen, den Empfehlungen des Ausschusses nunmehr Konsequenzen folgen zu lassen.114 Auch zur Auszahlung einer von der Regierung bereits zugesicherten Entschädigungsleistung an die Mutter und die Tochter der verstorbenen Alyne da Silva Pimentel Teixeira sei es bislang noch nicht gekommen.115 5.3. T.P.F. gegen Peru In dem Individualbeschwerdeverfahren T.P.F. gegen Peru116 ging es um eine Minderjährige, die – nachdem sie im Alter von 13 Jahren infolge eines sexuellen Missbrauchs schwanger geworden war und deshalb einen mit schweren Verletzungen verbundenen Suizidversuch unternommen hatte – in ein peruanisches Krankenhaus eingeliefert wurde. Das Krankenhaus weigerte sich jedoch, den von ihr und ihrer Mutter gewünschten Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, obwohl die Gefahr bestand, dass eine Fortführung der Schwangerschaft die physische und psychische Gesundheit des Kindes beinträchtigen könnte und aufgrund ihres Alters sowie der infolge des Suizidversuchs erlittenen Verletzungen Komplikationen bei der Geburt zu erwarten waren. Der UN-Frauenrechtsausschuss gelangte in seiner Entscheidung vom 17. Oktober 2011117 zu der Feststellung, Peru habe in diesem Fall gegen Art. 1, Art. 2 lit. c) und f), Art. 3, Art. 5, Art. 12 und Art. 16 der Konvention verstoßen. 5.3.1. Sachverhalt Die Beschwerdeführerin in dem Verfahren T.P.F. gegen Peru war die Mutter der im Jahr 1993 in Peru geborenen L.C. Diese wurde ab ihrem elften Lebensjahr von einem 34-jährigen Mann sexuell missbraucht und mit 13 Jahren von diesem schwanger. Unter Depressionen leidend und aus Furcht vor der Schwangerschaft versuchte sie, am 31. März 2007 Selbstmord zu begehen. Wegen der aufgrund des Suizidversuchs erlittenen schweren Verletzungen an der Wirbelsäule, die mit einer Lähmung der unteren und der oberen Extremitäten verbunden waren, wurde sie daraufhin in ein Krankenhaus eingeliefert.118 Um eine weitere Verschlechterung der erlittenen Verletzungen zu vermeiden, empfahl der Chefarzt der Neurochirurgie, L.C. zu operieren. Am Operationstag wurde L.C.s Mutter jedoch darüber informiert , dass der Eingriff auf Grund der Schwangerschaft verschoben werden müsse. Mit Einverständnis ihrer Tochter bat die Beschwerdeführerin daraufhin das Krankenhaus, die Schwangerschaft gemäß Artikel 119 des peruanischen Strafgesetzbuchs zu beenden. Da ein Schwangerschaftsabbruch in Peru nach dieser Bestimmung nur dann straffrei bleibt, wenn er dazu dient, die Gesundheit der Mutter zu schützen, trug die Beschwerdeführerin gegenüber der Krankenhausleitung vor, dass die Schwangerschaft das Leben sowie die physische und psychische Gesundheit ihrer 114 Cook (2013), S. 103 (110); Aufruf der „Plataforma Brasileira de Direitos Humanos“; abrufbar unter: http://dhescbrasil .org.br/attachments/614_alyne_case_english_version.pdf 115 Cook (2013), S. 103 (111). 116 Mitteilung Nr. 22/2009. 117 CEDAW/C/50/D/22/2009; abrufbar unter: http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/CEDAW/Jurisprudence/CE- DAW.C.50.D.22.2009_en.pdf 118 CEDAW/C/50/D/22/2009, 1-2.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 32 Tochter ernstlich und dauerhaft in Gefahr bringe und dass die Wirbelsäulenoperation nicht durchgeführt werden könne, wenn die Schwangerschaft fortbestehe. Da sich die Antwort der Krankenhausleitung verzögerte, wandte sich die Beschwerdeführerin an die stellvertretende «Verteidigerin für Frauenrechte» in Peru, um mit deren Hilfe eine Entscheidung des Krankenhauses zugunsten eines Schwangerschaftsabbruchs durchzusetzen. Nach Ablauf von 42 Tagen lehnte das Krankenhaus den Antrag, die Schwangerschaft abzubrechen, jedoch mit der Begründung ab, L.C.s Gesundheit sei nicht in Gefahr. Daraufhin gab die Verteidigerin ein externes Gutachten in Auftrag, das zu dem Ergebnis gelangte, dass auf Grund des Alters und wegen der Verletzungen, die L.C. infolge des Suizidversuchs erlitten habe, Komplikationen bei der Geburt zu erwarten seien. Ein Schwangerschaftsabbruch aus therapeutischen Gründen sei deshalb gerechtfertigt. In L.C.s sechzehnter Schwangerschaftswoche reichte die Mutter Beschwerde gegen die ablehnende Entscheidung des Krankenhauses ein. Einige Tage später erlitt L.C. eine Fehlgeburt. Dreieinhalb Monate nach dem ursprünglich festgesetzten Termin wurde L.C. schließlich an der Wirbelsäule operiert.119 In dem Verfahren vor dem UN-Frauenrechtsauschuss vertrat die Beschwerdeführerin die Auffassung , Peru habe seine Verpflichtungen aus den Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 5, Art. 12 und Art. 16 Abs. 1 lit. e) der Konvention und der Allgemeinen Empfehlung Nr. 24120 hinsichtlich Frauen und Gesundheit verletzt. Die Weigerung der Krankenhausleitung, bei ihrer Tochter einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, verstoße insbesondere gegen deren Recht auf Gesundheit, auf gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsdiensten nach Art. 12 der Konvention und auf ein Leben in Würde. Darüber hinaus trug sie vor, in Peru fehle es an verwaltungs- und verfahrensrechtlichen Vorschriften, mit denen sichergestellt werde, dass die Entscheidung eines Krankenhauses, einen rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbruch nicht durchzuführen, überprüft werden könne. Mangels entsprechender Kontrollmechanismen sei die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs deshalb allein von der jeweiligen Krankenhausleitung abhängig, die Schwangerschaftsabbrüche demnach in rechtswidriger Weise verweigern könne.121 5.3.2. Die Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses vom 17. Oktober 2011 In seiner Entscheidung vom 17. Oktober 2011 stellte der UN-Frauenrechtsausschuss zunächst fest, dass in Peru in Bezug auf medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbrüche ein Regelungsdefizit bestehe, da es an Verfahrensvorschriften fehle, aufgrund derer legale Schwangerschaftsabbrüche beantragt und im Falle einer Weigerung des Krankenhauses gleichwohl durchgesetzt werden könnten . Der Ausschuss wies außerdem darauf hin, dass die Leitung des Krankenhauses im konkreten Fall den möglichen Auswirkungen der Fortführung der Schwangerschaft auf die physische und psychische Gesundheit der Patientin keine hinreichende Beachtung geschenkt habe. Auch die Befunde des externen Gutachtens seien nicht berücksichtigt worden. Der Ausschuss gelangte deshalb zu dem Schluss, L.C. habe keinen Zugang zu den ihr zustehenden medizinischen Dienstleistungen erhalten, die auf Grund ihres physischen und psychischen Zustandes erforderlich gewesen wären. 119 CEDAW/C/50/D/22/2009, 2.2-2.10. 120 Abrufbar unter http://www2.ohchr.org/english/bodies/cedaw/comments.htm 121 CEDAW/C/50/D/22/2009, 3.1-3.6. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 33 Da die Vertragsstaaten nach Art. 12 der Konvention jedoch verpflichtet seien, alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen im Bereich des Gesundheitswesens zu treffen, um gleichberechtigten Zugang zu den Gesundheitsdiensten, einschließlich derjenigen im Zusammenhang mit der Familienplanung, zu gewährleisten, habe Peru folglich gegen diese Bestimmung der Konvention verstoßen.122 Darüber hinaus stellte der Ausschuss eine Verletzung von Art. 5 lit. a) der Konvention fest, da die Aufschiebung der Operation durch die stereotype Einstellung beeinflusst worden sei, dass der Schutz des Fötus wichtiger sei als derjenige der Mutter. Peru habe außerdem gegen Art. 2 lit. c) der Konvention verstoßen, wonach die Vertragsstaaten übereingekommen seien, mit allen geeigneten Mitteln unverzüglich eine Politik zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau zu verfolgen, und sich zu diesem Zweck unter anderem verpflichtet hätten, den gesetzlichen Schutz der Rechte der Frau auf der Grundlage der Gleichberechtigung mit dem Mann zu gewährleisten und die Frau durch die zuständigen nationale Gerichte und sonstigen öffentlichen Einrichtungen wirksam vor jeder diskriminierenden Handlung zu schützen. Gleiches gelte für Art. 2 lit. f) der Konvention, der die Vertragsstaaten dazu verpflichte, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich der Änderung oder Aufhebung aller bestehenden Gesetze zu treffen, die eine Diskriminierung der Frau darstellten. Peru habe außerdem gegen Art. 3 der Konvention verstoßen. Diese Bestimmung verpflichte die Vertragsstaaten, auf allen Gebieten, insbesondere auch im sozialem Bereich, alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung und Förderung der Frau zu treffen, um zu gewährleisten, dass sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt mit dem Mann ausüben und genießen könne. Eine solche mit der Konvention nicht zu vereinbarende Diskriminierung sah der Ausschuss in der Dauer der Entscheidungsfindung der Krankenhausleitung und darin, dass es in Peru keine verfahrensrechtlichen Regelungen im Zusammenhang mit dem legalen Schwangerschaftsabbruch gebe.123 Dementsprechend empfahl der Ausschuss dem peruanischen Staat, L.C. angemessen zu entschädigen . Ferner sei der effektive Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen aus therapeutischen Gründen , also in den Fällen zu gewährleisten, in denen die physische oder psychische Gesundheit von Frauen des Schutzes bedürfe. Der peruanische Staat solle zudem sicherstellen, dass die Regelungen der Konvention zu den reproduktiven Rechten der Frau in allen Gesundheitseinrichtungen bekannt seien und beachtet würden. Der Ausschuss empfahl Peru außerdem, eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nach einer Vergewaltigung oder einem sexuellem Missbrauch in Betracht zu ziehen.124 122 CEDAW/C/50/D/22/2009, 8.13-8.15. 123 CEDAW/C/50/D/22/2009, 8.15-8.17. 124 CEDAW/C/50/D/22/2009, 9.1-9.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 34 5.3.3. Auswirkungen und Bedeutung der Entscheidung des UN-Frauenrechtsausschusses 5.3.3.1. Angaben der peruanischen Regierung in ihrer Antwort auf vom UN-Frauenrechtsausschuss nach Vorlage des siebten und achten Berichts gestellte Nachfragen vom 12. März 2014 In ihrer Antwort vom 12. März 2014 auf vom UN-Frauenrechtsausschuss nach Vorlage des verbundenen siebten und achten Berichts gestellte Nachfragen125 bekundete die peruanische Regierung, das Gesundheitsministerium habe inzwischen nationale Richtlinien für sexualitäts- und reproduktionsbezogene Gesundheitsleistungen eingeführt, die von allen Gesundheitseinrichtungen in Peru befolgt werden müssten.126 Das peruanische Gesundheitsministerium überarbeite derzeit ferner die Richtlinien zur medizinischen Versorgung bei Schwangerschaftsabbrüchen in Fällen, in denen diese therapeutisch indiziert seien, die Schwangerschaft noch keine 22 Wochen andauere und die Frau ihr informiertes Einverständnis zu dem Eingriff gegeben habe. Dieser Vorschlag werde derzeit von verschiedenen wissenschaftlichen Vereinigungen im Verbund mit Kliniken, die für die Durchführung therapeutisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche geeignet seien, geprüft. Das Ministerium für Justiz und Menschenrechte habe die Annahme dieser Richtlinien bereits empfohlen.127 In seinen abschließenden Empfehlungen zum verbundenen siebten und achten Bericht der peruanischen Regierung vom 24. Juli 2014128 brachte der UN-Frauenrechtsausschuss seine Besorgnis im Hinblick auf die Verzögerung der Umsetzung von Entscheidungen internationaler Ausschüsse und anderer Vereinigungen durch die peruanische Regierung zum Ausdruck.129 In diesem Zusammenhang wies der Ausschuss ausdrücklich auf die noch ausstehende Umsetzung seiner Empfehlungen in dem Verfahren T.P.F. gegen Peru hin und kritisierte dabei insbesondere, dass die Betroffene bislang noch keine individuellen Entschädigungsleistungen erhalten habe. Darüber hinaus wiederholte der Ausschuss seine diesbezüglichen Empfehlungen und forderte die peruanische Regierung nachdrücklich auf, diese nunmehr zu berücksichtigen.130 125 CEDAW/C/PER/Q/7-8. 126 CEDAW/C/PER/Q/7-8/Add.1, Nr. 75. 127 CEDAW/C/PER/Q/7-8/Add.1, Nr. 78 f. 128 CEDAW/C/PER/CO/7-8. 129 CEDAW/C/PER/CO/7-8, Nr. 11. 130 CEDAW/C/PER/CO/7-8, Nr. 11 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 35 5.3.3.2. Würdigung der Entscheidung in der wissenschaftlichen Literatur In einer im Jahr 2013 veröffentlichten Kommentierung der vorgenannten Entscheidung des UN- Frauenrechtsausschusses vom 17. Oktober 2011 werden deren Bedeutung und die zentralen Aspekte der Entscheidung herausgearbeitet.131 Der Autor Charles G. Ngwena hebt insbesondere hervor , dass der Zugang zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch in dieser Entscheidung als ein Thema des Menschenrechtsschutzes behandelt worden sei.132 Intransparente, unzureichende oder unzulänglich umgesetzte Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch seien nach dieser Entscheidung als eine gegen die UN-Frauenrechtskonvention verstoßende, geschlechterbasierte Diskriminierung anzusehen, da insoweit der Zugang zu einer Leistung versperrt werde, auf die ausschließlich Frauen angewiesen seien.133 Außerdem müssten hinsichtlich der Frage, ob eine Schwangerschaft eine körperliche Beeinträchtigung darstelle, der Entscheidung zufolge insbesondere auch psychische Belastungen von Frauen in die Beurteilung miteinbezogen werden. Als Indikation für therapeutische Schwangerschaftsabbrüche sei die „Gesundheit“ von Frauen nach Auffassung des UN-Frauenrechtsausschusses folglich ganzheitlich zu betrachten.134 6. Anlagenverzeichnis Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 6. Oktober 1999 zum Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 3. Dezember 2001, in: BGBl. II, S. 1237 ff. Anlage 1 Gesetz zu dem Übereinkommen vom 18. Dezember 1979 zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 25. April 1985, in: BGBl. II, S. 647 ff. Anlage 2 Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 19. Dezember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsverfahren vom 20. Dezember 2012, in: BGBl. II, S. 1546 ff. Anlage 3 Hodson, Loveday (2014): Women’s Rights and the Periphery: CEDAW’s Optional Protocol, in: The European Journal of International Law, Vol. 25 No. 2, S. 561-578. Anlage 4 131 Ngwena, Charles G: A Commentary on LC v Peru: The CEDAW Committee’s First Decision on Abortion, in: Journal of African Law (2013) 57, 2, S. 310-324. 132 Ngwena (2013), S. 310 (315). 133 Ngwena (2013), S. 315 (320, 323). 134 Ngwena (2013), S. 315 (323). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 115/14 Seite 36 Jansen, Sille (2012): The Optional Protocol to the Women’s Convention: An Assessment of its Effectiveness in Protecting Women’s Rights. In: Westendorp, Ingrid (Hrsg.), The Women’s Convention Turned 30 - Achievements, Setbacks, and Prospects, Cambridge, S. 435-452. Anlage 5 Martin Ostermann Antonia Reitter