Deutscher Bundestag Sexualassistenz für geistig- und/oder körperlich behinderte Menschen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste © 2009 Deutscher Bundestag WD 9 – 3000 - 111/2009 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000 - 111/2009 Seite 2 Sexualassistenz für geistig- und/oder körperlich behinderte Menschen Ausarbeitung: WD 9 – 3000 - 111/2009 Abschluss der Arbeit: 4. November 2009 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000 - 111/2009 Seite 3 Gegenstand der folgenden Darstellung ist die Frage, ob das Kranken- bzw. Pflegeversicherungsrecht Anspruchsnormen zur Kostenübernahme einer sog. „Sexualassistenz“ für geistig- und/oder körperlich behinderte Menschen vorsieht. 1. Krankenversicherungsrecht 1.1. Allgemeine Regelungen § 2a SGB V bestimmt, dass bei der Anwendung des Krankenversicherungsrechts den besonderen Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen Rechnung zu tragen ist. Nach überwiegender Auffassung handelt es sich bei der Vorschrift des § 2a SGB V allerdings nur um einen „programmatischen Auftrag“1. Unstreitig ist, dass die Ziele der Vorschrift in die Gesellschaft ausstrahlen . Die Vorschrift des § 2a SGB V wird auch als „Auslegungshilfe“ in Konkretisierung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung angesehen2. § 9 SGB IX enthält ausführliche Bestimmungen für das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten , die auch im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung gelten. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB IX ist dabei auch auf die persönliche Lebenssituation des Leistungsberechtigten Rücksicht zu nehmen. Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch die im Allgemeinen Teil des SGB angesiedelte Vorschrift des § 33 SGB I, wonach bei der Ausgestaltung der Leistungen die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten sowie „sein Bedarf und seine Leistungsfähigkeit“ zu berücksichtigen sind. Die Vorschrift des § 2a SGB V ist auch mit der Regelung des § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB V verglichen worden, wonach bei der Krankenbehandlung „den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker“ Rechnung zu tragen ist, insbesondere „bei der Versorgung mit Heilmitteln und bei der medizinischen Rehabilitation“3. Das Bundessozialgericht hat im Zusammenhang mit dem Streit um die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit eines psychischkranken Versicherten auf § 27 Abs. 1 Satz 3 SGB V Bezug genommen und formuliert: „Diese Regelung verleiht dem Einzelnen zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenkasse, ihr kommt aber zumindest eine Verdeutlichungsfunktion und der Charakter einer Auslegungsregelung zu“; sie bedingt, dass die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten auch bei psychischen Erkrankungen voll ausgeschöpft werden und das für sie bestimmte Leistungsangebot nicht hinter demjenigen für somatisch Kranke zurückbleiben darf. Aus alledem folgt, dass aus § 2a SGB V keine konkreter Anspruch auf die Übernahme der Kosten von „Sexualassistenz“ durch die gesetzlichen Krankenversicherung abgeleitet werden kann. 1.2. Ansprüche nach § 11 Abs. 2 SGB V Nach § 11 Abs. 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation sowie auf unterhaltssichernde und ergänzende Leistungen, die notwendig sind, um eine Behinderung oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, auszugleichen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern. Die Vorschrift bestätigt den Anspruch auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Es handelt sich weder um einen Pro- 1 So etwa Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, § 2a Rn. 3-. Ähnlich Dalichau, Gesetzliche Krankenversicherung , § 2 Anmerkung II -. Ausführlich Noftz in: Hauck/Noftz SGB V, K § 2a Rn. 9 ff 2 So Peters in: Kasseler Kommentar, SGB V, § 2a Rn. 3 3 S. juris PK-SGB V – Plagemann § 2a SGB V Rn 15, 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000 - 111/2009 Seite 4 grammsatz noch um eine deklaratorische Aussage4. Die in § 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V formulierten Ziele korrespondieren mit § 4 SGB IX. Dazu gehören nicht die soziale Eingliederung oder die behindertengerechte Gesundheitsförderung. Deshalb sind die Kosten einer Verhaltenstherapie mit heilpädagogischen Maßnahmen auch dann zu übernehmen, wenn die Bekämpfung einer Krankheit im Vordergrund steht5. Mit dem Rechtsbegriff Rehabilitation in § 11 Abs. 2 bezieht sich das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung auch auf § 1 SGB IX. Danach gehört es zu den Zielen der Rehabilitation, auch die „Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegen zu treten“. Diese Zielsetzung orientiert sich auch an dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und des AGG sowie dem Benachteiligungsverbot gemäß § 33c SGB I und 19a SGB IV. Die Vorschriften begründen „subjektive derivative Teilhabepositionen und objektiv-rechtliche Schutzpflichten des Staates“6. Immer aber muss es um die Bekämpfung einer Krankheit gehen. Die medizinischen Leistungen sind auf der Grundlage eines ganzheitlich orientierten, unter ärztlicher Verantwortung und Mitwirkung eines Reha-Teams erstellten Konzepts durchzuführen. Die Einübung und Ausführung von Sexualpraktiken mag dem Wohlbefinden der betreffenden Person dienlich seien. Zur Bekämpfung spezifischer Krankheiten bedarf es der sog. Sexualassistenz allerdings nicht. 1.3. Ansprüche nach § 20 Abs. 4 SGB V § 20 Abs. 4 SGB V verpflichtet die gesetzlichen Krankenkassen, Selbsthilfeorganisationen, die sich die Prävention und Rehabilitation der Versicherten zum Ziel gesetzt haben, durch einen gesetzliche festgelegten, dynamischen Mindestbeitrag nach einheitlichen Grundsätzen zu fördern. Als förderungsfähige Gruppen definieren die gemeinsamen und einheitlichen Grundsätze der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Förderung der Selbsthilfe nach § 20 Abs. 4 SGB V vom 10. 3. 2000 Selbsthilfegruppen, -organisationen und -kontaktstellen. Die gemeinsamen und einheitlichen Grundsätze enthalten ein Verzeichnis der Krankheiten, zu deren Prävention und Rehabilitation die Selbsthilfe gefördert werden kann. Selbsthilfegruppen sind freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen, deren Aktivitäten sich auf die gemeinsame Bewältigung von Krankheiten und/oder psychischen Problemen richten, von denen sie selbst oder als Angehörige betroffen sind. Sie arbeiten ohne Gewinnerzielungsabsicht und durch fortlaufende Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe in Gruppen. Ziel ist eine Veränderung ihrer persönlichen Lebensumstände und häufig auch ein Hineinwirken in ihr soziales und politisches Umfeld. Angebote der Sexualassistenz und Sexualbegleitung lassen sich hierunter bereits nur eingeschränkt subsumieren. Sie können auch nicht als Angebote einer Selbsthilfeorganisation oder -kontaktstelle qualifiziert werden. Ziel von Selbsthilfeorganisationen und -kontaktstellen ist nicht das Angebot oder die Vermittlung von entgeltlichen Dienstleistungen an einzelne Menschen mit einer Krankheit oder Behinderung, sondern die Organisation von Selbsthilfegruppen bzw. die Information über mögliche Selbsthilfeangebote oder über die Möglichkeiten der Gründung von Selbsthilfegruppen. 4 So juris PK-SGB V – Plagemann, § 11 SGB V, Rn. 23 5 Siehe juris PK-SGB V – Plagemann, § 1 SGB V, Rn. 24 6 Noftz, in: Hauck/Noftz SGB VK § 11 Rn. 49 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 – 3000 - 111/2009 Seite 5 1.4. Fazit Das SGB V sieht nach alledem keine ausdrücklichen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zur Sexualassistenz und Sexualbegleitung vor. Die Krankenkassen sind auch nicht verpflichtet , Sexualassistenz als Leistungen bei Krankheit oder Behinderung zu finanzieren7. In seiner Viagra-Entscheidung wertete das BSG die erektile Dysfunktion von Klägern als Krankheit, weil diese nicht auf deren fortgeschrittenem Lebensalter, sondern auf einer Erkrankung an Multipler Sklerose bzw. Diabetes beruhte und medikamentös behandelbar war. In der Sexualassistenz und Sexualbegleitung handelt es sich aber nicht um eine medizinische Behandlung oder ein anerkanntes Heil- bzw. Heilhilfsmittel. Zudem hat der Gesetzgeber mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz deutlich gemacht, dass er die Behandlung von Sexualstörungen, die nicht im Zusammenhang mit der Fortpflanzung stehen, aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen herausnehmen will: Anfang 2004 hatte er zusammen mit Viagra alle diejenigen Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der Kassen gestrichen, die überwiegend der Behandlung der erektiven Dysfunktion oder der Steigerung der sexuellen Potenz dienen. Nach Auffassung des Bundessozialgerichts verstößt diese Streichung nicht gegen das Sozialstaatsprinzip. Angesichts knapper Kassen dürfe der Gesetzgeber zumindest solche Leistungen begrenzen, die „in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienen“8. Damit ist der Ausschluss von Sexualhilfen für Menschen mit Behinderungen aus dem Angebot der gesetzlichen Krankenkassen als verfassungsgemäß anzusehen. 2. Pflegeversicherungsrecht Sexualassistenz ist keine Hilfe bei den in § 14 Abs. 4 SGB XI abschließend aufgezählten Verrichtungen , die einen Pflegebedarf in der gesetzlichen Pflegeversicherung begründen. Die soziale Pflegeversicherung ist als Teilabsicherung konzipiert, ihr Leistungskatalog ist noch enger angelegt als der Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass Pflegebedürftigen einen (Haupt-)teil ihres Pflegebedarfs mit Hilfe von Angehörigen und anderen Personen aus ihrem sozialen Umfeld abdecken. Die Begrenzungen der Pflegeversicherung auf die existenziellsten Leistungen wurden vom Bundessozialgericht mehrmals bestätigt9. Die Gestaltungsfreiheit , die das Sozialstaatsprinzip dem Gesetzgeber nach Auffassung des BSG im Bereich der Krankenbehandlung einräumt, muss für die Pflegeversicherung erst recht gelten10. 7 Das Bundesozialgericht (GSG) definiert Krankheit als einen regelwidrigen Körper- und Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat, s. GSG 26, 288 -. BSG vom 5. 7. 1995, SoZR 3-2500 § 27 Nr. 5; die Definition von Behinderung ergibt sich aus § 2 SGB IX 8 BSG, Az: D1KR28-04R B1 25-03 R 9 BSGE 82, S. 27 10 Quelle des Vorstehenden: Expertise – sexuelle Assistenz für Frauen und Männer mit Behinderungen, herausgegeben von ProFamilia, Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V., S. 59 - 60