© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 106/20 Zur Rechtmäßigkeit einer sogenannten „Arbeitsquarantäne“ Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsi chtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 2 Zur Rechtmäßigkeit einer sogenannten „Arbeitsquarantäne“ Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 106/20 Abschluss der Arbeit: 7. Dezember 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Rechtsgrundlage 5 3. Voraussetzungen der Anordnung einer Quarantäne 5 3.1. Erforderlichkeit zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten 5 3.2. Adressatenkreis 6 4. Vereinbarkeit mit Grundrechten 7 4.1. Legitimer Zweck und Geeignetheit der Maßnahmen 8 4.2. Erforderlichkeit 8 4.3. Verhältnismäßigkeitsprüfung 8 4.3.1. Kriterien der Abwägung bei einem Eingriff in Freiheitsrechte 9 4.3.2. Kein Verstoß gegen die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG 10 5. Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union 11 6. Fazit 12 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Verschiedene Bereiche des Arbeitslebens haben sich im Rahmen der COVID-19-Pandemie als besondere Schwerpunkte des Infektionsgeschehens gezeigt. So führte eine hohe Zahl von Infektionen etwa unter den Bewohnern und dem Personal von Pflegeeinrichtungen1 sowie bei Arbeitnehmern in der fleischverarbeitenden Industrie2 zu Situationen, in denen der Weiterbetrieb gefährdet war. Für den Pflegebereich schlägt das Robert Koch-Institut (RKI) bei relevantem Personalmangel eine Arbeitsaufnahme durch medizinisches Personal, das als Kontaktperson lediglich ansteckungsverdächtig ist, zur Gewährleistung der akutmedizinischen Versorgung vor.3 Auch in anderen Bereichen wurde ein derartiges Modell bereits in Betracht gezogen oder umgesetzt . Insbesondere im Hinblick auf Mitarbeitende in Schlachthöfen wurde in einigen Fällen im Wege der Allgemeinverfügung4 eine so bezeichnete „Arbeitsquarantäne“ angeordnet, die vorsah, dass Arbeitnehmer sich in bestimmten Fällen im Rahmen ihrer Quarantäne nicht ausschließlich zuhause isolieren mussten, sondern ihren Arbeitsplatz weiterhin unter Wahrung eines aufgestellten Hygienekonzepts aufsuchen konnten. Im Folgenden sollen auftragsgemäß die Rechtsgrundlagen und Anforderungen an eine solche Anordnung dargelegt werden. 1 Vgl. Winter, Thorsten, Corona-Ausbruch in Altenheim – Einsatz positiv getesteter Pflegekräfte als letztes Mittel , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online (faz.net), 1. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell /rhein-main/corona-einsatz-positiv-getesteter-pflegekraefte-als-letztes-mittel-17078307.html (dieser und alle weiteren Online-Nachweise zuletzt abgerufen am 4. Dezember 2020). 2 Volle Ställe wegen Corona-Krise – Schweinestau lässt Bauern verzweifeln, in: tagesschau.de, 8. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/corona-schweine-schlachthoefe-101.html. 3 RKI, Optionen zur vorzeitigen Tätigkeitsaufnahme von Kontaktpersonen unter medizinischem Personal in Arztpraxen und Krankenhäusern bei relevantem Personalmangel , Stand: 30. November 2020, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/HCW.html . 4 So etwa Ziff. II der Allgemeinverfügung Nr. 15 des Landkreises Emsland zur Eindämmung der Atemwegserkrankung COVID-19 durch den Coronavirus-Erreger SARS-CoV-2 durch weitere Quarantänemaßnahmen gegenüber den Beschäftigten der Weidemark Fleischwaren GmbH und Co. KG, Industriestraße 11, 49751 Sög el vom 12. Oktober 2020, abrufbar unter: https://www.emsland.de/pdf_files/corona/allgemeinverfuegung-nr-15-quarantaenemassnahmen _3919_1.pdf, Ziff. II.3 der Allgemeinverfügung zur Absonderung in sog. häuslicher Quarantäne des Kreises Gütersloh vom 20. Juni 2020, abrufbar unter: https://www.kreis-guetersloh.de/aktuelles/corona/pressemitteilungen -coronavirus/20-06-2020-allgemeinverfuegung-haeuslicher-quarantaene-firma-toennies/2020-06-20- allgemeinverfuegung-toennies.pdf?cid=sh5 sowie Ziff. 2a der Allgemeinverfügung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen zum Schutz der Bevölkerung vor der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 gegenüber im Betrieb der Firma Tönnies am Standort In der Mark 2, 33378 Rheda - Wiedenbrück tätigen und mit ihnen in häuslicher Gemeinschaft lebenden Personen durch Absonderung in häuslicher Quarantäne (NRWCOVTönniesQuaAV) vom 1. Juli 2020, MBl. NRW. S. 322b. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 5 2. Rechtsgrundlage Die Rechtsgrundlage für die Anordnung einer häuslichen Quarantäne findet sich in § 28 Abs. 1 i. V. m. § 30 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG)5. § 28 Abs. 1 IfSG sieht vor, dass die zuständige Behörde gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern die notwendigen Schutzmaßnahmen trifft, die insbesondere in §§ 28a bis 31 IfSG geregelt sind, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Sie kann nach § 28 Abs. 1 S. 2 Hs. 2 IfSG dabei auch Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, also etwa die eigene Wohnung, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen. Dies stellt ein milderes Mittel gegenüber der in § 30 IfSG geregelten Absonderung dar.6 § 30 IfSG regelt die Absonderung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern. Bei anderen Krankheiten als Lungenpest oder hämorrhagischem Fieber, also etwa im Hinblick auf COVID-19, kann diesen Personen gegenüber gemäß § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG angeordnet werden, dass sie in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden. Der Begriff „in sonst geeigneter Weise“ ist offengehalten und umfasst insbesondere auch die häusliche Quarantäne,7 ist aber nicht darauf beschränkt. Somit ist auch die Erlaubnis, während der Absonderung die Arbeitsstätte aufzusuchen, vom Wortlaut der Vorschrift erfasst, sofern es sich weiterhin um eine geeignete Form der Absonderung handelt. 3. Voraussetzungen der Anordnung einer Quarantäne Zur Anordnung einer Arbeitsquarantäne müssen – wie auch im Fall der häuslichen Quarantäne – die Tatbestandsvoraussetzungen der genannten Vorschriften erfüllt sein. 3.1. Erforderlichkeit zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten Die Anordnung von Maßnahmen nach §§ 28 ff. IfSG muss zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich sein, vgl. § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG.8 Die Absonderung von Personen zuhause und am Arbeitsplatz reduziert die Zahl von Kontakten und verhindert Kontakte außerhalb dieser Bereiche. Eine mögliche Übertragung wird somit auf den häuslichen Bereich und den Arbeitsplatz beschränkt. Bei einer großen Zahl von Fällen innerhalb eines Betriebs ist eine derartige Maßnahme geeignet, die Verbreitung außerhalb des Betriebs 5 Infektionsschutzgesetz vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Artikel 2 des Gesetzes vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397). 6 Häberle, Peter/ Lutz, Hans-Joachim, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Band 1, 232. EL August 2020, IfSG, § 30, Rn. 1. 7 Lutz, Hans-Joachim, in: Lutz, Infektionsschutzgesetz - IfSG, Kommentar, 2. Auflage 2020, § 30, Rn. 1a. 8 § 28 und § 30 IfSG sind insoweit stets zusammen zu lesen; die Anforderungen des § 28 Abs. 1 IfSG müssen auch für die Anordnung von Maßnahmen nach § 30 IfSG erfüllt sein; so auch Johann, Christian/ Gabriel, Moritz, in: Beck’scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 1. Edition, 1. Juli 2020, IfSG, § 28, Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 6 zu verringern. Die Voraussetzungen von § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG dürften damit in der Regel erfüllt sein. 3.2. Adressatenkreis § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG findet nach seinem Wortlaut Anwendung auf Kranke, Krankheitsverdächtige , Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider. Gemäß § 2 Nr. 4-7 IfSG ist „[…] Kranker eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist, […] Krankheitsverdächtiger eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen, […] Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein […und] Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein […]“ (Hervorhebungen diesseits). Bei einer mittels Allgemeinverfügung pauschal für ein gesamtes Unternehmen oder ganze Abteilungen angeordneten Arbeitsquarantäne werden im Regelfall auch Personen betroffen sein, die nicht an Symptomen von COVID-19 leiden oder sogar einen negativen Test auf das Vorliegen einer SARS-CoV-2-Infektion vorweisen können. Diese können als Ansteckungsverdächtige dennoch Adressaten von Maßnahmen nach § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG sein, wenn die Umstände etwa aufgrund von Arbeitsbedingungen und -Abläufen nahelegen, dass die Arbeitnehmer einer ernstzunehmenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt waren. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat bereits im Jahr 2012 in einem Urteil9 zu § 28 Abs. 1 IfSG festgestellt, dass eine Person ansteckungsverdächtig ist, wenn sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte. Eine entfernte Wahrscheinlichkeit, also die Tatsache, dass eine Ansteckung nicht auszuschließen sei, genüge nicht. Es sei aber auch nicht zu verlangen, dass sich die Möglichkeit einer Ansteckung „geradezu aufdränge.“ Ausreichend sei es aber, wenn die Ansteckung wahrscheinlicher sei als die Nichtansteckung.10 Es sei zudem der im allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht geltende Grundsatz heranzuziehen, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.11 Dafür sprächen das aus §§ 1 Abs. 1 und 28 Abs. 1 IfSG ersichtliche Ziel des Infektionsschutzgesetzes, eine effektive Gefahrenabwehr zu ermöglichen, sowie der Umstand, dass die betroffenen Krankheiten nach ihrem Ansteckungsrisiko und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen unterschiedlich gefährlich sind. Es sei sachgerecht, einen 9 BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - BVerwG 3 C 16.11, abrufbar unter: https://www.bverwg.de/220312U3C16.11.0 . 10 Ebd., Leitsatz Nr. 2 sowie Rn. 31. 11 Ebd., Rn. 32, mit Verweisen auf BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1974 - BVerwG 1 C 31.72, BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 1983 - BVerwG 7 B 35.83 - Buchholz 451.22 AbfG Nr. 14, S. 32. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 7 am Gefährdungsgrad der jeweiligen Erkrankung orientierten, „flexiblen“ Maßstab für die hinreichende (einfache) Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen.12 Ob ein Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG zu bejahen sei, beurteile sich unter Berücksichtigung der Eigenheiten der jeweiligen Krankheit und der verfügbaren epidemiologischen Erkenntnisse und Wertungen sowie anhand der Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition der betreffenden Person und über deren Empfänglichkeit für die Krankheit.13 Für die rechtmäßige Anordnung einer Quarantäne bedeutet dies, dass die zuständige Behörde anhand der konkreten Arbeitsumstände und Eigenschaften der Krankheit, hier COVID-19, ermitteln muss, ob eine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung besteht. Im Hinblick auf enge Zusammenarbeit, eine hohe Durchmischung von Arbeitnehmern aus verschiedenen Bereichen oder den Umgang verschiedener Personen mit denselben Gegenständen und Arbeitsmitteln erscheint die Annahme eines Ansteckungsverdachts für alle Mitarbeiter einer Abteilung bei einer leicht übertragbaren Krankheit wie COVID-19 jedenfalls nicht als unvertretbar. Dass im konkreten Fall festgestellt werden kann, ob es sich bei einem Arbeitnehmer nachweislich um eine Kontaktperson eines Infizierten handelt, ist daher nicht zwingend erforderlich. Es bedarf aber stets einer Ermittlung der zuständigen Behörde im Einzelfall.14 Eine Inanspruchnahme von Nichtstörern, also Personen, die weder Kranke, Krankheitsverdächtige , Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider sind, kommt aufgrund von § 30 IfSG schon dem Wortlaut nach nicht in Betracht. Allenfalls nach § 28 Abs. 1 IfSG können diesen Personen gegenüber Maßnahmen getroffen werden, soweit sie notwendig sind; eine Beschränkung auf den in § 30 IfSG genannten Personenkreis besteht nicht.15 Ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG ist zudem nur dann möglich, wenn dabei die Maßnahmen ihrem Wesen nach von den in § 30 IfSG vorgesehenen Maßnahmen unterschieden werden.16 Es wäre etwa möglich , anzuordnen, dass ein Nichtstörer seinen Arbeitsplatz gerade nicht betreten darf, vgl. § 28 Abs. 1 S. 1IfSG. 4. Vereinbarkeit mit Grundrechten Bei der Anordnung von Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz und im Besonderen bei Quarantäneanordnungen handelt es sich um erhebliche Grundrechtseingriffe, in deren Rahmen stets die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu beachten ist. Sie müssen daher einen legitimen Zweck verfolgen, geeignet sein, diesen zumindest zu fördern, sie müssen erforderlich und schließlich bei einer Abwägung mit entgegenstehenden Rechtspositionen von Verfassungsrang verhältnismäßig sein. 12 Ebd., Rn. 32. 13 Ebd., Rn. 33. 14 So auch BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - BVerwG 3 C 16.11, Rn. 33. 15 Johann, Christian/ Gabriel, Moritz, in: Beck’scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 1. Edition, 1. Juli 2020, IfSG, §28, Rn. 21. 16 Johann, Christian/ Gabriel, Moritz, in: Beck’scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 1. Edition, 1. Juli 2020, IfSG, §30, Rn. 5. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 8 4.1. Legitimer Zweck und Geeignetheit der Maßnahmen Quarantäneanordnungen und auch die Anordnung einer Arbeitsquarantäne verfolgen das legitime Ziel, durch die Absonderung der Mitarbeiter die Ausbreitung einer übertragbaren Krankheit, etwa COVID-19, zu verhindern oder zu verringern und damit die Gesundheit der Bevölkerung ebenso wie die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zu schützen. Die Anordnung einer Arbeitsquarantäne ist dem Grunde nach auch geeignet, den Zweck des Gesundheitsschutzes zu fördern, da sie die Ausbreitung der Krankheit durch infizierte Personen ohne Krankheitssymptome außerhalb des häuslichen Bereichs und der Arbeitsstätte verhindern können. Daneben dient eine solche Anordnung auch der Wahrung der Funktionsfähigkeit der betroffenen Betriebe und der Vermeidung eines Personalmangels in Folge von Quarantäneanordnungen. Je nachdem, welche Unternehmen betroffen sind, dient dies nicht allein dem Erhalt des konkret von der Arbeitsquarantäne betroffenen Betriebs. So sind beispielsweise im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie auch schweinezüchtende Landwirte davon abhängig, dass Abläufe und Abnahmemengen eingehalten werden, nicht zuletzt, um Tierwohlaspekten, wie etwa gesetzlichen Mindestanforderungen an die Unterbringung der Tiere, gerecht werden zu können. Darüber hinaus dient in einem solchen Fall die Aufrechterhaltung des Betriebs auch der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. 4.2. Erforderlichkeit Die Anordnung ist nur dann grundrechtskonform, wenn sie auch erforderlich ist. Das heißt, es dürfte kein milderes Mittel geben, das ebenso zur Erreichung des Zwecks geeignet ist. Im Raum steht hier die Anordnung einer häuslichen Quarantäne für die betroffenen Arbeitnehmer . Diese würde die Ansteckungsgefahr ebenfalls verringern und wäre unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes für die übrige (gesunde) Belegschaft möglicherweise sogar effektiveres Mittel . Es ist aber fraglich, ob es sich bei der Anordnung der häuslichen Quarantäne um ein milderes Mittel handelt, da der Handlungsspielraum und Bewegungsrahmen der Arbeitnehmer in diesem Fall vollständig auf die eigene Wohnung beschränkt wird. Auch kann bei der Anordnung einer häuslichen Quarantäne der Betrieb im Unternehmen gegebenenfalls aufgrund von Personalmangel nicht aufrechterhalten werden, was – je nach Art und Größe des Betriebs – negative Konsequenzen für das Gemeinwohl nach sich ziehen kann. Auch die Erforderlichkeit der Maßnahme kann daher je nach Zahl der betroffenen Arbeitnehmer und gesellschaftlicher Relevanz des Betriebs bejaht werden. 4.3. Verhältnismäßigkeitsprüfung Schließlich müsste eine solche Maßnahme auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Insbesondere müssen die Grundrechte der betroffenen Personen gewahrt werden. Hierbei stehen sich Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 9 auf der einen Seite der Gesundheitsschutz nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) 17 sowie auf der anderen Seite die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und eine Vielzahl von Freiheitsrechten der Arbeitnehmer gegenüber.18 4.3.1. Kriterien der Abwägung bei einem Eingriff in Freiheitsrechte Zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit müssen zahlreiche Faktoren gegeneinander abgewogen werden. Relevant sind unter anderem die Zahl der Infektionsfälle im Unternehmen und ihr Anteil an der Belegschaft, die Ansteckungswahrscheinlichkeit am Arbeitsplatz, die Art des Unternehmens und die Auswirkungen einer etwaigen Betriebsunterbrechung auf das Gemeinwohl (etwa, ob Belange des Gesundheitsschutzes, des Tierschutzes oder die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln gefährdet sind), vorhandene andere Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Betriebs, die Dauer der Maßnahmen, der Kreis der betroffenen Arbeitnehmer, die Bedingungen, unter welchen die Arbeitsaufnahme durch die Betroffenen erfolgen kann oder das Vorhandensein von Ausnahmetatbeständen. Eine Bejahung der Verhältnismäßigkeit erscheint etwa dann nicht ausgeschlossen, wenn die Arbeitsquarantäne in einem für die Versorgung der Bevölkerung essentiellen Betrieb mit hohen Infektionszahlen für einen klar begrenzten Zeitraum und nur in einzelnen Abteilungen angeordnet wird und ein strenges Hygienekonzept, etwa mit einer Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken und Abstandskonzepten, existiert. Insbesondere in Bereichen, die der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln dienen und bei welchen zusätzlich Tierschutzmaßnahmen auf vorgelagerter Ebene nicht eingehalten werden können, erscheint der Rückgriff auf eine Arbeitsquarantäne daher unter Abwägung der beteiligten Rechtsgüter möglich, wenn im Übrigen geeignete Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer getroffen werden und die Maßnahmen vorübergehender Natur sind. Auch, wenn Saisonarbeitskräfte nur vorübergehend und nur zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in einem bestimmten Betrieb nach Deutschland einreisen und gemeinsam untergebracht werden, kann die Aufnahme der Tätigkeit bereits während der Dauer der Einreisequarantäne verhältnismäßig sein. In anderen Bereichen, in denen keine Gründe des Allgemeinwohls entgegenstehen, dürfte demgegenüber eine vorübergehende Betriebsschließung zu bevorzugen sein, auch, um dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer Rechnung zu tragen. Eine Arbeitsquarantäne dürfte hiernach nur im Ausnahmefall zulässig sein. Die Anordnung einer Quarantäne, wie auch einer Arbeitsquarantäne, ist ein erheblicher Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und erfordert eine umfassende Abwägung im Einzelfall. Dabei sollte auch der Aspekt des Gesundheitsschutzes für 17 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Artikel 1 und 2 Satz 2 des Gesetzes vom 29. September 2020 (BGBl. I S. 2048). 18 Vgl etwa umfassend zu Grundrechtseingriffen durch Kontaktbeschränkungen und deren Verhältnismäßigkeit : Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte , Ausarbeitung, 8. April 2020, WD 3 – 3000 – 079/20, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource /blob/690718/d37f86a0d2630831d13f70f16f63911b/WD-3-079-20-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 10 die übrige Belegschaft berücksichtigt und insbesondere geprüft werden, ob alternative Lösungsmodelle in Betracht kommen. 4.3.2. Kein Verstoß gegen die Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG Eine Abwägung schiede aus, wenn die Anordnung einer Arbeitsquarantäne gegen die Menschenwürde der betroffenen Arbeitnehmer, Art. 1 Abs. 1 GG, verstoßen würde, da ein solcher Verstoß keine Rechtfertigungsmöglichkeit eröffnet.19 Ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist dann anzunehmen , wenn „der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“20 Hier könnte eine derartige Objektifizierung darin gesehen werden, dass die betroffenen Personen ihre Wohnung nur zum Zwecke der Erwerbstätigkeit verlassen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings die genannte Objektformel selbst eingeschränkt und ausgeführt: „Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muss. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden .“21 Zu beachten ist vor allem die Dauer der angeordneten Maßnahmen und die Intensität der Einschränkungen 22. Bei einer Befristung der Maßnahmen dürfte ein Eingriff in die Menschenwürde daher in der Regel zu verneinen sein. Auch die staatliche Verpflichtung, das Leben – in diesem Fall vor einer Gefährdung durch einen schweren Verlauf einer Erkrankung mit COVID-19 – zu schützen, wird aus der Menschenwürde abgeleitet, wodurch wiederum eine Abwägung erforderlich wäre.23 19 Herdegen, Matthias, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz - Kommentar, 91. Ergänzungslieferung, April 2020, GG Art. 1 Abs. 1 Rn. 73. 20 Herdegen, Matthias, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz - Kommentar, 91. Ergänzungslieferung, April 2020, GG Art. 1 Abs. 1 Rn. 36. 21 BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1970 - 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68, 2 BvR 308/69, BVerfGE 30, 1 (25 f.). 22 Vgl. im Einzelnen mit weiteren Nachweisen: Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Kontaktbeschränkungen zwecks Infektionsschutz: Grundrechte, Ausarbeitung, 8. April 2020, WD 3 – 079/20, S. 36 ff., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/690718/d37f86a0d2630831d13f70f16f63911b/WD-3-079- 20-pdf-data.pdf. 23 Kube, Hanno (Universität Heidelberg), Leben in Würde – Würde des Lebens, Verfassungsblog vom 2. April 2020, abrufbar unter: https://verfas-sungsblog.de/leben-in-wuerde-wuerde-des-lebens/. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 11 5. Vereinbarkeit mit dem Recht der Europäischen Union Da in den bisher von der Anordnung einer Arbeitsquarantäne betroffenen Bereichen – also etwa der Saisonarbeit oder in der fleischverarbeitenden Industrie – ein großer Teil der Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union stammt, soll kurz auf die Frage eingegangen werden, ob es sich bei derartigen Maßnahmen um eine – mittelbare – Diskriminierung von EU-Bürgern nach Art. 18 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) handelt. Es stellt sich zunächst die Frage, ob es sich bei der Anordnung einer Arbeitsquarantäne gegenüber der Anordnung einer häuslichen Quarantäne um eine Benachteiligung handelt, da die in häuslicher Quarantäne verbleibenden Personen eine Entschädigung nach § 56 IfSG anstelle ihres Arbeitslohns erhalten, ohne zur Erbringung einer Arbeitsleistung verpflichtet zu sein. Zu beachten ist, dass es sich bei § 56 IfSG lediglich um eine Billigkeitsregelung handelt, da Störer, gegenüber denen rechtmäßige Maßnahmen getroffen werden, diese normalerweise entschädigungslos hinnehmen müssen. Es handelt sich somit nicht um eine Art Schadensersatz, sondern nur um den Schutz des Betroffenen vor materieller Not, verursacht durch die angeordneten Maßnahmen .24 Grundsätzlich bleiben Arbeitnehmer auch in der Quarantäne verpflichtet, soweit wie möglich die geschuldete Arbeitsleistung zu erbringen, sofern sie nicht tatsächlich erkrankt sind.25 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verboten sind „alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale (als dem der Staatsangehörigkeit) tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen“.26 Eine mittelbare Diskriminierung liegt nach dem EuGH bereits dann vor, wenn sich eine Vorschrift „(…) ihrem Wesen nach eher auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten als auf Inländer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie die Erstgenannten besonders benachteiligt“.27 In der Anordnung einer Arbeitsquarantäne könnte daher nur dann eine Benachteiligung zu sehen sein, wenn es sich um eine verdeckte Diskriminierung handeln würde. Eine offene Diskriminierung liegt schon deshalb nicht vor, weil die Staatsangehörigkeit kein Kriterium dafür ist, Adressat der Maßnahme zu werden.28 24 So bereits Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Entschädigungsansprüche infolge der Corona-bedingt angeordneten behördlichen Maßnahmen gegen Einzelne, Sachstand, 23. Juni 2020, WD 9 – 050/20, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/710526/bec12bc58bb95ba3f67eaa3aad974ab1/WD-9-050-20- pdf-data.pdf. 25 So jedenfalls Groll, Peter, Das Coronavirus und das deutsche Arbeitsrecht: Arbeitsrechtliche Rechte und Pflichten bei Quarantäne, Groll, AnwZert ArbR 5/2020, Anm. 2, abrufbar unter: https://www.juris.de/jportal/nav/juris _2015/aktuelles/magazin/coronavirus-quarantaene-arbeitsrecht.jsp. 26 Vgl. Rossi, Matthias, in: Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 27. Edition, 1. Juli 2020, AEUV Art. 18, Rn. 28a, mit weiteren Nachweisen. 27 Vgl. Rossi, Matthias, in: Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 27. Edition, 1. Juli 2020, AEUV Art. 18, Rn. 28a, mit weiteren Nachweisen. 28 Epiney, Astrid, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 5. Auflage 2016, AEUV Art. 18, Rn. 12, mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 106/20 Seite 12 Eine verdeckte oder materielle Diskriminierung liegt vor, wenn eine Vorschrift Kriterien aufstellt, die üblicherweise nur oder zum weitaus größten Teil von bestimmten Staatsangehörigen erfüllt werden.29 Im vorliegenden Fall liegt es allerdings nicht im Wesen der Arbeitsquarantäne als solcher , dass häufig Staatsangehörige eines EU-Mitgliedsstaates betroffen sind. Unterscheidungskriterium zu Betrieben, in denen eine Schließung angeordnet wird oder bei denen auf Maßnahmen verzichtet wird, ist das Auftreten erhöhter Infektionszahlen bzw. die Systemrelevanz des Betriebs . Dass im Einzelfall eine hohe Zahl von Mitarbeitern anderer Staatsangehörigkeit im Betrieb tätig sind, ist zudem nicht in jedem Fall gegeben, in dem die Anordnung einer Arbeitsquarantäne in Betracht kommt. Selbst wenn eine mittelbare Diskriminierung angenommen würde, könnte diese jedoch nach der Rechtsprechung des EuGH gerechtfertigt sein. Als Rechtfertigungsgründe kommen alle öffentlichen Interessen in Betracht, wobei – ähnlich wie bei den Grundfreiheiten – wirtschaftliche Gründe jedoch nicht herangezogen werden können.30 Vor dem Hintergrund, dass die Maßnahme dem Gesundheitsschutz dient, dürfte diese auch bei einer angenommenen Benachteiligung mit dem Unionsrecht vereinbar sein. Auch die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln oder – wie vom RKI vorgeschlagen – die Versorgung pflegebedürftiger Personen dürften taugliche Rechtfertigungsgründe darstellen, wobei auch hier die Verhältnismäßigkeit beachtet werden muss. 6. Fazit Die Anordnung einer Arbeitsquarantäne durch die zuständige Behörde kann dem Grunde nach auf §§ 28 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG gestützt werden. Es ist dabei zu beachten, dass bei den betroffenen Arbeitnehmern ein Ansteckungsverdacht, also die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung, vorliegen muss, was durch die zuständige Behörde zu ermitteln ist, bevor eine entsprechende Anordnung erlassen wird. Zudem kann eine rechtmäßige Anordnung einer Arbeitsquarantäne nur dann erfolgen, wenn sie verhältnismäßig ist. Hierzu müssen der Gesundheitsschutz der Bevölkerung und die durch eine Betriebsstillegung betroffenen Gemeinwohlinteressen gegenüber den Freiheitsrechten der betroffenen Arbeitnehmer überwiegen, was allein durch eine Abwägung im Einzelfall festgestellt werden kann. *** 29 Vgl. Rossi, Matthias, in: Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 27. Edition, 1. Juli 2020, AEUV Art. 18, Rn. 28, mit weiteren Nachweisen. 30 Epiney, Astrid, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 5. Auflage 2016, AEUV Art. 18, Rn. 38, mit weiteren Nachweisen.