© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 104/20 Sanktionierung von Corona-Verstößen Rechtliche Grundlagen und Durchsetzung der Maßnahmen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsi chtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 2 Sanktionierung von Corona-Verstößen Rechtliche Grundlagen und Durchsetzung der Maßnahmen Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 104/20 Abschluss der Arbeit: 12. November 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Rechtsgrundlagen 4 3. Hinweise auf die Anzahl von Verstößen und Ahndungen in den Bundesländern 6 4. Aktuelle Debatte zur Ahndung von Verstößen 7 4.1. Zur Verhältnismäßigkeit einer Ahndung von Verstößen 7 4.2. Praktische Umsetzungsprobleme der Sanktionen 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Im Rahmen der sog. zweiten Corona-Welle haben die Bundesländer ihre bisherigen Maßnahmen noch einmal verschärft. Gleiches gilt für die Ahndung von Verstößen gegen diese Maßnahmen. Dazu haben die einzelnen Bundesländer Bußgeldkataloge erstellt, die teils erhebliche Sanktionen vorsehen. Von vielen Seiten wird aktuell gefordert, die Einhaltung der Corona-Auflagen, insbesondere bei Versammlungen, stärker zu kontrollieren, frühzeitig zu unterbinden und dafür insbesondere mehr Polizeikräfte einzusetzen. Verstärkt wurden diese Forderungen nicht zuletzt durch Demonstrationen1 – wie jüngst in Leipzig –, bei denen die Corona-Auflagen vielfach missachtet und die Sicherheitsbehörden mit Gewalt an deren Durchsetzung gehindert wurden.2 Neben stärkeren Kontrollen und einer härteren Durchsetzung der Maßnahmen wird zunehmend auch eine tatsächliche Ahndung der festgestellten Verstöße im Wege von Bußgeld- oder Strafverfahren für notwendig erachtet.3 Die Frage einer stärkeren Ahndung solcher Verstöße wirft allerdings eine Reihe rechtlicher Fragen auf. Problematisch ist darüber hinaus ihre Umsetzung, insbesondere im Hinblick auf personelle Engpässe bei den Behörden. Schließlich ist im Einzelfall zu klären, ob eine Ahndung durch Bußgelder oder Strafen verhältnismäßig ist. 2. Rechtsgrundlagen Rechtsgrundlage für alle staatlichen Maßnahmen, mit denen die Ausbreitung des Virus gestoppt werden soll, ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG)4. Die Bestimmungen der §§ 73 bis 76 IfSG sehen Bußgeld- und Strafvorschriften vor, anhand derer die Bundesländer ihren jeweiligen Corona-Bußgeldkatalog erstellen. Die Bundesländer haben in ihren auf der Grundlage von §§ 32 und 28 IfSG erlassenen Rechtsverordnungen zur Durchsetzung von Verboten und Auflagen Regelungen getroffen, die im Einzelnen definieren, welche Verhaltensweisen als Ordnungswidrigkeit im Sinne von § 73 IfSG anzusehen sind und die eine Geldbuße bis zu 25.000 € zulassen. Die jeweils anzusetzenden Geldbußen werden in den Bußgeldkatalogen der Länder einzeln benannt. Zu Beginn der Pandemie hatten einige Bundesländer – so Brandenburg, Bremen, Sachsen, Sachsen -Anhalt und das Saarland – bis Ende August 2020 bei Verstößen gegen die Maskenpflicht 1 https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-kritik-aus-ganz-deutschland-berliner-politik-will-mehr-polizei-undhaertere -auflagen-bei-corona-protesten/26060846.html; https://www.spiegel.de/panorama/justiz/sachsen-verschaerft -regeln-fuer-versammlungen-a-923e942a-b85d-4e7f-b96e-1482ed87f4a9. 2 https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-kritik-aus-ganz-deutschland-berliner-politik-will-mehr-polizei-undhaertere -auflagen-bei-corona-protesten/26060846.html. 3 u. a. die Gewerkschaft der Polizei (GdP), vgl. https://www.gdp.de/gdp/gdpber.nsf/id/DE_Arbeit-fuer-den-Papierkorb -Was-passiert-mit-den-Corona-Ordnungswidrigkeit?open; Markus Söder als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz , vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/panorama/sachsen-corona-verstoesse-bussgeldsechsstelliger -bereich100.html; auch die CDU, https://www.welt.de/regionales/berlin/article217320784/CDUfordert -konsequentere-Durchsetzung-der-Corona-Regeln.html; https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole /polizisten-fuerchten-dass-tausende-verfahren-im-muelleimer-landen-li.84165. 4 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 5 keine bußgeldbewährten Sanktionen vorgesehen.5 Inzwischen haben jedoch alle Bundesländer Bußgeldkataloge erstellt, die die Grundlage für eine entsprechende Ahnung darstellen. Allerdings bestehen Zweifel an der Wirksamkeit dieser Bußgeldkataloge: Wenn sie keine Anlagen zu den Corona-Verordnungen seien, sondern ministerielle Erlasse, seien sie mangels formellen Rechtsnormcharakters für die Gerichte nicht verbindlich.6 Die Bestimmungen der §§ 74 und 75 IfSG enthalten für schwerwiegende Verstöße, etwa die vorsätzliche Verbreitung von Krankheiten, gesonderte Straftatbestände, zusätzlich zu den allgemeinen Straftatbeständen des Strafgesetzbuches. Die gesetzlichen Regelungen im IfSG ermächtigen die „zuständigen Behörden“, entsprechende Maßnahmen, Regelungen und Anordnungen zu bestimmen und durchzusetzen. Welche Behörde konkret zuständig ist, richtet sich dabei nach den landesrechtlichen Vorschriften. Originär zuständig sind in der Regel die kommunalen Ordnungsbehörden in den Ländern, d. h. die Gesundheits- und Ordnungsämter. Die Ordnungsbehörden können im Wege der Amtshilfe durch die Polizeibehörden unterstützt werden.7 Teilweise ergibt sich aus den nach dem IfSG und den auf dessen Grundlage ergangenen Allgemeinverfügungen und Verordnungen auch eine originäre Zuständigkeit der Ortspolizeibehörden für entsprechende Kontrollmaßnahmen.8 Die Bundespolizei als Sicherheitsbehörde des Bundes kann bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Einzelfall zur Abwehr dieser Gefahr die erforderlichen Maßnahmen treffen (Eilzuständigkeit). Sie wird darüber hinaus insbesondere tätig auf Bahnhöfen und Flughäfen sowie zum Schutz von Objekten des Bundes und im Bereich des Grenzschutzes.9 Zudem unterstützt sie, im Rahmen der Amtshilfe, die Polizeibehörden der Länder auf deren Aufforderung, insbesondere bei Großeinsätzen10 oder groß angelegten Kontrollen11. Bußgelder verhängt die Bundespolizei hingegen nicht.12 Auch eine personelle Verstärkung der 5 Siehe: Höhere Strafen für Maskenverweigerer, in: Der Tagesspiegel vom 5. August 2020, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/maskenpflicht-bussgeld-103.html. 6 Müller/Rebler, DVBl 2020, 785, 787. 7 Siehe hierzu die Erläuterungen zur Praxis in Bayern und Sachsen, Müller/Rebler, Die Polizei 2020, S. 245-252 (245). 8 Bspw. im Saarland, vgl. https://www.landtag-saar.de/Downloadfile.ashx?FileId=13177&File- Name=Aw16_1380.pdf auf Seite 2 und in Baden-Württemberg, § 1 Abs. 6 der Verordnung des Sozialministeriums über Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz . 9 https://www.bundespolizei.de/Web/DE/03Unsere-Aufgaben/unsere-aufgaben_node.html. 10 Vgl. Antwort des Parl. Staatssekretärs Stephan Mayer vom 30. Oktober 2020, Drucksache 19/23819, S. 17; ebenso Antwort vom 11. September 2020, Drucksache 19/22675, S. 22. 11 Beispielsweise in Worms beim landesweiten Kontrolltag in Rheinland-Pfalz vom 24. Oktober 2020, https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/masken-kontrolltag-100.html. 12 Siehe Antwort des Parl. Staatssekretärs Volkmar Vogel vom 6. Mai 2020, Plenarprotokoll 19/157, S. 19525. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 6 kommunalen Ordnungs- und Gesundheitsämter durch Polizeivollzugskräfte der Bundespolizei ist bislang nicht vorgesehen.13 Ebenso leistet auch die Bundeswehr Amtshilfe und unterstützt die Behörden des Bundes und der Länder.14 3. Hinweise auf die Anzahl von Verstößen und Ahndungen in den Bundesländern Eine einheitliche Übersicht zur Zahl der Verstöße und deren ordnungsrechtlicher bzw. strafrechtlicher Verfolgung existiert nicht, weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Aufschluss über die Situation geben eine Reihe von Antworten der Landesregierungen auf Kleine Anfragen in den Landtagen.15 Diese geben allerdings nur Anhaltspunkte – sie erfassen zum Teil zurückliegende Zeiträume der sog. ersten Welle, zum Teil beziehen sie sich nur auf bestimmte Arten von Verstößen (bspw. das Maskentragen im öffentlichen Personennahverkehr in Berlin, Widersetzung gegen Quarantäneauflagen in Hessen). In einigen Bundesländern wird in den Antworten nur die Zahl der geahndeten Verstöße mitgeteilt, andere differenzieren nach Verstößen und Ahndungen und sind damit deutlich aussagekräftiger. Dies ist etwa in Bayern der Fall. Dort sind laut Antwort des Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege vom 11. Juli 2020 in der Zeit bis zum 18. Mai 2020 mindestens 34.445 Ordnungswidrigkeiten durch Verstöße gegen die jeweils geltende Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung festgestellt worden. Von diesen Verstößen seien 16.006 Verstöße durch ein Bußgeld geahndet worden. In Berlin teilte der Senat am 21. Juli 2020 mit, dass in einigen Bezirken überhaupt keine Verstöße mit Bußgeldern geahndet wurden, wohingegen andere Bezirke teils dreistellige Zahlen bei den Bußgeldbescheiden erreichten. In Nordrhein-Westfalen gab die Landesregierung in ihrer Antwort vom 22. Mai 2020 an, dass von 160 Strafverfahren und 24.421 Ordnungswidrigkeiten insgesamt 9.968 Fälle geahndet worden seien. 13 Siehe Antwort des Staatssekretärs Hans-Georg Engelke vom 23. Oktober 2020, Drucksache 19/23819, S. 10. 14 Übersicht aller Amtshilfeverfahren (Stand 11. November 2020) unter: https://www.bundeswehr.de/de/organisation /streitkraeftebasis/im-einsatz/der-inspekteur-der-streitkraeftebasis-informiert. 15 Hessen (19. August 20): http://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/7/02947.pdf; M-V (DPA-Umfrage vom 7. Oktober 2020): https://www.landtag-mv.de/dpa-ticker?tx_w3dpa_dpa%5Baction%5D=detail &tx_w3dpa_dpa%5Bcontroler %5D=Dpa&tx_w3dpa_dpa%5Buid%5D=22162&cHash=2dd919e91f5e18d8d3129536b6c69452; Nds. (22. Juni 2020): https://www.landtag-niedersachsen.de/Drucksachen/Drucksachen_18_07500/06501-07000/18- 06802.pdf; Rheinl.-Pfalz (30. Juni 2020): https://dokumente.landtag.rlp.de/landtag/drucksachen/12564-17.pdf; Saarland (8. Juli 2020): https://www.landtag-saar.de/Downloadfile.ashx?FileId=13177&File- Name=Aw16_1380.pdf; Sachsen (21. September 2020): http://edas.landtag.sachsen.de/viewer .aspx?dok_nr=3647&dok_art=Drs&leg_per=7&pos_dok=1&dok_id=undefined . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 7 Diese Zahlen bestärken den in manchen Medien vermittelten Eindruck,16 dass bei weitem nicht alle festgestellten Verstöße gegen Corona-Maßnahmen auch entsprechend geahndet werden. Über die Gründe geben die Schriftlichen Antworten der Landesregierungen keine Auskunft. Unter anderem dürften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bußgeldkataloge dazu geführt haben, dass die Ordnungsbehörden Bußgeldbescheide nur sehr zurückhaltend erlassen hätten.17 Hinzu kommt eine Vielzahl von Fällen, in denen die Bürger bei einem festgestellten Verstoß zunächst nur ermahnt wurden.18 4. Aktuelle Debatte zur Ahndung von Verstößen 4.1. Zur Verhältnismäßigkeit einer Ahndung von Verstößen Vor allem zu Beginn der Pandemie wurde teilweise auf die Verfolgung von Verstößen verzichtet, weil man davon ausging, dass die bloßen Verbote ausreichen könnten, um das Verständnis der Bevölkerung für die Einhaltung der Auflagen zu schärfen. Wenn nun die Ordnungsbehörden Verstöße gegen Corona-Auflagen zunehmend mit Bußgeldern bewehren, stellt sich zum einen die Frage, ob nicht möglicherweise eine Verwarnung als milderes Mittel ausreichen würde, um den weiteren Verstoß zu verhindern, zum anderen, ob die Höhe des jeweiligen Bußgeldes – gemessen an dem Zweck, durch eine wirksame Abschreckung der Bürger einen möglichst effektiven Beitrag zum Infektionsschutz zu leisten – verhältnismäßig ist. Zweifel an der Verhältnismäßigkeit dürften sich insofern stellen, als nicht ausreichend zwischen vorsätzlichen Verstößen und Verstößen, die aus Vergesslichkeit oder Unkenntnis über die undurchsichtige Rechtslage resultieren, differenziert wird. Zu berücksichtigen ist zudem, ob das Verhalten des Betroffenen nach den besonderen Umständen des Einzelfalles ahndungswürdig ist.19 Dabei gilt im gesamten Sicherheits- und Ordnungsrecht – als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips – der Grundsatz „Gefahrenabwehr geht vor Repression“. Die Polizei und Sicherheitsbehörden müssen danach aus Gründen der Verhältnismäßigkeit und Effizienz auch bei möglichen Ordnungswidrigkeiten gegen die Corona-Schutzverordnungen der Bundesländer zuerst gefahrenabwehrend denken und handeln, ehe sie zu repressiven Maßnahmen greifen.20 Zudem gilt der Opportunitätsgrundsatz. Danach besteht keine strikte Verpflichtung zum Einschreiten, sondern nur die Pflicht zur ermessenfehlerfreien Entscheidung über das Ob und Wie des Einschreitens . Für das Recht der Verkehrsordnungswidrigkeiten entschied der BGH in einem Fall mit grundsätzlicher Bedeutung für das Ordnungswidrigkeitenverfahren, dass bei einer sinnvollen Handhabung des Opportunitätsgrundsatzes bereits an Ort und Stelle von einer Verfolgung der 16 https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-ordnungsaemter-kommen-nicht-hinterher-tausende-corona-verstoesse -aber-kaum-einer-muss-bussgeld-zahlen/25954676.html. 17 https://www.tagesspiegel.de/berlin/nach-beschluss-des-verfassungsgericht-sind-alle-corona-bussgelder-in-berlin -ungueltig/25870286.html. 18 Vgl. Fromm, Verwaltungsrundschau 2020, 186, 188. 19 Vgl. Fromm, Verwaltungsrundschau 2020, 186, 189. 20 Müller/Rebler, Die Polizei 2020, S. 246. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 8 Ordnungswidrigkeit hätte abgesehen werden können.21 Dieser Grundsatz gelte, so wird in der Literatur vertreten, uneingeschränkt auch für die Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nach den Corona-Schutzverordnungen und den darauf ruhenden Bußgeldkatalogen.22 Demnach besteht in allen Bundesländern für die Verfolgungsbehörden auch weiterhin das Entschließungsermessen , d. h. die Entscheidung über das „Ob“ des Einleitens eines Bußgeldverfahrens bleibt den Beamten auch bei Verstößen gegen die Ge- und Verbote der Corona-Schutzverordnungen erhalten. Bayern verzichtete in der früheren Fassung des Bußgeldkatalogs vom 8. Mai 2020 jedoch auf die Möglichkeit, eine festgestellte Ordnungswidrigkeit vor Ort effizient und mittels qualifizierter Belehrung erledigen zu können.23 In der aktuellen Fassung des Bußgeldkatalogs vom 2. November 2020 ist mittlerweile die Erhebung eines Verwarngeldes eröffnet. Anderorts wurde bereits zu Beginn der Pandemie deutlich kommuniziert, dass keine Belehrungen und Warnungen mehr ausgesprochen würden.24 In Hessen werden laut Auskunft des Innenministeriums Verstöße gegen das Tragen von Mund-Nasen-Schutz im ÖPNV immer geahndet, ohne Verzicht auf ein Bußgeld.25 Auch in Nordrhein-Westfalen wurde bereits seit Beginn der Pandemie im März 2020 ein eher strikter Sanktionskurs verfolgt.26 Dies wird teils kritisch gesehen;27 gefordert werden mehr präventive und weniger repressive Maßnahmen. In akuten Gefahrenlagen, so wird argumentiert, sei die präventiv-polizeiliche Tätigkeit vorrangig. Deren Durchsetzung werde nicht durch eine erneute Androhung von Sanktionen gewährleistet.28 Nach Ansicht des Soziologen Kühlem sind in erster Linie nicht Verbote, sondern Solidarität gefragt. Anstelle von Verboten und Sanktionen sollte durch differenziertere Maßnahmen die Eigenverantwortung jedes Einzelnen und damit auch das Vertrauen in die Politik gestärkt werden.29 21 BGH, Urteil vom 24. Februar 1994 III ZR 76/92, Rn. 14. 22 Müller/Rebler, Die Polizei 2020, S. 249. 23 Müller/Rebler, DVBl 2020, 785, 791; Ziff. 4.3 des Bußgeldkatalogs vom 8. Mai 2020 unter: https://www.verkuendung -bayern.de/baymbl/2020-252/; aktuelle Fassung vom 2. November 2020 unter: https://www.verkuendungbayern .de/baymbl/2020-617/. 24 Bspw. Stadt Kehl (Baden-Württemberg) https://www.bo.de/lokales/kehl/corona-stadt-kehl-greift-durch. 25 https://www.welt.de/regionales/hessen/article218050678/Tausende-Verstoesse-gegen-Corona-Regeln-Teilshohe -Bussgelder.html. 26 Vgl. Aussagen des Ministerpräsidenten Armin Laschet und des Innenministers Herbert Reul, https://www.land.nrw/de/pressemitteilung/straf-und-bussgeldkatalog-zur-umsetzung-des-kontaktverbots-erlassen . 27 Vgl. Müller/Rebler, Die Polizei 2020, S. 249. 28 Lorenz/Oğlakcıoğlu, KriPoZ 2020, 108. 29 https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kritik-am-lockdown-wir-brauchen-solidaritaet-nicht-verbote -corona-schutzmassnahmen-lockdown-light-kritik-ohne-kultur-wirds-still-li.117901. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 9 Dagegen hat der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin in seinem Beschluss vom 20. Mai 202030 festgestellt, dass ein Außervollzugsetzen der Corona-Verordnungen eine nicht unerhebliche Folge für die Bevölkerung hätte. Danach würden viele Menschen voraussichtlich auf Mund-Nasen-Bedeckungen und auf den Mindestabstand verzichten und dadurch Übertragungswege des Coronavirus wieder öffnen. Eine ähnliche Gefahr könnte mit großer Wahrscheinlichkeit auch im Falle von Ge- oder Verboten ohne Sanktionierung eintreten. 4.2. Praktische Umsetzungsprobleme der Sanktionen In den letzten Wochen wurde in den Medien immer wieder thematisiert, dass die Ahndung von Verstößen gegen Corona-Auflagen nicht flächendeckend erfolgen könne, weil die personellen Ressourcen erschöpft seien. Dies gilt ganz offensichtlich für die Gesundheitsämter, aber auch für die übrigen Ordnungsbehörden. Auch unter den Polizeibeamten gibt es, so wird berichtet, einen hohen Anteil an Mitarbeitern in Quarantäne und damit Personalmangel vor Ort.31 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die Verschärfung der gesundheitlichen Lage und die Entwicklung der einschränkenden Maßnahmen eine gewisse Spaltung der Bevölkerung zur Folge hat - zwischen Maßnahmenbefürwortern und Maßnahmenkritikern. Zwar sprachen sich noch im August 2020 rund 58 Prozent der Bevölkerung für die bestehenden Maßnahmen aus.32 Diese Akzeptanz scheint nun aber zu schwinden. In den Medien wird vermehrt von aggressivem Verhalten und Angriffen gegenüber den Sicherheitsbehörden berichtet.33 Je niedriger die Akzeptanz der Bevölkerung , desto höher werden die Anforderungen für diejenigen sein, die die Maßnahmen durchsetzen müssen. Es ist davon auszugehen, dass sich die Situation der ohnehin schon überlasteten Behörden bei weiterhin schwindender Akzeptanz verschärfen wird. Einige Bundesländer haben in den vergangenen Wochen weitere Maßnahmen ergriffen, die ganz offensichtlich darauf abzielen, die Aufmerksamkeit und das Verständnis der Bevölkerung zu erhöhen , das Aufkommen von Verstößen zu senken und die Arbeit der Ordnungsbehörden besser zu unterstützen. Dazu gehören unter anderem sog. Kontrolltage in Rheinland-Pfalz, die auf eine Sensibilisierung der Bevölkerung für Sinn und Bedeutung von Mund-Nasen-Masken als Schutz vor COVID-19 abzielen. Vor dem Hintergrund der Lageentwicklung würden Verstöße zudem konsequent sanktioniert.34 30 Beschluss des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin vom 20. Mai 2020, VerfGH 81 A/20. 31 https://rp-online.de/nrw/panorama/corona-in-nrw-hunderte-nrw-polizisten-in-quarantaene_aid-54334085; https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/bundespolizei-chef-ruft-zum-corona-schutz-auf-wenn-wirausfallen -geht-das-licht-aus,SEK4v7b. 32 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/umfrage-zu-massnahmen-1775544. 33 https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/507032/Corona-Regeln-Die-Stimmung-in-Deutschland-wird-aggressiver . 34 https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/landesweiter-masken-kontrolltag-corona-100.html; https://www.rheinpfalz.de/lokal/pfalz-ticker_artikel,-landesweiter-kontrolltag-am-samstag-_arid,5125633.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 104/20 Seite 10 In Essen wurde ein Online-Meldeportal35 eingeführt, mit dem Bürger anonym Verstöße gegen Corona-Regeln melden können. Derartige Maßnahmen werden in der Öffentlichkeit zum Teil als grundrechtseinschränkende Eingriffe kritisiert. Bundestagsvizepräsident Kubicki bezeichnete das Formular als „Denunziationsportal“, das mit Sicherheit rechtswidrig sei. Von der Möglichkeit, auf den Personalmangel in den Sicherheitsbehörden durch eine stärkere Einbeziehung der Bürger zu reagieren, distanzierte sich Bayerns Ministerpräsident Söder ausdrücklich .36 Der Gemeindetag Baden-Württemberg forderte hingegen kürzlich, private Sicherheitsdienste zur Kontrolle und Durchsetzung der Corona-Regeln einzusetzen.37 Der Bundeskanzlerin sei dazu seitens der kommunalen Spitzenverbände ein „Pakt für kommunale Ordnungsdienste “ unterbreitet worden. Um dem Personalmangel wirksam entgegenzuwirken und die Gesundheitsämter personell aufzustocken , haben die Gesundheitsminister von Bund und Länder sich auf den sog. „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ geeinigt, welcher von der Bundeskanzlerin und den Regierungschefinnen und -chefs der Länder am 29. September 2020 beschlossen wurde. Die Umsetzung soll im nächsten Jahr beginnen. Neben dem akuten Personalmangel dürfte auch eine gewisse Rechtsunsicherheit bei den Behörden die Durchsetzung der Sanktionen erschweren. Diese resultiert aus der komplexen und schwer überschaubaren Systematik der einzelnen Verordnungen, Allgemeinverfügungen und Normen. Zudem haben die Erfahrungen der letzten Monate gezeigt, dass die Regelungen jeweils nur für kurze Zeiträume gelten. Schließlich dürften auch die verfassungsrechtlichen Zweifel an den Verordnungen deren Anwendung erschweren.38 Dies gilt ganz besonders für Kontaktbeschränkungen im häuslichen Bereich; hier würde eine Ahndung von Verstößen voraussetzen, dass die Polizeibehörden regelmäßig die privaten Haushalte überprüfen. *** 35 https://www.essen.de/formular/ordnungsamt/coronaschutzverordnung__melden_eines_verstosses .de.html?fbclid=IwAR0LPX_g1dWDyQ0Xuy13ftAD_q62pp9SXtDhfRyq_eR4ir62ECNJucR0mt8; derzeit nicht abrufbar. 36 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/bayern/soeder-denunziation-nachbarn-corona-fake-news-1.5099244; https://www.welt.de/regionales/bayern/article218994220/Soeder-Kein-Aufruf-Verstoesse-gegen-Corona-Auflagen -zu-melden.html. 37 https://www.welt.de/regionales/baden-wuerttemberg/article217537540/Gemeindetag-fordert-Sicherheitsdienste -fuer-Corona-Kontrollen.html. 38 Ausführlich Lorenz/Oğlakcıoğlu, KriPoZ 2020, 108.