© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 078/20 Zur Kostenübernahme von Behandlungen nach weiblicher Genitalverstümmelung Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 2 Zur Kostenübernahme von Behandlungen nach weiblicher Genitalverstümmelung Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 078/20 Abschluss der Arbeit: 30. September 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Kostenübernahme bei gesetzlich Krankenversicherten 5 3. Kostenübernahme bei Berechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 7 3.1. Leistungsberechtigte 7 3.2. Leistungen nach §§ 4, 6 Asylbewerberleistungsgesetz 8 3.3. Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz 9 4. Kostenübernahme bei Berechtigten nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch 10 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 4 1. Einleitung Die Zahl der von weiblicher Genitalverstümmelung betroffenen Frauen in Deutschland wird nach einer durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) beauftragten Erhebung auf derzeit rund 67.000 geschätzt. Im Vergleich zu den im Februar 2017 vom BMFSFJ veröffentlichten Zahlen ist das ein Anstieg von rund 40 Prozent. Die meisten betroffenen Frauen stammen aus Eritrea, Somalia, Indonesien, Ägypten und dem Irak. Die geschätzte Zahl der bedrohten Mädchen unter 18 Jahren differiert zwischen 2.785 und 14.752.1 Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat am 6. Februar 2020 anlässlich des jährlichen Internationalen Tages gegen weibliche Genitalverstümmelung erneut deren Ende gefordert und dabei auch auf die Sterberate bei Mädchen und Frauen hingewiesen: Nach Erkenntnissen der WHO würden weltweit 25 Prozent während des Eingriffs oder an dessen Folgen sterben.2 Das BMFSFJ leitet eine Arbeitsgruppe zur Überwindung von weiblicher Genitalverstümmelung in Deutschland. Hier sind sechs Bundesressorts, die Bundesländer, die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration, die Bundesärztekammer (BÄK), das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Integra, die Dachorganisation von Nichtregierungsorganisationen, die sich in Deutschland gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzen, vertreten. In dieser Arbeitsgruppe wird auch die Einführung eines von der Bundesregierung herausgegebenen Schutzbriefes gegen weibliche Genitalverstümmelung diskutiert. Er soll dazu dienen, Familien, die in ihre Heimatländer reisen, durch die Information über drohende Gefängnisstrafen davon abzuhalten, eine Genitalverstümmelung im Heimatland durchzuführen.3 Um wirksam Hilfe für bereits Betroffene leisten zu können, berücksichtigt die Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen mit Wirkung zum Jahresbeginn 2020 die besonderen Belange von Frauen, die von einer weiblichen Genitalverstümmelung betroffen sind.4 Das Thema weibliche Genitalverstümmelung soll ebenso in die medizinische Weiterbildung integriert werden. 1 Presseerklärung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 25. Juni 2020, An die 67.000 Frauen und Mädchen in Deutschland betroffen, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles /alle-meldungen/an-die-67-000-frauen-und-maedchen-in-deutschland-betroffen/156806 (dieser sowie alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 30. September 2020). 2 SWR aktuell, WHO fordert Stopp, Weibliche Genitalverstümmelung: Fast 20.000 Mädchen in Deutschland bedroht , 6. Februar 2020, abrufbar unter: https://www.swr.de/swraktuell/genitalverstuemmelung-who-100.html. 3 Presseerklärung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vom 25. Juni 2020, An die 67.000 Frauen und Mädchen in Deutschland betroffen, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles /alle-meldungen/an-die-67-000-frauen-und-maedchen-in-deutschland-betroffen/156806. Zum Schutzbrief siehe auch Jahreskonferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 23.-25. Oktober 2019 in Elmau, Beschluss: Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung, abrufbar unter: https://bayern.de/wpcontent //uploads/2019/11/schutzbrief-gegen-weibliche-genitalverstuemmelung.pdf. In einigen Bundesländern wird ein solcher Schutzbrief bereits verwendet, siehe z. B. Freistaat Thüringen, Beauftragte für die Gleichstellung von Frau und Mann, Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung, abrufbar unter: https://www.thueringen.de/mam/th10/gb/schutzbrief_endversion.pdf. 4 Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen (HebStPrV) vom 8. Januar 2020 (BGBl. I S. 39), Anlage 1, III Nummer 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 5 So enthält die (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 der BÄK in der Fassung vom 28. April 2020 in Bezug auf die Fachrichtung Frauenheilkunde und Geburtshilfe unter „Kenntnisse“ die Symptome einer Genitalverstümmelung sowie die Grundlagen plastisch-operativer und rekonstruktiver Eingriffe bei Genitalverstümmelung. In Bezug auf die Fachrichtung Chirurgie werden als Handlungskompetenz rekonstruktive Eingriffe bei Genitalverstümmelung gefordert.5 Im Jahr 2016 aktualisierte die BÄK ihre Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung .6 2. Kostenübernahme bei gesetzlich Krankenversicherten Weibliche Genitalverstümmelungen können erhebliche physische und psychische Auswirkungen haben – so etwa Infektionen (z. B. Wund- und Harnwegsinfektion), Schmerzen, schwere Blutungen , Probleme beim Wasserlassen und beim Geschlechtsverkehr, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen , Depressionen, Ängste sowie Posttraumatische Belastungsstörungen.7 Leiden Mädchen bzw. Frauen unter den Folgen einer Genitalverstümmelung und sind dadurch gesundheitlich beeinträchtigt, werden die Behandlungskosten – soweit Betroffene gesetzlich krankenversichert sind – von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Die schwerste Form der weiblichen Genitalverstümmelung ist die Infibulation, bei der nach Entfernen der kleinen und/oder großen Schamlippen die Vaginalöffnung durch Ringe oder Klammern bzw. durch Vernarbung nach Verstümmelung und Naht partiell verschlossen wird.8 Nach § 27 Absatz 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 28 Absatz 1 Satz 1 und Absatz 3 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)9 haben gesetzlich Krankenversicherte 5 Bundesärztekammer (Arbeitsgemeinschaft der deutschen Ärztekammern), (Muster-)Weiterbildungsordnung 2018 in der Fassung vom 28. April 2020, S. 72, 84, abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin /user_upload/downloads/pdf-Ordner/Weiterbildung/20200428_MWBO_2018.pdf. Verbindlich umgesetzt wurde dies bereits u. a. in Bremen, Weiterbildungsordnung für Ärztinnen und Ärzte im Lande Bremen vom 9. September 2019, abrufbar unter: https://www.aekhb.de/aerzte/weiterbildung/weiterbildungsordnung _2020/3/87/index.html und Niedersachsen, Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Niedersachsen vom 2. April 2020, abrufbar unter: https://www.aekn.de/fileadmin/media/Downloadcenter/Weiterbildung /WBO_und_Richtlinien/WBO_01_05_2020.pdf. 6 BÄK, Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation Abk.: FGM), Stand: April 2016, abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user _upload/downloads/pdf-Ordner/Empfehlungen/2016-04_Empfehlungen-zum-Umgang-mit-Patientinnennach -weiblicher-Genitalverstuemmelung.pdf. 7 Zu den gesundheitlichen Auswirkungen einer weiblichen Genitalverstümmelung siehe im Einzelnen Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Weibliche Genitalverstümmelung in Deutschland, Gesundheitliche Auswirkungen und Präventionsmaßnahmen, Dokumentation, WD 9-023/18 vom 24. April 2018. 8 Pschyrembel-Online, Infibulation, Stand: Juni 2019; Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme – ICD, ICD 10, Z.91.73, abrufbar unter: http://www.icd-code.de/icd/code/Z91.-.html. 9 Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel 311 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 6 Anspruch auf ärztliche und psychotherapeutische Krankenbehandlung. Eine Öffnung der Infibulation (Defibulation) kann insbesondere bei entsprechenden Beschwerden als ärztliche Krankenbehandlung medizinisch indiziert sein.10 Auch eine Rekonstruktion verstümmelter Genitalien kann – mit dem Ziel, eine Normalisierung von Form und Funktion zu ermöglichen – medizinisch angezeigt sein.11 Stationär vorzunehmende Maßnahmen bedürfen dabei grundsätzlich vor Behandlungsbeginn eines Leistungsantrags der Versicherten bei ihrer zuständigen Krankenkasse. 12 Ausreichend dafür ist die Vorlage der ärztlichen Verordnung13 bei der Krankenkasse.14 Da die operative Defibulation wie auch die Rekonstruktion medizinisch indiziert sein können, ist die weibliche Genitalverstümmelung seit Oktober 2013 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) klassifiziert.15 Die Klassifikation dient der Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung und bildet damit eine Voraussetzung für die Vergütung der Behandlung.16 Dass die weibliche Genitalverstümmelung auch eine psychische, behandlungsbedürftige Krankheit zur Folge haben kann, ist anerkannt.17 Die WHO betont, die weibliche Genitalverstümmelung 10 Empfehlungen der Bundesärztekammer zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung (female genital mutilation Abk.: FGM), Stand: April 2016, abrufbar unter: http://www.bundesaerztekammer .de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/Empfehlungen/2016-04_Empfehlungen-zum-Umgangmit -Patientinnen-nach-weiblicher-Genitalverstuemmelung.pdf. 11 O`Dey, Dan, Die anatomische Rekonstruktion nach weiblicher Genitalbeschneidung (FGM/C) in: pro familia medizin, der Familienplanungsrundbrief, Dezember 2017, S. 1, abrufbar unter: https://www.profamilia .de/fileadmin/dateien/fachpersonal/familienplanungsrundbrief/profamilia_medizin-2_2017.pdf; Korzilius, Heike, Genitalverstümmelung, Hilfe für Mädchen und Frauen in: Deutsches Ärzteblatt, PP 14, Ausgabe April 2015, Seite 172, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/169186/Genitalverstuemmelung-Hilfefuer -Maedchen-und-Frauen. Im Mittelpunkt des Artikels steht das im Jahr 2013 eröffnete Desert Flower Center in Berlin. Hier finden von Genitalverstümmelung betroffene Frauen neben der Möglichkeit rekonstruktiver Operationen auch weitere medizinische und psychosoziale Hilfe und Betreuung. 12 Vgl. hierzu § 19 Absatz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV): Das Vierte Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. November 2009 (BGBl. I S. 3710, 3973; 2011 I S. 363), das zuletzt durch Artikel 310 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. 13 Vgl. hierzu § 73 Absatz 4 SGB V: Danach darf eine Krankenhausbehandlung nur verordnet werden, wenn eine ambulante Versorgung der Versicherten zur Erzielung des Heil- oder Linderungserfolgs nicht ausreicht. Die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung ist bei der Verordnung zu begründen. 14 Noftz in: Hauck/Noftz, SGB V, Stand: 07/19, § 39, Rn. 102. 15 ICD 10, Z.91.7, Weibliche Genitalverstümmelung in der Eigenanamnese, abrufbar unter: http://www.icdcode .de/icd/code/Z91.-.html. 16 Bundesministerium für Gesundheit, Begriffe A-Z, Genitalverstümmelung, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium .de/service/begriffe-von-a-z/g/genitalverstuemmelung/?L=0. 17 Hoppe, Ann Kathrin, Präventionsmaßnahmen bei drohender weiblicher Genitalverstümmelung, Bielefeld 2013, S. 21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 7 könne zu psychischen Traumata führen; weitere Experten vergleichen sie mit dem Trauma einer Vergewaltigung.18 Die psychotherapeutische Behandlung wird durch psychologische Psychotherapeuten , Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie durch Vertragsärzte vorgenommen (§ 28 Absatz 3 Satz 1 SGB V). In der ICD 10 sind Psychische Störungen wie Depressionen, Ängste, Akute Belastungsreaktionen sowie Posttraumatische Belastungsstörungen im Kapitel F aufgeführt.19 3. Kostenübernahme bei Berechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)20 bestimmt seit seinem Inkrafttreten 1993 eigenständig und abschließend Umfang und Form der Leistungen zur Sicherstellung des Lebensunterhalts für einen gesetzlich genau abgegrenzten Personenkreis, zu dem Personen gehören, die zwar kein Daueraufenthaltsrecht besitzen, ansonsten aber einen unterschiedlichen Aufenthaltsstatus haben und deren Aufenthalt in Deutschland auf unterschiedlichen Lebenssituationen beruht. Neben den sogenannten Grundleistungen sieht das Gesetz insbesondere auch Regelungen für die gesundheitliche Versorgung vor. Zu diesen Regelungen soll hier ein kursorischer Überblick gegeben werden. Ob in einem konkreten Fall ein Anspruch auf eine Kostenübernahme für eine bestimmte Leistung besteht, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. 3.1. Leistungsberechtigte § 1 Absatz 1 AsylbLG zählt die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Leistungsberechtigten abschließend auf.21 Zu den genannten Leistungsberechtigten gehören etwa Ausländerinnen und Ausländer, die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz (AsylG)22 für die Dauer ihres Asylverfahrens (vgl. § 55 AsylG) oder eine Duldung nach § 60a Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - Aufenth G)23 besitzen und sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten. 18 WHO, Female genital mutilation and other harmful practices, Health consequences of female genital mutilation, abrufbar unter: https://www.who.int/reproductivehealth/topics/fgm/mental_problems_and_fgm/en/ sowie WHO, Guidelines on the management of health complications from female genital mutilation, Policy brief, 2016, abrufbar unter: https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/206442/WHO_RHR_16.04_eng.pdf?sequence =1; Graf, Janna, Weibliche Genitalverstümmelung aus Sicht der Medizinethik, Göttingen 2013, S. 61. 19 Vgl. ICD 10, z. B. F.43.0, Akute Belastungsreaktion und ICD 10, F.43.1, Posttraumatische Belastungsstörung, abrufbar unter: http://www.icd-code.de/icd/code/F43.-.html. 20 Asylbewerberleistungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. August 1997 (BGBl. I S. 2022), das zuletzt durch Artikel 18 des Gesetzes vom 12. Juni 2020 geändert worden ist. 21 Filges in: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Übersicht über das Sozialrecht, 16. Auflage 2019, Kapitel 21, Rn. 34. 22 Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 165 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. 23 Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), das zuletzt durch Artikel 169 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 8 3.2. Leistungen nach §§ 4, 6 Asylbewerberleistungsgesetz Die Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt sind in § 4 AsylbLG geregelt. Nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG sind zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei - und Verbandmitteln zur Behandlung sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen zu gewähren. Auch chronische Erkrankungen können einen Anspruch nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG auslösen, wenn sie zu akuten Krankenzuständen führen oder mit einem Schmerzzustand verbunden sind.24 Ob die Voraussetzungen für den Anspruch nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG vorliegen, ist von der zuständigen Behörde im konkreten Einzelfall unter medizinischen Gesichtspunkten zu entscheiden .25 Mit § 4 Absatz 2 AsylbLG besteht eine spezielle Vorschrift für Schwangerschaft und Geburt.26 Danach sind werdenden Müttern und Wöchnerinnen ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und Heilmittel zu gewähren. Nach § 6 Absatz 1 AsylbLG können darüber hinaus in Einzelfällen sonstige Leistungen erbracht werden. Insbesondere kann in Fällen, in denen eine Leistungserbringung für die Behandlung chronischer Erkrankungen nicht unter § 4 Absatz 1 AsylbLG fällt, diese nach § 6 Absatz 1 AsylbLG in Betracht kommen. § 6 Absatz 1 AsylbLG bestimmt, dass sonstige Leistungen insbesondere gewährt werden können, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich, zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten oder zur Erfüllung einer verwaltungsrechtlichen Mitwirkungspflicht erforderlich sind; hierbei handelt es sich nicht um eine abschließende Aufzählung.27 Die Regelung ist als Ermessensvorschrift ausgestaltet. Gleichwohl kann hier eine Ermessensreduzierung „auf Null“ aus verfassungsrechtlichen oder europarechtlichen Gründen geboten sein, was bedeutet, dass die Leistung gewährt werden muss.28 Dabei wird zum Teil davon ausgegangen, dass zumindest bei Vorliegen der Voraussetzungen der in § 6 Absatz 1 Satz 1 2. Alternative AsylbLG ausdrücklich ge- 24 Filges in: Übersicht über das Sozialrecht, BMAS, 16. Auflage 2019, Kapitel 21, Rn. 54; vgl. Korff in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 57. Edition, Stand: 1. Juni 2020, § 4 AsylbLG, Rn. 5 f. mit weiteren Nachweisen aus Schrifttum und Rechtsprechung. 25 Filges in: BMAS, Übersicht über das Sozialrecht, 16. Auflage 2019, Kapitel 21, Rn. 54. 26 Leopold in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Auflage 2020; § 4 AsylbLG, Rn. 1. 27 Filges in: BMAS, Übersicht über das Sozialrecht, 16. Auflage 2019, Kapitel 21, Rn. 56. 28 Filges in: BMAS, Übersicht über das Sozialrecht, 16. Auflage 2019, Kapitel 21, Rn. 54; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Dr. Achim Kessler, Dr. Andre Hahn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. - Drucksache 19/2596 - Medizinische Versorgung von Menschen ohne Papiere, Bundestagsdrucksache 19/3366 vom 10. Juli 2018, S. 3; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Corinna Rüffer, Markus Kurth, Sven Lehmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 19/1242 - Zur Situation von hörbeeinträchtigten Menschen in Deutschland - , Bundestagsdrucksache 19/1620 vom 12. April 2018, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 9 nannten Fallgruppe („für die Sicherung der Gesundheit unerlässlich“) aus verfassungsrechtlichen Gründen in aller Regel allein eine Ermessensreduzierung „auf Null“ in Betracht kommt.29 Für Leistungsberechtigte mit besonderen Bedürfnissen, die nicht § 6 Absatz 2 AsylbLG30 unterfallen , ist bei der Entscheidung über die Gewährung von Leistungen nach § 6 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG die sogenannte Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten .31 3.3. Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz Für Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben, sind nach § 2 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 AsylbLG das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe (SGB XII)32 und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe von 29 Vgl. Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, Stand: 23. April 2020, § 6 AsylbLG, Rn. 41. Decker in: Oestreicher, SGB II / SGB XII: Grundsicherung für Arbeitsuchende und Sozialhilfe, EL 85, Oktober 2018, § 6 AsylbLG, Rn. 38 geht hier von einem sogenannten intendierten (Entschließungs-)Ermessen aus. 30 § 6 Absatz 2 AsylbLG bestimmt, dass für Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) besitzen und die besondere Bedürfnisse haben, wie beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe gewährt wird. In der Praxis hat diese Vorschrift derzeit keine Bedeutung, da die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Absatz 1 AufenthG die Aufnahme in Deutschland auf Grundlage eines EU-Ratsbeschlusses nach der sogenannten Massenzustromrichtlinie (Richtlinie 2001/55/EG) voraussetzt. Eine solche Aufnahme hat jedoch bislang nicht stattgefunden (Stand: April 2020), siehe: Frerichs in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Auflage, Stand: 23. April 2020, § 6 AsylbLG, Rn. 4. 31 Korff in: Rolf/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 57. Edition, Stand: 1. Juni 2020, AsylbLG, § 6, Rn. 3; Krauß in: Siefert, Asylbewerberleistungsgesetz, 2. Auflage 2020, § 6 AsylbLG, Rn. 11; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Maria Klein-Schmeink, Luise Amtsberg, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 18/8499 - Verbesserung der gesundheitlichen und psychosozialen Versorgung von Geflüchteten zur Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie, Bundestagsdrucksache 18/9009 vom 4. Juli 2016, S. 3 in der sie im Hinblick auf § 6 Absatz 1 AsylbLG ausführt: „Das AsylbLG eröffnet damit, um Einzelfällen gerecht zu werden, auch den Zugang zu einer über den Leistungsumfang nach § 4 Absatz 1 AsylbLG hinausgehenden Gesundheitsversorgung. Soweit europarechtlich oder verfassungsrechtlich geboten, vermittelt diese Norm - im Wege der Ermessensreduzierung - auch einen zwingenden Anspruch gerade für besonders vulnerable Gruppen. Denn insbesondere die Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahme-RL) vermittelt schutzbedürftigen Personen, zu denen auch Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen und psychischen Störungen gehören oder Menschen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben und die besondere Bedürfnisse haben, einen Anspruch auf die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung. Über diese Vorgaben reduziert sich das behördliche Ermessen in § 6 Absatz 1 AsylbLG für die von der Aufnahme-RL erfassten Fallgruppen aufgrund europarechtskonformer Auslegung seit Ablauf der Umsetzungsfrist auf Null.“ 32 Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe – (Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022, 3023), das zuletzt durch Artikel 3 des Gesetzes vom 12. August 2020 (BGBl. I S. 1879) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 078/20 Seite 10 Menschen mit Behinderungen (SGB IX)33 entsprechend anzuwenden (sogenannte Analogleistungen ). Gleichwohl bleiben die Analogleistungsberechtigten Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz , denn auch die Analogleistungen sind ihrem Rechtsgrund nach Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.34 Mit dem Übergang zu den Analogleistungen nach dem Ende der Wartefrist erhalten die nach § 2 Absatz 1 Satz 1 AsylbLG Leistungsberechtigten insbesondere Zugang zu einer Gesundheitsversorgung, die von ihrem Umfang her jener nach der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht.35 Sie werden nach § 264 Absatz 2 SGB V den gesetzlich Krankenversicherten leistungsrechtlich und verfahrensrechtlich gleichgestellt, sind aber gleichwohl nicht Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (sogenannte Quasiversicherung ). 4. Kostenübernahme bei Berechtigten nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch Die Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz endet nach § 1 Absatz 3 Satz 1 AsylbLG mit der Ausreise oder mit Ablauf des Monats, in dem die Leistungsvoraussetzung entfällt. Der Rechtskreiswechsel aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in andere Leistungssysteme , wie das Zweite Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II)36 und das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch, wird damit daran geknüpft, dass grundsätzlich das Entfallen der Leistungsvoraussetzung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz maßgeblich ist.37 Mithin erhalten insbesondere Asylberechtigte und Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft nach der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt wurde, Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, sofern sie die entsprechenden Anspruchsvoraussetzungen erfüllen. Damit gilt grundsätzlich, dass Personen, die Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch erhalten, nach § 5 Absatz 1 Nr. 2a SGB V der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen. Bei Personen, die Leistungen nach dem Dritten bis Neunten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch empfangen (zum Beispiel Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung), kommt grundsätzlich, ebenso wie bei nach § 2 Absatz 1 AsylbLG Leistungsberechtigten, § 264 Absatz 2 SGB V (sogenannte Quasiversicherung ) zur Anwendung. *** 33 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234), das zuletzt durch Artikel 8 des Gesetzes vom 14. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2789) geändert worden ist. 34 Korff in: Rolf/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 57. Edition, Stand: 1. Juni 2020, AsylbLG, § 2, Rn. 17 und § 9, Rn. 4; Leopold in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Auflage 2020, § 2 AsylbLG, Rn. 2 und § 9 AsylbLG, Rn. 5. 35 Filges in: BMAS, Übersicht über das Sozialrecht, 16. Auflage 2019, Kapitel 21, Rn. 75. 36 Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Mai 2011 (BGBl. I S. 850, 2094), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 12. August 2020 (BGBl. I S. 1879) geändert worden ist. 37 Korff in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK Sozialrecht, 57. Edition, Stand: 1. Juni 2020; § 1 AsylbLG, Rn. 25; Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes , Bundestagsdrucksache 19/10052 vom 10. Mai 2019, S. 18.