© 2018 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 088/18 Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahme nach dem SGB VIII Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 2 Kindeswohlgefährdung und Inobhutnahme nach dem SGB VIII Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 088/18 Abschluss der Arbeit: 1. November 2018 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII 5 3. Zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII 6 4. Zur Gewährung von „Hilfen zur Erziehung“ (§§ 28-35 SGB VIII) und Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII 7 4.1. Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) 8 4.2. Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII) 8 4.3. Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer (§ 30 SGB VIII) 8 4.4. Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) 8 4.5. Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 SGB VIII) 8 4.6. Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) 8 4.7. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII) 9 5. Kostenbeteiligung nach dem SGB VIII 10 6. Beschwerdemöglichkeiten gegen Jugendämter 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 4 1. Einleitung Seit dem 1.Januar 2012 gilt das Bundeskinderschutzgesetz1, mit dem der Bundesgesetzgeber verfahrensrechtliche Schritte bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung bundeseinheitlich gesetzlich verankert hat. Mit Blick auf die Kindeswohlgefährdung ist vor allem Artikel 1 des Bundeskinderschutzgesetzes von Bedeutung, das „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz “ (KKG)2: Das KKG sieht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung ein detailliertes, schrittweises Verfahren unter Einbindung und Kooperation aller beteiligten Berufsgruppen vor. Insbesondere wird dort geregelt, dass Angehörige der Gesundheitsberufe befugt sind, bei akuter Kindeswohlgefährdung das Jugendamt zu informieren. Das KKG setzt aber nicht primär auf behördliche Intervention, sondern gestaltet einen sozialen Prozess, der alle wichtigen Akteure3 im Kinderschutz – Jugendämter, Schulen, Gesundheitsämter, Krankenhäuser, Ärzte, Schwangerschaftsberatungsstellen und Polizei – im Netzwerk „Frühe Hilfen“ zusammenführt. Beratung und Unterstützung schon während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren eines Kindes sollen helfen, Risiken und Belastungen für eine gesunde Entwicklung eines Kindes möglichst frühzeitig zu erkennen. Inzwischen gibt es nach Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren , Frauen und Jugend (BMFSFJ)4 in 98 Prozent der Jugendamtsbezirke ein Netzwerk Frühe Hilfen. Zum 1. Januar 2018 hat die „Bundesstiftung Frühe Hilfen“ ihre Arbeit aufgenommen, mit der die Arbeit der Netzwerke Frühe Hilfen dauerhaft unterstützt wird. Der Bund finanziert die Stiftung dauerhaft mit einem jährlichen Etat von 51 Millionen Euro.5 1 Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (Bundeskinderschutzgesetz BKiSchG) vom 22. Dezember 2011, BGBl I 2011, S.2975-2982. Das Bundeskinderschutzgesetz wurde 2015 evaluiert , vgl Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes , 17.12.2015, BT-Drs. 18/7100. In der 18. Wahlperiode wurde ein Gesetzgebungsprozess für ein Kinder- und Jugendstärkungsgesetz nicht abgeschlossen, vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG), 25. Mai 2017, BT-Drs. 18/12330. 2 Vgl. dazu Meysen, Thomas, und Diana Eschelbach, Das neue Bundeskinderschutzgesetz, Baden-Baden 2012, sowie Wapler, Friederike, Das Bundeskinderschutzgesetz: ärztliche Befugnisse und Pflichten bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung, in: Der Gynäkologe 11, 2012, S. 888-891. 3 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. 4 Vgl die Information des BMFSFJ unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/kinder-und-jugend/kinder-undjugendschutz /bundesstiftung-fruehe-hilfen/bundesstiftung-fruehe-hilfen/80722. (Alle Links zuletzt abgerufen am 1.11.2018). 5 Vgl. dazu: Frühe Hilfen und präventiver Kinderschutz – frühzeitige Unterstützung für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern. Empfehlungen an die Politik zur weiteren Ausgestaltung der Frühe Hilfen vom Beirat des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen, hg. vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen, April 2018. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 5 2. Zur Gefährdungseinschätzung nach § 8a SGB VIII § 8a SGB VIII6 konkretisiert den staatlichen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung7. Danach wird das Jugendamt tätig, wenn „gewichtige Anhaltspunkte“ für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt werden. Diese Gefährdungseinschätzung gilt als „eine der fachlich anspruchsvollsten und folgenreichsten Entscheidungsvorgänge“.8 Das Gefährdungsrisiko soll daher „im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte“ eingeschätzt werden. Hinsichtlich der erforderlichen Qualifikationen einer solchen Fachkraft trifft das Gesetzt keine nähere Regelung; auch zur Anzahl der Fachkräfte macht das Gesetz keine konkreten Angaben. Näheres zum Begriff „Fachkraft“ ist aber § 72 Abs. 1 SGB VIII9 zu entnehmen: Hiernach sind Fachkräfte Personen, „die sich für die jeweilige Aufgabe nach ihrer Persönlichkeit eignen und eine dieser Aufgabe entsprechende Ausbildung erhalten haben“. Inhaltliche Vorgaben über eine Profession macht das Gesetz jedoch nicht10. Angesichts des Zwecks des Schutzauftrags des Jugendamtes nach § 8a SGB VIII müssen die Fachkräfte über die Legaldefinition in § 72 Abs. 1 SGB VIII hinaus über eine spezifische Kompetenz für die Risikoabschätzung verfügen. Es können auch jugendamtsexterne Experten wie etwa Mediziner oder Psychologen zur Entscheidung herangezogen werden.11 Hinsichtlich der Anzahl der erforderlichen Fachkräfte kann der Formulierung „mehrere“ zunächst nur entnommen werden, dass zumindest zwei Fachkräfte, der Wortbedeutung nach eher mehr als zwei Fachkräfte, zusammenwirken müssen. Die herrschende Meinung hält mit Rücksicht auf begrenzte Personalressourcen das Zusammenwirken von zwei Fachkräften für ausreichend.12 Daneben sind auch die Betroffenen in das Verfahren einzubeziehen, denn das grundrechtlich geschützte Elternrecht ist im Bereich des Kinderschutzes nicht aufgehoben. Die Eltern sind daher 6 § 8a Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII), Kinder- und Jugendhilfe, in der Fassung vom 11. September 2012, Artikel 1 des Gesetzes v. 26. Juni 1990, BGBl. I S. 1163. 7 Anknüpfend an Art. 6 II 2 Grundgesetz, vgl. Wapler; Friederike, Kindeswohl und Kinderrechte – eine Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht, Tübingen 2015, S. 298ff. 8 So Trenczek, Düring, Neumann-Witt, Inobhutnahme. Krisenintervention und Schutzgewährung durch die Jugendhilfe . § 8a, §§ 42, 42aff. SGB VIII, 3. völlig neu bearbeitete Auflage 2017, S.217. Das Buch bietet eine detaillierte Darstellung der rechtlichen Bestimmungen sowie der praktischen Verfahren. 9 § 72 SGB VIII in der Fassung vom 11. September 2012. 10 Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, Die insoweit erfahrene Fachkraft nach dem Bundeskinderschutzgesetz , August 2013, abrufbar unter: https://digital.zlb.de/viewer /rest/image/15696475/Texte_06_2013_insoweit_erfahrene_fachkraft.pdf/full/max/0/Texte_06_2013_insoweit _erfahrene_fachkraft.pdf , S. 10: In der fachlichen Debatte bestehe Einigkeit darüber, dass die einschlägige fachliche Qualifikation in einer sozialpädagogischen, psychologischen oder jugendhilfespezifischen Berufsausbildung vorliegen müsse. Berufsanfänger seien auch als Fachkräfte ausgeschlossen, da sie nicht „insoweit erfahren “ sind i.S.d. § 8 a IV Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII. 11 Winkler in: Rolfs/ Giesen/ Kreikebohm/ Udsching, Beck Online Kommentar Sozialrecht, Stand: 1. September 2018, Rn. 6-9; vgl. auch: Tillmanns in: Schwab, Dieter, Münchener Kommentar zum BGB, 7. Auflage 2017, SGB VIII § 8a, Rn. 5. 12 Wiesner, Reinhard, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, Rn. 25-27. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 6 zu beraten und zu unterstützen, damit sie eigenverantwortlich angemessene Entscheidungen zu Wohl ihres Kindes treffen können.13 Für die Begutachtung von „Erziehungsfähigkeit“ im Kontext des Schutzauftrags der Jugendhilfe nach § 8a SGB VIII gibt es keine allgemein gültigen Richtlinien14. Ein Gutachter kann grundsätzlich selbst entscheiden, wie er das Gutachten erstellt. Eine Vereinheitlichung der Erfassung von Erziehungsfähigkeit in familienrechtlichen Gutachten steht jedoch zur Diskussion15. 3. Zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII Im Falle eines Verdachts auf Gefährdung des Kindeswohls gehört die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen nach § 42 SGB VIII16 zu den Aufgaben der Jugendhilfe.17 Die Inobhutnahme ist vorläufige, vorübergehende und grundsätzlich kurzfristige Krisenintervention, die dazu dient, durch die sofortige Aufnahme des Minderjährigen und weitere Maßnahmen eine aktuelle Notlage zu beseitigen18. Die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit das Jugendamt berechtigt und verpflichtet ist, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, sind in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 SGB VIII geregelt. Satz 1 Nr. 1 ermöglicht es dem Jugendamt, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn der Minderjährige um Obhut bittet19. Nach Satz 1 Nr. 2 ist das Jugendamt auch dann berechtigt und verpflichtet, einen Minderjährigen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Kindeswohl dies erfordert20. Das Jugendamt ist schließlich nach Satz 1 Nr. 3 berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn der Minderjährige unbegleitet nach 13 Trenczek, Thomas/ Düring, Diana/ Neumann-Witt, Andreas, Inobhutnahme, 2017, S. 217-218, 219 ff. 14 Für die Begutachtung von Erziehungsfähigkeit gibt es eine Vielzahl von Anforderungskatalogen und Empfehlungen , so etwa: Empfehlungen einer Arbeitsgruppe von Richterinnen und Richtern der Familiensenate des Oberlandesgerichts Celle, Inhaltliche Anforderungen an Sachverständigengutachten in Kindschaftssachen, 1. August 2015, abrufbar unter: https://www.famrb.de/media/Inhaltliche_Anforderungen_an_Sachverstaendigengutachten _in_Kindschaftssachen.pdf. 15 Pawils, Silke/ Metzner, Franke/ Bech, Britta/ u.a., Erziehungsfähigkeit in familienrechtlichen Begutachtungen, 2014, abrufbar unter: https://link.springer.com/article/10.1007/s11757-014-0285-0#citeas. 16 § 42 SGB VIII in der Fassung vom 20. Juli 2017. 17 Vgl. dazu Neundorf, Kathleen, Rechtliche Rahmenbedingung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer unbegleiteter Kinder und Jugendlicher, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik (ZAR) 2016, S. 201 – 211; Kirchhoff, in: jurisPK-SGB VIII, § 42 Rn. 24 18 Eine detaillierte Darstellung der rechtlichen Bestimmungen und der praktischen Verfahren in: Trenczek, Thomas/ Düring, Diana/ Neumann-Witt, Andreas, Inobhutnahme, 2017, Signatur Bibliothek Deutscher Bundestag P5153017, S. 229-304. 19 Oberverwaltungsgericht Lüneburg vom 18. September 2009 – 4 LA 706/07 – juris Rn. 7; Wiesner, in: Wiesner (Hrsg.), § 42 Rn. 7; Kirchhoff, in: juris-PK-SGB VIII, § 42 Rn. 42. 20 Kirchhoff, in: jurisPK-SGB VIII, § 42 Rn. 58. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 7 Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten . Im Falle einer Inobhutnahme hat das Jugendamt die Personensorgeberechtigen unverzüglich zu unterrichten und mit ihnen das Gefahrenrisiko abzuschätzen. Wenn nur ein Personensorgeberechtigter nicht mit der Inobhutnahme einverstanden, muss das Kind den Eltern übergeben werden , sofern keine Gefährdung des Kindeswohles vorliegt oder die Eltern in der Lage und willens sind, diese abzuwenden. Eine Unterbringung gegen den Willen der Eltern bedarf einer familiengerichtlichen Entscheidung (§ 42 Abs. 3). 21 Sind die Eltern einverstanden, ist sofort ein Hilfeplanverfahren einzuleiten. Dem Jugendamt obliegt dabei die fachliche Einschätzung, ob eine Gefährdung des Kindeswohles vorliegt oder nicht, und deren Dokumentation. Die Inobhutnahme ist ein Verwaltungsakt, der bei akuter Gefährdung des Kindeswohls nach Bekanntgabe sofort vollzogen wird.22 Das Ende einer Inobhutnahme (§ 42 Abs. 4 SGB VIII) ist nicht durch einen bestimmten Zeitablauf bestimmt, sondern durch die anderweitige Sicherung des Kindeswohls. Eine gesetzlich festgelegte Dauer oder zeitliche Beschränkung der Inobhutnahme gibt es nicht23. Grundsätzlich aber dient die Inobhutnahme einer kurzfristigen Intervention, die keine längerfristige Hilfe ersetzt. Die Inobhutnahme darf und muss beendet werden, wenn die Voraussetzungen dieser nicht mehr gegeben sind. Dabei muss das Jugendamt selbst von Amts wegen fortlaufend das Vorliegen der Voraussetzungen der Inobhutnahme prüfen.24 4. Zur Gewährung von „Hilfen zur Erziehung“ (§§ 28-35 SGB VIII) und Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche nach § 35a SGB VIII Die Inobhutnahme ist eine vorläufige Intervention des Jugendamtes im Falle einer nicht anders abwendbaren Gefährdung des Kindeswohls. Grundsätzlich zielt die Jugendhilfe darauf ab, durch präventive Maßnahmen Kindeswohlgefährdung rechtzeitig zu verhindern. So können nach §§ 27- 35 SGB VIII25 Hilfen zur Erziehung gewährt werden. Nach § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des 21 So Münder, Meysen, Trenczek, Frankforter Kommentar zum SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 7. Aufl. 2013, § 42, S. 463f. 22 Zu den Einzelheiten des Vollzugs solcher Verwaltungsakte und der Wirkung von Widersprüchen vgl. Trenczek, Thomas/ Düring, Diana/ Neumann-Witt, Andreas, Inobhutnahme, 2017, S. 329-333. Sind Eltern mit einem durch das Jugendamt erstellten Gutachten nicht einverstanden, können sie ein Privatgutachten veranlassen, das im Zuge einer familiengerichtlichen Auseinandersetzung berücksichtigt werden muss, vgl. Ulrich, Jürgen, Der Sachverständige, Gerichtsgutachten versus Privatgutachten: Was gilt?, DS 2017, 315; VGH München, Beschluss vom 01.03.2007 - 12 ZB 06.3070, BeckRS 2007, 29335. 23 Wiesner, Reinhard, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, Rn. 51. 24 Trenczek, Thomas/ Düring, Diana/ Neumann-Witt, Andreas, Inobhutnahme, 2017, Signatur Bibliothek Deutscher Bundestag P5153017, S. 296. 25 § 27 Sozialgesetzbuch (SGB VIII), Achtes Buch, Kinder- und Jugendhilfe, Stand: Neugefasst durch Bek. vom 11. September 2012 I 2022; zuletzt geändert durch Art. 10 Abs. 10 G v. 30. Oktober 2017 I 3618. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 8 Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Hilfe zur Erziehung umfasst gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall. 4.1. Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) Die Erziehungsberatung soll Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrunde liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen (§ 28 S. 1 SGB VIII). Dabei sollen Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen zusammenwirken , die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen vertraut sind (§ 28 S. 2 SGB VIII). 4.2. Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII) Die Teilnahme an sozialer Gruppenarbeit soll älteren Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen helfen (§ 29 S. 1 SGB VIII). Soziale Gruppenarbeit soll auf der Grundlage eines gruppenpädagogischen Konzepts die Entwicklung älterer Kinder und Jugendlicher durch soziales Lernen in der Gruppe fördern (§ 29 S. 2 SGB VIII). 4.3. Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer (§ 30 SGB VIII) Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen nach § 30 SGB VIII das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbständigung fördern. 4.4. Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) Die sozialpädagogische Familienhilfe soll durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe geben (§ 31 S. 1 SGB VIII). Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert die Mitarbeit der Familie (§ 31 S. 2 SGB). 4.5. Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 SGB VIII) Hilfe zur Erziehung in einer Tagesgruppe soll die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit unterstützen und dadurch den Verbleib des Kindes oder des Jugendlichen in seiner Familie sichern (§ 32 S. 1 SGB VIII). Die Hilfe kann auch in geeigneten Formen der Familienpflege geleistet werden (§ 32 S. 2 SGB VIII). 4.6. Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 9 bedürfen (§ 35 S. 1 SGB VIII). Die Hilfe ist nach § 35 S. 2 SGB VIII in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen. 4.7. Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a SGB VIII) Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, haben nach § 35a SGB VIII Anspruch auf Eingliederungshilfe.26 Die Hilfe wird nach dem Bedarf im Einzelfall in ambulanter Form, in Tageseinrichtungen für Kinder oder in anderen teilstationären Einrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen und in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie sonstigen Wohnformen geleistet (§ 35a Abs. 2 SGB VIII). Maßgeblich für den Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII ist das Vorliegen einer seelischen Behinderung oder einer drohenden seelischen Behinderung. Eine feststehende Definition des Begriffs der „seelischen Behinderung“ gibt es nicht. Nach dem Gesetz liegt ihm ein „zweigliedriger Behinderungsbegriff“ zugrunde: Hiernach liegt eine „seelische Behinderung “ vor, wenn erstens der Zustand des Betroffenen von dem für sein Lebensalter typischen Zustand mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate abweicht (§ 35a Abs. 1 Nr. 1). Zweitens muss als Folge daraus die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft entweder bereits beeinträchtigt oder zu erwarten sein (§ 35a Abs. 1 Nr. 2).27 Durch § 35a Abs. 1 S. 2 stellt der Gesetzgeber klar, dass auch Fälle, in denen eine solche seelische Behinderung bloß droht, bereits miterfasst sind. Hiernach genüge es, wenn eine seelische Behinderung nach Fachkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei28 Die Feststellung der abweichenden seelischen Gesundheit erfolgt mit Hilfe der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10)29 durch einen Arzt oder Psychotherapeuten. Solche seelischen Störungen können etwa sein: Solche die als Folge von Krankheiten und Verletzungen auftreten, paranoide, schizoide oder dissoziale Persönlich- 26 Während eine (drohende) seelische Behinderung bzw. ein Erziehungsdefizit vorrangig der Kinder- und Jugendhilfe zugeordnet würde, bleibt die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII Aufgabe der Sozialhilfe im Rahmen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff SGB XII. 27 Tillmanns, in: Säcker, Franz/ Rixecker, Roland/ Oetker, Hartmut/ u.a., Münchener Kommentar zum BGB (MüKoBGB), 7. Aufl. 2017, SGB VIII § 35a Rn. 3. 28 Vgl. § 53 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB XII), Zwölftes Buch, Sozialhilfe, Stand: Zuletzt geändert durch Art. 2 Gesetz vom 17. August 2017 I 3214 Sozialgesetzbuch; Wiesner, Reinhard, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, Rn. 26-27. 29 Das Bundesgesundheitsministerium hat in Bezug auf die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS oder ADHD auch die DSM IV Diagnosekriterien als Feststellungsgrundlage anerkannt, vgl.: Wiesner, Reinhard, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, Rn. 13a. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 10 keitsstörungen, Magersucht, Psychosen wie Schizophrenie oder auch affektive Psychosen mit depressiven , manischen oder bipolaren Ausprägungsformen30. Über die Beeinträchtigung der Teilhabe und die geeigneten und notwendigen Hilfen entscheidet das Jugendamt.31 Der Beurteilung einer Fachkraft im Jugendamt obliegt auch die Prognose, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist. Dabei ist eine Wahrscheinlichkeit der Teilhabebeeinträchtigung von wesentlich mehr als 50 Prozent erforderlich32. Es müssen zudem über die abstrakte Gefährdungslage hinaus bereits konkrete Anzeichen dafür vorliegen, dass ohne eine entsprechende Hilfe die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und damit eine seelische Behinderung eintreten würde.33 5. Kostenbeteiligung nach dem SGB VIII In der Kinder- und Jugendhilfe sind verschiedene Formen einer – pauschalierten oder individualisierten – Kostenbeteiligung34 vorgesehen. Auch im Rahmen einer Inobhutnahme werden Kostenbeteiligungen für stationäre und teilstationäre Leistungen sowie für vorläufige Maßnahmen erhoben – allerdings nur für die in § 91 Abs. 1 und 2 SGB VIII genannten Leistungen. Wer heranzuziehen ist, ergibt sich aus § 92 SGB VIII: Kinder und Jugendlichen bzw. die jungen Volljährigen selbst, die Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII, Ehegatten oder eingetragene Lebenspartner sowie die Eltern(teile). Die Kostenbeteiligung erfolgt durch Erhebung eines Kostenbeitrags in Form eines Leistungsbescheids (§ 92 Abs. 2 SBG VIII). Grundsätzlich werden Beteiligungspflichtige nur aus ihrem Einkommen herangezogen35. 6. Beschwerdemöglichkeiten gegen Jugendämter Kinder- und Jugendhilfe ist im Wesentlichen eine kommunale Aufgabe. So verpflichtet das SGB VIII die Städte und Landkreise dazu, ein Jugendamt einzurichten (§ 69 Abs. 3 SBG VIII). Das 30 Katalog seelischer Störungen von Kindern und Jugendlichen in: Fegert, in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe , 5. Auflage 2015, Rn. 45-98, abrufbar unter: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata/komm/Wiesner KoSGBVIII_5/SGB_VIII/cont/WiesnerKoSGBVIII.SGB_VIII.p35a.glIV%2Ehtm. 31 von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 35a SGB VIII, Rn. 44. 32 Kunkel, Peter-Christian, Das Verfahren zur Gewährung einer Hilfe nach § 35a SGB VIII, 4. April 2015, abrufbar unter: http://www.sgbviii.de/files/SGB%20VIII/PDF/S97.pdf. Eine hohe Wahrscheinlichkeit beginne auf einer gedachten Wahrscheinlichkeitsskala zwischen 0 (unwahrscheinlich) bis 100 (absolute Sicherheit der Beeinträchtigung ) bei 75 Prozent. 33 OVG Magdeburg, Beschluss vom 17. Februar 2016 - 4 L 162/14, Rn. 27; vgl. auch VG München, Urteil vom 15. Oktober 2014 - M 18 K 13.3666, Rn. 33. 34 Verordnung zur Festsetzung der Kostenbeiträge für Leistungen und vorläufige Maßnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe (Kostenbeitragsverordnung) vom 1. Oktober 2005 (BGBl. I S. 2907), die durch Artikel 1 der Verordnung vom 5. Dezember 2013 (BGBl. I S. 4040) geändert worden ist; vgl.: Loos in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, Rn. 3 ff. 35 Vgl. § 94 Abs. 1 S. 1 SGB VIII; Eine Ausnahme gilt für junge Volljährige und volljährige Leistungsberechtigte nach § 19 SGB VIII, die zusätzlich aus ihrem Vermögen herangezogen werden, vgl. § 92 Abs. 1a SGB VIII. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 088/18 Seite 11 Jugendamt besteht zum einen aus der Verwaltung (§ 70 SGB VIII), zum anderen aus dem Jugendhilfeausschuss (§ 71 SGB VIII).36 Auch wenn Jugendämter keiner oberen Dienstaufsicht im Sinne einer Fachaufsicht unterliegen, unterstehen sie einer Rechtsaufsicht. Die jeweilige Aufsichtsbehörde legt das Landesrecht fest. Darüber hinaus unterstehen die Mitarbeiter von Jugendämtern der Dienstaufsicht, die die Aufgabenwahrnehmung der Mitarbeiter prüft. Im Falle eines Konflikts besteht für Eltern somit die Möglichkeit, mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde das Verhalten eines Mitarbeiters des Jugendamts zu rügen37. Auch besteht – außerhalb eines gerichtlichen Vorgehens – die Möglichkeit einer Beschwerde im Jugendhilfeausschuss, der Bürgern auch als Beschwerdeinstanz dienen soll38. *** 36 BMFSFJ, Kinder- und Jugendhilfe Achtes Buch Sozialgesetzbuch, Dezember 2014, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/94106/00a03f47fcbe076829ad6403b919e93b/kinder--und-jugendhilfegesetz---sgbviii -data.pdf. 37 Vgl. OVG Münster, Beschluss vom 16.07.2009 - 12 A 788/09. 38 Der Paritätische Gesamtverband, Jugendhilfeausschüsse, 2015, abrufbar unter: https://www.der-paritaetische .de/fileadmin/user_upload/Publikationen/doc/A4_JHA-2015_web.pdf , S. 10.