© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 093/19 Zum Schutz des Ungeborenen bei einer Drogen- oder Alkoholsucht der Schwangeren Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 2 Zum Schutz des Ungeborenen bei einer Drogen- oder Alkoholsucht der Schwangeren Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 093/19 Abschluss der Arbeit: 28. Januar 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Verfassungsrechtliche Aspekte 5 3. Strafrechtliche Aspekte 6 3.1. Strafbarkeit des Drogen- bzw. Alkoholkonsums 6 3.2. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach dem Strafgesetzbuch 8 4. Zivilrechtliche Aspekte 9 4.1. Nichtanwendung des § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch auf den Nasciturus 9 4.2. Direkte oder analoge Anwendung von § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch auf den Nasciturus 10 4.3. Mögliche Maßnahmen bei Gefährdung des Nasciturus 12 5. Weitere kinderschutzrechtliche Aspekte 13 5.1. UN-Kinderrechtskonvention und Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung 13 5.2. Information und Beratungsangebote 14 5.3. Frühe Hilfen und Übermittlungsbefugnis 16 6. Ausblick 17 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 4 1. Einleitung Schwangere, die regelmäßig Drogen, insbesondere Alkohol, konsumieren, gefährden damit die Entwicklung des ungeborenen Lebens, des Nasciturus. Der Konsum kann zu lebenslangen körperlichen und geistigen Schädigungen sowie zu Verhaltensauffälligkeiten des später geborenen Kindes führen.1 Formen der durch Alkoholkonsum hervorgerufenen vorgeburtlichen Schädigungen werden unter dem Begriff Fetale Alkoholspektrums-Störungen (Fetal Alcohol Spectrum Disorder, kurz FASD) zusammengefasst. Nach Pschyrembel Online sind bezeichnend für FASD Wachstumsauffälligkeiten , Fehlbildungen, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen, Intelligenzminderungen sowie partielle und globale Alltagseinschränkungen. Das Vollbild der FASD wird als fetales Alkoholsyndrom (FAS) bezeichnet, stellt die schwersten Formen der Schädigung dar und ist eine der häufigsten angeborenen Erkrankungen.2 Nach einer im Dezember 2015 bis Ende Januar 2016 durchgeführten Pilotstudie wird die Prävalenz von FAS in Deutschland auf 41 Fälle pro 10.000 Geburten geschätzt.3 Die medizinische Leitlinie Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen, FASD der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) führt eine große Bandbreite der Prävalenzen von FAS in Europa auf, etwa von 0,2 bis 8,2 pro 1.000 Geburten.4 Der vorliegende Sachstand beschäftigt sich auftragsgemäß mit den bestehenden Möglichkeiten des Staates, das ungeborene Leben vor den Auswirkungen von Alkohol-und Drogenkonsum (suchterkrankter) Schwangerer zu schützen. Diese Thematik wird zunächst aus verfassungsrechtlicher Sicht beleuchtet, um im Anschluss die strafrechtlichen, zivilrechtlichen und weitere kinderschutzrechtliche Rahmenbedingungen darzustellen. 1 Zu den Folgen des Konsums von Cannabis und Kokain ausführlicher: Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Drogen- und Suchtbericht, Juli 2019, S. 88 und 103, abrufbar unter: https://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin /dateien-dba/Drogenbeauftragte/4_Presse/1_Pressemitteilungen/2019/2019_IV.Q/DSB_2019_mj_barr.pdf (dieser sowie alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 28. Januar 2020). 2 Landgraf, Mirjam/Heinen, Florian, S3-Leitlinie, Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen FASD, Kurzfassung , Stand: 1. Februar 2016, gültig bis 31. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.awmf.org/uploads /tx_szleitlinien/022-025k_S3_Fetale_Alkoholspektrumstoerung_Diagnostik_FASD_2016-06.pdf. 3 Kraus, Ludwig/Rehm, Jürgen, IFT Institut für Therapieforschung, Belastung Dritter durch alkoholbedingte Schäden , Abschlussbericht, S. 3 und 19, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service /publikationen/drogen-und-sucht/details.html?bmg[pubid]=3058. 4 Vgl. hierzu Landgraf, Mirjam/Heinen, Florian, S3-Leitlinie, Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen FASD, Kurzfassung, Stand: 1. Februar 2016, gültig bis 31. Januar 2021, z. B. S. 17, abrufbar unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-025k_S3_Fetale_Alkoholspektrumstoerung_Diagnostik _FASD_2016-06.pdf. Die große Bandbreite dieser Prävalenzen lasse sich auf verschiedene Faktoren zurückführen , wie etwa die große Heterogenität in Studiendesign, Auswahl und verwendeten Definitionen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 5 2. Verfassungsrechtliche Aspekte Die Problematik des Drogenkonsums während der Schwangerschaft bewegt sich im Spannungsfeld kollidierender Verfassungsgüter der Schwangeren und des Nasciturus.5 Will das Jugendamt als zuständige Behörde Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens treffen, so tritt es als staatlicher Hoheitsträger auf, der gemäß Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)6 als vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz, insbesondere die Grundrechte, gebunden ist. Zunächst kann sich die Schwangere auf ihr Allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Artikel 2 Absatz 1 GG in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG sowie auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Artikel 2 Absatz 2 GG berufen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), stehe dem nicht entgegen, dass die Anordnung einer Therapie gerade die Wiederherstellung der Gesundheit, nämlich die Behandlung einer Suchterkrankung, zum Ziel hat. Denn es sei grundsätzlich die „Sache des Einzelnen, darüber zu entscheiden, ob er sich therapeutischen oder sonstigen Maßnahmen unterziehen will, auch wenn sie der Erhaltung oder Verbesserung seiner Gesundheit dienen.“7 Darüber hinaus dürfe auch nicht schon deshalb auf die Unfähigkeit zu freier Selbstbestimmung geschlossen werden, weil die Betroffene eine aus ärztlicher Sicht erforderliche Behandlung, deren Risiken nach vorherrschendem Empfinden im Hinblick auf den erwartbaren Nutzen hinzunehmen ist, ablehnt.8 Vielmehr schließe die grundrechtlich geschützte Freiheit auch die „‘Freiheit zur Krankheit‘ und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn diese nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sind“.9 Gleichzeitig kann sich das Ungeborene auf seine eigenen Grundrechte berufen. Wie das BVerfG entschieden hat, kommt auch dem ungeborenen Leben verfassungsrechtlich bereits der Schutz der Menschenwürde aus Artikel 1 GG zu.10 Demnach erstrecke sich der staatliche Schutzauftrag, 5 Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: Zeitschrift Medizinrecht (MedR), 2019, S. 369 (369). 6 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15. November 2019 (BGBl. I S. 1546) geändert worden ist. 7 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, BVerfGE 142, 313-353, Rn. 74. 8 „Die Freiheitsgrundrechte schließen das Recht ein, von der Freiheit einen Gebrauch zu machen, der in den Augen Dritter den wohlverstandenen Interessen des Grundrechtsträgers zuwider läuft“; die Schutzpflicht des Staates eröffne gerade keine „Vernunfthoheit“ staatlicher Organe über den Grundrechtsträger“, BVerfG, Beschluss vom 26.7.2016 – 1 BvL 8/15: Keine Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute in NJW 2017, 53 (74). 9 BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 – 1 BvL 8/15 –, BVerfGE 142, 313-353, Rn. 74; so auch Schulze-Fielitz in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Artikel 2 Absatz 2 GG, Rn. 84, der wiederum betont, dass gerade keine Pflicht des einzelnen zu gesundheitsgemäßer Lebensführung bestehe. 10 BVerfG, Urteil vom 25. Februar 1975 – 1 BvF 1/74 –, BVerfGE 39, Leitsatz. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 6 der auch auf Artikel 2 Absatz 2 (körperliche Unversehrtheit) basiere, darauf, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen“11. Es ist die Aufgabe der Gerichte wie auch des Gesetzgebers, in diesem Spannungsfeld zweier grundrechtlich geschützter Positionen im Wege der praktischen Konkordanz12 einen angemessenen Ausgleich zwischen den kollidierenden Verfassungsgütern zu schaffen. 3. Strafrechtliche Aspekte 3.1. Strafbarkeit des Drogen- bzw. Alkoholkonsums Der Drogen- bzw. Alkoholkonsum während der Schwangerschaft als solcher führt im Hinblick auf die Schädigung des ungeborenen Lebens in aller Regel zu keiner Strafbarkeit der Schwangeren . Dagegen war in einem vom Bundesministerium der Justiz erarbeiteten und 1986 veröffentlichten Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – EschG) in § 1 Absatz 3 in Verbindung mit Absatz 1 zunächst eine Strafbarkeit vorgesehen für denjenigen13, der durch Einwirkung auf einen Embryo oder Fötus eine Gesundheitsschädigung des späteren Kindes leichtfertig herbeiführt.14 Damit war die Schwangere vom Kreis der Täter mitumfasst. Dagegen waren erhebliche Bedenken geäußert und eine Pönalisierung leichtfertigen Verhaltens der Schwangeren abgelehnt worden. Die Schwangere und der Nasciturus bildeten eine besondere symbiotische Beziehung, die bei einer Strafbarkeit gefährdet sei. Ein solch allgemeiner Straftatbestand der Embryonenschädigung hätte zudem zur Folge, dass der Verlauf der Schwangerschaft kontrollierend begleitet werden müsse.15 11 BVerfG, Urteil vom 28. Mai 1993 – 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92 –, BVerfGE 88, 203 (251). 12 Das Prinzip der praktischen Konkordanz besagt, dass bei widerstreitenden Grundrechtspositionen ein Mittelweg gefunden werden soll, der allen beteiligten Grundrechten gerecht wird, ohne eines der beteiligten Grundrechte zu sehr einzuschränken. Dabei handelt es sich immer um eine konkrete Güter- und Interessenabwägung im Einzelfall unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Vgl. z. B. Lechner/Zuck in: Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 8. Auflage 2019, Einleitung Rn. 83, 84. 13 Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form gewählt. Gemeint sind immer alle Geschlechter. 14 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – EschG), 29. April 1986 in: Günther, Hans-Ludwig/Keller Rolf (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik – Strafrechtliche Schranken?, Anhang I, S. 349. Nach der Begründung zu § 1 des Diskussionsentwurfs wird als Fall grober Achtlosigkeit die Einnahme z. B. von Contergan genannt , der Nikotin- oder Alkoholgenuss dagegen wird davon abgrenzend als fahrlässiges Verhalten betrachtet. 15 Günther, Hans-Ludwig, Der Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutz von Embryonen in: Goltdammer`s Archiv für Strafrecht, Oktober 1987, S. 433 (446). Zur Konsequenz einer Strafbarkeit führt Günther aus: „Bei jedem Tun oder Unterlassen, zu jeder Zeit, an jedem Ort schwebte über der Schwangeren das Damoklesschwert der Strafbarkeit. […] Auf eine Pönalisierung leichtfertigen Verhaltens der Schwangeren sollte § 1 DE deshalb verzichten.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 7 Nach der aktuellen Gesetzeslage scheitern Tötungsdelikte wie Mord und Totschlag (§§ 211, 212 Strafgesetzbuch, StGB)16 scheitern bereits am objektiven Tatbestand, der einen Menschen als Tatsubjekt voraussetzt.17 Selbiges gilt für Körperverletzungsdelikte nach den §§ 223 ff. StGB, die eine andere Person voraussetzen, sowie für die Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 StGB, wo Tatopfer nur Personen unter 18 Jahren sein können. Eine entsprechende Erweiterung des Wortlauts der Norm auf den Nasciturus widerspräche dem Analogieverbot und verstieße daher gegen Artikel 103 Absatz 2 GG. Zudem dürfte es in den allermeisten Fällen auch an dem erforderlichen Vorsatz fehlen.18 Auch eine Strafbarkeit gem. § 218 StGB scheidet in aller Regel aus. Wie bereits einleitend erörtert , kann der Konsum von Drogen oder Alkohol während der Schwangerschaft zwar zu Entwicklungsstörungen und Behinderungen führen. In vielen Fällen überlebt das ungeborene Kind jedoch die Schwangerschaft und es kommt zur Geburt, sodass es in diesen Fällen bereits am Taterfolg des Abbruchs fehlt. Darüber hinaus fehlt es auch hier regelmäßig an dem notwendigen Vorsatz der Schwangeren, durch den Konsum einen Abort herbeiführen zu wollen.19 Ferner bleibt ein versuchter Schwangerschaftsabbruch der Schwangeren straffrei, § 218 Absatz 4 Satz 2 StGB.20 Vor Schädigungen durch die Schwangere wird der Nasciturus durch das Strafrecht damit nicht geschützt.21 16 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 62 des Gesetzes vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1626) geändert worden ist. 17 Das Menschenleben beginnt im strafrechtlichen Sinne erst mit dem Beginn der Eröffnungswehen. Zu den unterschiedlichen Definitionen des Beginns menschlichen Lebens in Verfassung, StGB und Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) siehe: Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten für Ärzte? in: MedR 2019, S. 369 (370). 18 Vgl. hierzu ausführlicher die Arbeit der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, Der Schutz des ungeborenen Lebens in Deutschland, Sachstand WD 7 - 3000 - 256/18 vom 11. Dezember 2018, S. 5 ff., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/592130/21e336d47580c1faa15dbe23d999b62c/WD-7-256-18- pdf-data.pdf. 19 Hingegen dürfte nicht allein aufgrund einer etwaigen Drogen- bzw. Alkoholsucht die Schuldfähigkeit nach den §§ 20, 21 StGB automatisch ausgeschlossen sein. Vielmehr wird eine vollständige Aufhebung des Hemmungsvermögens nach § 20 StGB aufgrund von Drogen- bzw. Alkoholabhängigkeit oder eines Rausches in der Praxis selten bejaht. Sie kann aber in Betracht kommen, wenn weitere beeinträchtigende Faktoren hinzutreten, vgl. Eschelbach in: BeckOnlineKommentar StGB, v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), 44. Edition, 1. November 2019, § 20 Rn. 28. 20 Ausführlicher hierzu Sachstand WD7 – 3000 – 256/18, S. 5 f.. 21 Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (370). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 8 3.2. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach dem Strafgesetzbuch Durch den Konsum illegaler Drogen, die nicht, wie Alkohol, frei zugänglich sind, kommt eine Strafbarkeit nach den §§ 29 ff. des Gesetzes über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz - BtMG)22 in Betracht. Diese Strafvorschriften sanktionieren jedoch beispielsweise allgemein den Besitz, das Inverkehrbringen und das Herstellen von Drogen als solches und zielen gerade nicht auf den Umstand einer Schwangerschaft und damit die Gefährdung ungeborenen Lebens ab. Staatliche Maßnahmen, die darauf abzielen, das ungeborene Leben vor dem Drogen -und Alkoholkonsum der Schwangeren zu schützen, beispielsweise eine zwangsweise anzuordnende Entzugstherapie, sieht das Strafrecht nicht explizit vor.23 Jedoch wäre in den Fällen einer nach dem BtMG rechtskräftig verurteilten Schwangeren an die Maßregeln der Besserung und Sicherung gem. §§ 61 ff. StGB zu denken, namentlich der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 61 Nummer 2 in Verbindung mit § 64 StGB.24 Hiernach soll25 der Tatrichter die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Person den Hang hat, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt wurde oder nur deshalb nicht verurteilt wurde, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist. Gleichzeitig muss im Entscheidungszeitpunkt die Gefahr bestehen, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.26 Im Hinblick auf die Schwangerschaftsdauer und den repressiven Charakter dieser Maßregel dürfte ein Vorgehen gemäß § 64 StGB nicht geeignet sein, um dem staatlichen Schutzauftrag gegenüber dem Ungeborenen Rechnung zu tragen. Denn dies würde voraussetzen, dass die Schwangere bereits ein komplettes Strafverfahren durchlaufen hat und rechtskräftig wegen einer sogenannten Anlasstat verurteilt wurde. Zudem muss der Tatrichter im Wege seiner Ermessensentscheidung zu dem Ergebnis gekommen sein, dass nicht nur ein symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang zur Droge und Anlasstat besteht, sondern dass darüber hinaus infolge des Hanges auch in der Zukunft die Gefahr der Begehung erheblicher Taten seitens der Verurteilten 22 Betäubungsmittelgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358), das zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 17. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2850) geändert worden ist. 23 Zur medizinischen Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 –, BVerfGE 128, 282-322. 24 Hinsichtlich des Verhältnisses von § 64 StGB zu den §§ 35 ff. BtMG, die in bestimmten Fällen mit Zustimmung des Gericht die Zurückstellung der Strafvollstreckung ermöglichen, ist Pollähne der Ansicht, die Option der §§ 35 ff. BtMG müsse aus therapeutischer Sicht Vorrang vor § 64 StGB haben, vgl. Pollähne in Kindhäuser /Neumann/Paeffgen, StGB, 5. Auflage 2017, § 64 Rn. 60. Dagegen verwehrt sich jedoch der BGH in ständiger Rechtsprechung, BGH, Beschluss vom 14. Mai 1992 – 4 StR 178/92. 25 Es handelt sich hierbei um ein intendiertes Ermessen. Die ursprüngliche Fassung des Normtextes „hat“ wurde 1994 vom BVerfG wegen Verstoßes gegen Artikel 2 Absatz 1, Absatz 2 Satz 2 GG kassiert. Seit der Neufassung vom 20. Juli 2007 handelt es sich nunmehr um keine gebundene Entscheidung mehr, sondern um eine Ermessensnorm , vgl. hierzu van Gemmeren, Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2016, § 64 Rn. 13. 26 BVerfG, Beschluss vom 16. März 1994 – 2 BvL 3/90 –, BVerfGE 91, 1-70. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 9 besteht. Die gesetzliche Maßregel der Entziehungsanstalt ist also keine Grundlage für eine allgemeine Zwangsbehandlung Abhängiger.27 Eine effektive und rechtssichere Maßnahme zum Schutz des ungeborenen Lebens stellt § 64 StGB somit gerade nicht dar.28 4. Zivilrechtliche Aspekte Neben dem strafrechtlichen Ansatz wird auch der zivilrechtliche Schutz des Ungeborenen diskutiert .29 Im Zentrum steht hier § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)30, der gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls vorsieht. Allerdings stellt sich im Hinblick auf die pränatale Schutzbedürftigkeit des Nasciturus die juristisch umstrittene Frage, ob sich dieser zivilrechtliche Schutz des Kindes bereits auch auf den Zeitraum der Schwangerschaft, also auf das Ungeborene , erstreckt. 4.1. Nichtanwendung des § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch auf den Nasciturus Einer Auffassung nach ist das ungeborene Leben nicht von § 1666 BGB erfasst.31 Für diese Ansicht wird zunächst der Wortlaut der Norm angeführt, der von dem Kind, also einem rechtsfähigen Menschen, ausgeht. Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginne gemäß § 1 BGB erst mit der Vollendung der Geburt und erfasse somit grundsätzlich gerade nicht den Nasciturus. Auch sei die Gesamtkonzeption der Regelungen zur elterlichen Sorge im BGB auf stets geborene Kinder 27 Köhler, Selbstbestimmung und ärztliche Therapiefreiheit im Betäubungsmittelstrafrecht, NJW 1993, 764. 28 Selbiges dürfte für Bewährungsanweisungen nach § 56c Absatz 3 Nummer 1 StGB im Falle einer Bewährungsstrafe gelten, da in aller Regel nicht mit einem Einlenken und somit dem erforderlichen Einvernehmen der werdenden Mutter zu rechnen sein dürfte. Denn für Maßnahmen nach Absatz 3 gilt das Freiwilligkeitsprinzip, wonach solche Weisungen ausschließlich mit der Einwilligung der Verurteilten erteilt werden dürfen. Vgl. auch Köhler, Selbstbestimmung und ärztliche Therapiefreiheit im Betäubungsmittelstrafrecht in: NJW 1993, 764: Köhler stellt dar, dass eine allgemeine Zwangsbehandlung für die Therapie von Drogenabhängigkeit ebenso wie für Alkoholsucht weder generell vorgesehen noch verfassungsrechtlich legitimiert sei. 29 Nicht Gegenstand dieses Sachstandes ist die deliktische Haftung der Mutter gegenüber dem Ungeborenen aus § 823 BGB. Der während der Schwangerschaft in Betracht kommende quasi-negatorische Unterlassungsanspruch des Nasciturus aus § 1004 BGB analog dürfte kaum einen wirksamen Rechtsschutz des Kindes bieten, Coester, Embryoschutz in utero in: Hilbig-Lugani/Jakob/Mäsch/Reuß/Schmid (Hrsg.), Zwischenbilanz, Festschrift für Dagmar Coester-Waltjen, 2015, S. 31. Dieser Unterlassungsanspruch wandelt sich nach der Geburt in einen Schadensersatzanspruch des Kindes um. Hierzu insbesondere zum Haftungsprivileg des § 1664 BGB und der Problematik der Schadenskausalität ausführlich: Christine Robben, Pränatale Schädigungen mit postnatalen Folgen - Überlegungen zu einem neuen Schutz- und Haftungskonzept unter Berücksichtigung der US-amerikanischen Rechtslage, 2014, S. 199 ff. 30 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2911) geändert worden ist. 31 Czerner, Der Schutz des ungeborenen Kindes vor der eigenen Mutter durch zeitliche Vorverlagerung zivil-und strafrechtlicher Regelungen? in: ZKJ, 2010, S. 220; Vennemann, Anmerkung zu AG Celle, Beschluss vom 9. Februar 1987 – 25 VII K 3470 SH in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (FamRZ) 1987, S. 1068 (1069); Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) in: Das Jugendamt (JAmt) 2002, S. 248 (249). Im Ergebnis ebenfalls ablehnend: Christine Robben, Pränatale Schädigungen mit postnatalen Folgen , Überlegungen zu einem neuen Schutz- und Haftungskonzept unter Berücksichtigung der US-amerikanischen Rechtslage, 2014, S. 234 ff. (239). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 10 zugeschnitten.32 Darüber hinaus habe der Gesetzgeber an mehreren anderen Stellen im BGB explizite Regelungen zum Schutz und zur Rechtsstellung des Nasciturus geschaffen33, welche als abschließende und vor allem ausdrückliche Ausnahmen zu verstehen seien. § 1666 BGB gehöre gerade nicht zu diesen expliziten Ausnahmeregelungen, sodass sich eine zeitliche und qualitative Ausweitung des Anwendungsbereichs der Norm verbiete.34 Zudem stehe dieser Umstand der Annahme einer planwidrigen Gesetzeslücke entgegen, sodass auch die analoge Anwendung des § 1666 BG auf das ungeborene Kind nach aller Konsequenz ausscheide.35 4.2. Direkte oder analoge Anwendung von § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch auf den Nasciturus Dem steht die gegenteilige Auffassung36 gegenüber, wonach auch der Nasciturus bereits dem Schutz des § 1666 BGB unterfalle. Die strenge Wortlaut-Interpretation könne der ihr entgegenzubringenden verfassungsrechtlichen Kritik im Ergebnis nicht standhalten. Demnach spreche schon der grundrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens aus Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit 32 Czerner, Der Schutz des ungeborenen Kindes vor der eigenen Mutter durch zeitliche Vorverlagerung zivil-und strafrechtlicher Regelungen? in: ZKJ, 2010, S. 220. 33 Hier nennt die beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) angesiedelte Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls - § 1666 BGB“ in ihrem am 14. Juli 2009 veröffentlichten Abschlussbericht, abrufbar unter https://opus-hslb.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index /docId/444/file/Anlagen.pdf, die Normen § 1923 Absatz 2, § 844 Absatz 2 Satz 2, § 1774 Satz 2 und § 1777 Absatz 2 BGB. Wever/Krekeler führen darüber hinaus die Normen § 1615l Absatz 1 Satz 1, § 1626b Absatz 2, § 2108 sowie § 2178 BGB auf; vgl. Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (371). 34 Vennemann, Anmerkung zu AG Celle, Beschluss vom 9. Februar 1987, 25 VII K 3470 SH in: Zeitschrift für das FamRZ 1987, S. 1068 (1069). 35 Czerner, Der Schutz des ungeborenen Kindes vor der eigenen Mutter durch zeitliche Vorverlagerung zivil-und strafrechtlicher Regelungen? in: ZKJ, 2010, S. 220. Für eine analoge Anwendung innerhalb dieser Meinung spricht sich aber aus: Plettenberg in Soergel, BGB, 13. Auflage 2016, § 1666 Rn. 4. 36 Lugani in: Münchener Kommentar, 8. Auflage 2020, § 1666 Rn. 42; Weber, Martin, Sorgerecht und Umgang bei Substanzmissbrauch in: Neue Zeitschrift für Familienrecht (NZFam) 2018, S. 510 (513); Schmid in: Schulz/Hauß, Familienrecht, 3. Auflage 2017, § 1666 BGB Rn. 1; Coester, Embryoschutz in utero in: Hilbig- Lugani/Jakob/Mäsch/Reuß/Schmid (Hrsg.), Zwischenbilanz, Festschrift für Dagmar Coester-Waltjen, 2015, S. 32; Gernhuber/Coester-Waltjen, FamilienR, 6. Auflage 2010, § 57 Grundkonzeption der elterlichen Sorge, Rn. 113; AG Celle, Beschluss vom 9. Februar 1987 – 25 VII K 3470 SH; Geiger, Anmerkung zu AG Celle in: FamRZ 1987, S. 1177; wohl auch Plettenberg in: Soergel, BGB, 2016, § 1666, 1666a Rn. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 11 Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG37 für eine den Nasciturus umfassende, verfassungskonforme Auslegung des § 1666 BGB.38 Neben der grundrechtlichen Dimension spreche ferner auch der staatliche Schutzauftrag aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG, der auch das ungeborene Leben erfasst39, für die Anwendung des § 1666 BGB. Denn es sei widersprüchlich, dem ungeborenen Leben einerseits den grundrechtlichen Schutz zuzusprechen, ihm jedoch anderseits den Schutz durch die zentrale Ermächtigungsgrundlage des Familienrechts zu verwehren. Eine solche Auslegung des § 1666 BGB ließe eine Lücke zu Lasten des Schutzes des Nasciturus, die mit dem staatlichen Schutzauftrag nicht zu vereinbaren sei. Als weiteres Argument führt diese Ansicht Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG an, wonach über das elterliche Pflege- und Erziehungsrecht die staatliche Gemeinschaft wacht.40 Dieses sogenannte Wächteramt konkretisiere die Schutzpflichten des Staates 41 für die Grundrechte des Kindes und weise dem Staat ein subsidiäres Pflege- und Erziehungsmandat zu.42 Zeitlich erstrecke sich das Wächteramt auf den gesamten Bereich elterlicher Verpflichtungen, der Staat könne daher gemäß Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG auch bereits vor der Geburt des Kindes zum Einschreiten gehalten sein, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Fötus z.B. durch Drogensucht der Schwangeren bestünden.43 37 Der Schutz des ungeborenen Lebens ergibt sich aus einem Zusammenspiel dieser Normen, vgl. BVerfG, Urteil vom 25. Februar 1975 – 1 BvF 1/74 –, BVerfGE 39, 1-95 (Leitsatz); Schmidt in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht , 20. Auflage 2020, Artikel 2 GG Rn. 103. 38 Vgl. BVerfG, Urteil vom 28.05.1993 - 2 BVF 2/90 2 BVF 4/92 2 BVF 5/92: „Der Nasciturus entwickelt sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch“; Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (371). 39 Lang betont in: BeckOnlineKommentar Grundgesetz, Epping/Hillgruber (Hrsg.), 41. Edition, Stand: 15. Februar 2019, Artikel 2 GG, Rn. 78, dass „das GG den Staat verpflichte, menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. Dieses Lebensrecht werde nicht erst durch die Annahme seitens der Mutter begründet.“ Die Schutzpflicht gegenüber dem Ungeborenen bestehe deshalb insbesondere auch gegenüber seiner Mutter. 40 Lugani in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1666 BGB, Rn. 1: „§ 1666 als Ausprägung des staatlichen Wächteramtes aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG setzt den Verfassungsauftrag des Kindesschutzes auf der Ebene des bürgerlichen Rechts um.“ 41 Robbers in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz-Kommentar, 7. Auflage 2018, Artikel 6 GG, Rn. 241. 42 Brosius-Gersdorf in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Artikel 6 GG, Rn. 175; zugleich betont dieser, dass das Wächteramt keine subjektiven Rechte des Kindes (oder gar der Eltern) begründe. Jedoch stehe sowohl dem Kind als auch den Eltern aus ihren Grundrechten das subjektive Recht zu, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob sich der Staat innerhalb der Grenzen des Wächteramts hält, vgl. Rn. 177; a.A: Lugani in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1666 BGB, Rn. 1, der einen Anspruch des Kindes auf den Schutz des Staates aus Artikel 2 Absatz 1 und Absatz 2 Satz 1 GG i. V. m. Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 GG für den Fall, dass seine Eltern ihm nicht den nötigen Schutz bieten, bejaht. 43 Brosius-Gersdorf in: Dreier, Grundgesetz-Kommentar, 3. Auflage 2013, Artikel 6 GG, Rn. 186. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 12 4.3. Mögliche Maßnahmen bei Gefährdung des Nasciturus Unabhängig von einer abschließenden Entscheidung der eben ausgeführten Rechtsfrage stellt sich die Frage nach geeigneten Maßnahmen, die das Gericht im Falle einer (analogen) Anwendung des § 1666 BGB auf den Nasciturus gegenüber der Schwangeren aussprechen könnte.44 Wie dem Maßnahmenkatalog des § 1666 Absatz 3 BGB zu entnehmen ist, sieht die Norm eine Rechtsgrundlage zur Anordnung einer Zwangstherapie der Mutter nicht vor. Ein Sorgerechtsentzug nach § 1666 Absatz 3 Nummer 6 BGB dagegen kann nicht pränatal erfolgen. Das OLG Frankfurt 45 führt hierzu aus, ein Sorgerechtsentzug könne erst mit Beginn der elterlichen Sorge, die mit der Geburt anfange, erfolgen.46 Da die Auflistung in § 1666 BGB jedoch nicht abschließend ist, werden (in der Literatur) die folgenden Handlungsmöglichkeiten diskutiert: Pflegschaft für die Leibesfrucht nach § 1912 BGB Auch wenn § 1912 BGB die Möglichkeit der Bestellung eines Pflegers für den Nasciturus vorsieht, dient die Vorschrift der Wahrung künftiger Rechte des Nasciturus. In der Praxis dürften sich dem für den Nasciturus bestellten Pfleger kaum konkrete Einwirkungsmöglichkeiten auf die Schwangere bieten.47 Bestellung eines Vormundes nach § 1774 Satz 2 BGB Zwar kann schon vor der Geburt ein Vormund bestellt werden, wenn anzunehmen ist, dass ein Kind mit seiner Geburt eines Vormunds bedarf. Die Bestellung wird aber nach § 1774 Satz 2 Halbsatz 2 BGB erst mit der Geburt wirksam. Betreuung der Schwangeren nach § 1896 BGB Bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Betreuung (Schwangere ist aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer Behinderung nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise zu besorgen; Suchterkrankung als solche ist nicht ausreichend48) muss 44 Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (371). 45 OLG Frankfurt, Beschluss vom 12. Mai 2017 – 1 UF 95/17 –, juris, Rn. 9. 46 Das OLG Frankfurt erläutert weiter, dass auch eine sogenannte Vorratsentscheidung, die bereits während der Schwangerschaft getroffen wird und erst mit der Geburt des Kindes, also dem Entstehen der elterlichen Sorge, wirksam wird, im Ergebnis gegen Verfassungsrecht verstoße. So auch Lang in: Schnitzler, Münchener Anwaltshandbuch Familienrecht, 5. Auflage 2020, § 14 Elterliche Sorge Rn. 118. Lang führt an, eine Vorratsentscheidung verstoße gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. 47 Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (371). 48 Müller-Engels in: BeckOnlineKommentar BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck (Hrsg.), 52. Edition, November 2019, § 1896, Rn. 11. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 13 der vom Gericht bestellte Betreuer dem Wohl und den Wünschen des Betreuten dienen (§ 1901 Absatz 2 und 3 BGB). Ein Betreuer hat nur begrenzte Einwirkungsmöglichkeiten.49 Vorgehen nach dem einschlägigen Landesrecht über die Unterbringung psychisch Kranker Voraussetzung hierfür ist, dass die Schwangere psychisch krank und infolge dessen ihr Leben, ihre Gesundheit oder Rechtsgüter anderer gefährdet sind und dies nicht anders abgewendet werden kann.50 Damit ist der zivilrechtliche Schutz des Nasciturus begrenzt. Zivilrechtliche Zwangsmaßnahmen scheitern in der Regel am Allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Schwangeren. Sie kann aufgrund ihres Persönlichkeitsrechts nach eigenem Ermessen über ihre Lebensführung entscheiden.51 Nur in besonders gelagerten Einzelfällen sind Maßnahmen, wie z. B. die Unterbringung einer psychisch Kranken, möglich. 5. Weitere kinderschutzrechtliche Aspekte Um einerseits dem Persönlichkeitsrecht der Schwangeren gerecht zu werden und andererseits das Ungeborene zu schützen, werden nachfolgend Schutzmöglichkeiten der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK)52, des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)53 sowie des Achten Sozialgesetzbuchs – Kinder und Jugendhilfe (SGB VIII)54 betrachtet. 5.1. UN-Kinderrechtskonvention und Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung Die UN-KRK ist ein internationales Übereinkommen im Rang eines Bundesgesetzes (Artikel 59 Absatz 2 Satz 1GG). Ihr vorrangiges Ziel ist es, Kindern Schutz und Beistand zu gewähren. Sie enthält indessen keine bindenden Verpflichtungen zum Schutz des Ungeborenen. Zwar sprachen 49 Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls - § 1666 BGB“, Abschlussbericht vom 14. Juli 2009, S. 36, abrufbar unter: https://opus-hslb.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index /docId/444/file/Anlagen.pdf. 50 Vgl. z. B. § 11 des nordrhein-westfälischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten (PsychKG-NRW), abrufbar unter: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_text?sg=0&menu=1&bes_id=4853&aufgehoben=N&anw_nr=2. Nach § 1 Absatz 2 PsychKG-NRW fallen zwar auch Abhängigkeitserkrankungen unter den Begriff der psychischen Krankheiten, diese müssen aber eine mit Psychosen vergleichbare Schwere erreichen, sodass eine freie Willensbildung infolge der Erkrankung ausgeschlossen ist. 51 SG Magdeburg, Urteil vom 10. Juli 2015 – S 14 VE 18/11. 52 Die UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, A/RES/44/25 (Convention on the Rights of the Child, CRC) ist das wichtigste internationale Menschenrechtsinstrumentarium für Kinder, abrufbar unter: https://www.kinderrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/. 53 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2975), das zuletzt durch Artikel 20 Absatz 1 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist. 54 Das Achte Buch Sozialgesetzbuch – Kinder und Jugendhilfe – in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 36 des Gesetzes vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2652) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 14 sich bei der Erarbeitung der UN-KRK einige Staaten, darunter auch Deutschland, für die Einbeziehung des ungeborenen Lebens aus. Umgesetzt wurde dies aber mangels Einigung nicht. Lediglich in der (nicht rechtsverbindlichen) Präambel findet sich im neunten Erwägungsgrund der Hinweis auf die Notwendigkeit eines angemessenen rechtlichen Schutzes vor und nach der Geburt .55 Dazu wurde zur Klarstellung die Erläuterung zu Protokoll gegeben, dass mit der Annahme der Präambel nicht die Absicht verfolgt werde, der Auslegung von Artikel 1 UN-KRK oder einer anderen Vorschrift des Übereinkommens durch die Vertragsparteien vorzugreifen.56 Ebenso wenig schützt § 8a SGB VIII, der einen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung enthält, das Ungeborene. Kind im Sinne des SGB VIII ist das geborene Kind, wie die Legaldefinition des § 7 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 2 SGB VIII zeigt.57 Kinder sind danach diejenigen Personen, die noch nicht 14 bzw. 18 Jahre alt sind. 5.2. Information und Beratungsangebote Nach § 2 Absatz 1 KKG sollen werdende Eltern über Leistungsangebote im örtlichen Einzugsbereich zur Beratung und Hilfe in Fragen der Schwangerschaft, Geburt und der Entwicklung des Kindes in den ersten Lebensjahren informiert werden. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Eine wesentliche Voraussetzung für die Inanspruchnahme präventiver Leistungen zur Förderung der Entwicklung des Kindes und damit zur Vermeidung von Nachteilen, die einen schädigenden Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen entfalten können, ist die Kenntnis des örtlich verfügbaren Angebotsspektrums, das von den Trägern der öffentlichen und der freien Jugendhilfe , von Einrichtungen und Diensten des Gesundheitswesens, der Schwangerenkonfliktberatung , des Müttergenesungswerks und anderen Organisationen vorgehalten wird.“58 In Ergänzung dazu soll werdenden Eltern nach § 16 Absatz 3 SGB VIII Beratung und Hilfe in Fragen der Partnerschaft und des Aufbaus elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen angeboten werden. § 16 Absatz 3 wurde, wie auch das KKG, durch das Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG)59 vom 55 Schmahl, Stefanie, UN-Kinderrechtskonvention, 1. Auflage 2012, KRK Artikel 1 Rn. 5. 56 United Nations. Economic and Social Council, Question of a convention on the rights of the child, Report of the Working Group on a draft convention on the rights of the child, 2. März 1989, S. 11, abrufbar unter: https://uvallsc.s3.amazonaws.com/travaux/s3fs-public/E-CN_4-1989-48.pdf?null. 57 Czerner, Der Schutz des ungeborenen Kindes vor der eigenen Mutter durch zeitliche Vorverlagerung zivil-und strafrechtlicher Regelungen? in: ZKJ, 2010, S. 220. 58 Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG), Bundestags-Drucksache 17/6256 vom 22. Juni 2011, S. 17. 59 BGBl. I S. 2975. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 15 22. Dezember 2011 eingefügt und erwähnt nunmehr werdende Eltern ausdrücklich.60 Die Soll- Regelung bewirkt eine Pflicht zur Beratung im Regelfall, der nur in nachzuweisenden atypischen Fällen – nicht aus Kostengründen – abgelehnt werden kann.61 Über die Beratung hinaus soll auch Hilfe geleistet werden. Die Gesetzesbegründung führt aus, dass durch Absatz 3 zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Hilfen während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren eines Kindes zum unverzichtbaren Basisangebot eines jeden Jugendamtes gehören.62 Die Inanspruchnahme eines den werdenden Eltern nach § 2 Absatz 1 KKG mitgeteilten bzw. nach § 16 Absatz 3 SGB VIII bestehenden Beratungsangebots setzt im Falle eines Drogen- bzw. Alkoholkonsums die Erkenntnis der Schwangeren, dass ihr Verhalten dem Ungeborenen erheblich schaden kann, ebenso voraus wie ihre Mitwirkung.63 So führt der im Jahr 2017 veröffentlichte Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung aus: „Schwangere und Mütter mit Suchtproblematik können trotz hohen Hilfebedarfs und eines erhöhten Risikos für Kindeswohlgefährdung oft nur sehr schwer erreicht werden. Sie nehmen Angebote der Frauen-, Gesundheits-, Kinder- und Jugendhilfe kaum von sich aus in Anspruch bzw. halten hier die Suchtproblematik geheim. In der Suchthilfe wiederum fehlen meist die passgenauen Hilfen. So bleiben Schwangere, Mütter und Kinder in ihren komplexen Problemlagen häufig isoliert und ohne Unterstützung.“64 Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und die Drogenbeauftragte der Bundesregierung fördern deshalb Projekte, die bereits Jugendliche über die Gefahren von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft aufklären sowie werdende Eltern bei der Umsetzung der Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft und der Stillzeit unterstützen.65 Auch in der Vergangenheit förderte das BMG Präventionsprojekte zur Vermeidung und Reduzierung von Suchtmittelkonsum in Schwangerschaft und Stillzeit, in denen Maßnahmen und Strukturen zur 60 Im Jahr 2009 wurde im Abschlussbericht der beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) angesiedelten Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls - § 1666 BGB“ die Ausweitung der Hilfemöglichkeiten nach dem SGB VIII gefordert. Der Bericht ist abrufbar unter : https://opus-hslb.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/444/file/Anlagen.pdf. Auf S. 38 heißt es: „Sofern in das SGB VIII ein Hilfeangebot, das sich ausdrücklich an schwangere Frauen und werdende Eltern richtet, aufgenommen wird, ist darüber hinaus zu erwarten, dass mehrere Fälle einer möglichen vorgeburtlichen Gefährdung bereits im Vorfeld durch das Hilfeangebot aufgefangen werden können.“ 61 Struck in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, § 16 Rn. 26. 62 Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG), Bundestags-Drucksache 17/6256 vom 22. Juni 2011, S. 22. 63 Coester, Embryoschutz in utero in: Hilbig-Lugani/Jakob/Mäsch/Reuß/Schmid (Hrsg.), Zwischenbilanz, Festschrift für Dagmar Coester-Waltjen, 2015, S. 35: „Embryoschutz ist nur mit, aber nicht gegen die schwangere Frau zu realisieren – eine Konsequenz aus der ‚Einheit‘, zu der beide Rechtssubjekte körperlich verbunden sind. 64 Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Drogen- und Suchtbericht, Juli 2017, S. 105, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Broschueren /Drogen-_und_Suchtbericht_2017.pdf. 65 Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Drogen- und Suchtbericht, Juli 2019, S. 67, abrufbar unter: https://www.drogenbeauftragte.de/fileadmin/dateien-dba/Drogenbeauftragte/4_Presse/1_Pressemitteilungen /2019/2019_IV.Q/DSB_2019_mj_barr.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 16 Information, Schulung und Beratung für schwangere und stillende Frauen und Mädchen (inklusive der Partner oder anderer Angehöriger) konzipiert, praktisch angewandt und evaluiert wurden .66 5.3. Frühe Hilfen und Übermittlungsbefugnis Daneben fördert § 1 Absatz 4 Satz 2 KKG einen frühzeitigen Unterstützungsansatz für Schwangere und werdende Eltern, in dem ein frühzeitiges, koordiniertes und multiprofessionelles Angebot vorgehalten wird, um Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern bestmöglich zu fördern, Risiken für ihr Wohl möglichst früh wahrzunehmen und Gefährdungen systematisch abzuwenden. Dieser Bereich sogenannter Früher Hilfen sieht vor allem die lokale Netzwerkbildung als zentral an. In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich: „Zielgruppe Früher Hilfen sind Kinder bereits während der Schwangerschaft bis zum Alter von circa drei Jahren und damit Schwangere und werdende Väter sowie junge Mütter und Väter. Grundlegend sind Angebote, die sich an alle (werdenden ) Eltern mit ihren Kindern im Sinne der Gesundheitsförderung richten (universelle/primäre Prävention)."67 Mit Wirkung zum Januar 2018 hat der Bund die Bundesinitiative Frühe Hilfen in eine Bundesstiftung überführt und damit eine langfristige finanzielle Basis geschaffen.68 Netzwerke für Frühe Hilfen existieren in nahezu allen Landkreisen und kreisfreien Städten. § 4 KKG, der es dort genannten Berufsgeheimnisträgern, wie z. B. Ärzten, unter bestimmten Umständen erlaubt, dem Jugendamt Hinweise auf Kindeswohlgefährdung mitzuteilen, ist dem Wortlaut nach auf geborene Kinder und nicht auf Ungeborene anwendbar.69 66 BMG, Ressortforschung, Förderschwerpunkt "Neue Präventionsansätze zur Vermeidung von Suchtmittelkonsum in Schwangerschaft und Stillzeit", abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium /ressortforschung/drogen-und-sucht/praevention-des-suchtmittelkonsums/foerderschwerpunkt-neuepraeventionsansaetze -zur-vermeidung-von-suchtmittelkonsum-in-schwangerschaft-und-stillzeit.html. 67 Gesetzentwurf der Bundesregierung Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz – BKiSchG), Bundestags-Drucksache 17/6256 vom 22. Juni 2011, S. 17. 68 Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, Bundesstiftung Frühe Hilfen, Hintergrundmeldung vom 13. April 2018, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/kinder-undjugendschutz /bundesstiftung-fruehe-hilfen/bundesstiftung-fruehe-hilfen/80722. 69 Vgl. Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (372): „ Die Anwendung des § 4 KKG für Fälle der Gefährdung ungeborener Kinder ist damit zweifelhaft und wäre allenfalls im Wege der Analogie möglich.“ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 093/19 Seite 17 Ausblick Soziale Beratungs- und Unterstützungsangebote mit dem Ziel, das Ungeborene zu schützen, gehen davon aus, dass die Schwangere sie freiwillig aufsucht. Der zivilrechtliche Schutz des Nasciturus ist in vielen Fällen nicht gegeben. Daher fordert ein Teil der Literatur nunmehr den Gesetzgeber zum Handeln auf.70 So wird die Schaffung einer neuen familienrechtlichen Ermächtigungsgrundlage im BGB gefordert, die Weisungsmöglichkeiten des Familiengerichts an die suchtkranke Schwangere ermöglicht.71 Andere fordern den Gesetzgeber unter Hinweis auf den zu lösenden verfassungsrechtlichen Konflikt dazu auf, „die verfassungsrechtlich gebotene Balance zwischen Persönlichkeitsrecht der Mutter und den Rechten des noch ungeborenen Kindes“ zu schaffen.72 Zudem wird auch in Frage gestellt, ob im Falle des Nichteinschreitens des Gesetzgebers das ihn verpflichtende Untermaßgebot73 gewahrt sei.74 Dem gegenüber wird jedoch auch vertreten , dass die Schaffung einer § 1666 BGB nachempfundenen familienrechtlichen Eingriffsgrundlage zum Schutz des Nasciturus vor mütterlichem Alkohol- oder Drogenkonsum mit den verfassungsrechtlichen Rechten einer Schwangeren nicht vereinbar wäre und von der Einführung einer präventiven Eingriffsbefugnis daher abzusehen sei.75 *** 70 Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (373); Weber, Martin, Sorgerecht und Umgang bei Substanzmissbrauch in: NZFam 2018, S. 510 (513). 71 So zum Beispiel Czerner, Der Schutz des ungeborenen Kindes vor der eigenen Mutter durch zeitliche Vorverlagerung zivil- und strafrechtlicher Regelungen? in: ZKJ, 2010, S. 220, der die Schaffung eines § 1666 b BGB vorschlägt . 72 Coester, in: Staudinger Kommentar BGB, 2015, § 1666 BGB, Rn. 25a: „Der gesetzgeberische Handlungsbedarf ist unübersehbar.“ 73 In der Literatur werden sowohl der Begriffe „Untermaßgebot“, als auch „Untermaßverbot“ verwendet. Während das Untermaßgebot besagt, dass der Gesetzgeber ein Mindestmaß an Schutzregeln zu erlassen hat, betont der Begriff Untermaßverbot, der auch vom BVerfG verwendet wird (so etwa zum Nichtraucherschutz in BVerfG, Urteil vom 30. Juli 2008 – 1 BvR 3262/07 –, BVerfGE 121, 317-388) das Verbot, gegen den staatlichen Schutzauftrag zu verstoßen. 74 Wever, Carolin/Krekeler, Sebastian, Alkohol und Drogen während der Schwangerschaft – Handlungsmöglichkeiten der Ärzte? in: MedR, 2019, S. 369 (373). 75 Christine Robben, Pränatale Schädigungen mit postnatalen Folgen, Überlegungen zu einem neuen Schutz- und Haftungskonzept unter Berücksichtigung der US-amerikanischen Rechtslage, 2014, S. 241, 242.