© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 – 074/20 Anordnung häuslicher Quarantäne nach dem Infektionsschutzgesetz gegenüber Kindern Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 2 Anordnung häuslicher Quarantäne nach dem Infektionsschutzgesetz gegenüber Kindern Aktenzeichen: WD 9 - 3000 – 074/20 Abschluss der Arbeit: 20. August 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Rechtsgrundlagen für die Anordnung häuslicher Quarantäne 4 3. Rechtsgrundlagen für die zwangsweise Absonderung in abgeschlossenen Einrichtungen 8 4. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Quarantänemaßnahmen 9 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 4 1. Einleitung In den vergangenen Wochen wurde in den Medien über Fälle berichtet, in denen auf Anordnung der zuständigen Behörden Kinder in häusliche Quarantäne geschickt wurden, nachdem sie in Schulen oder Kindertageseinrichtungen Kontakt zu Personen mit nachgewiesener COVID-19-Infektion bzw. -Erkrankung hatten.1 Dieser Sachstand fasst zusammen, auf welche Rechtsgrundlagen solche Maßnahmen gestützt werden können und unter welchen Voraussetzungen auch eine zwangsweise Absonderung von Kindern in abgeschlossenen Einrichtungen zulässig wäre. 2. Rechtsgrundlagen für die Anordnung häuslicher Quarantäne Das Infektionsschutzgesetz (IfSG)2 hält in § 28 eine Ermächtigung für die zuständigen Behörden bereit, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor übertragbaren Krankheiten zu treffen. Die Anordnung häuslicher Quarantäne kann dabei auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG in Verbindung mit § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG gestützt werden. In § 28 Abs. 1 Satz 1 heißt es: „Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt (…), so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist.“ Nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG3 kann die zuständige Behörde anordnen, dass, bezogen auf eine übertragbare Krankheit4, Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider 5 in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise abgesondert werden. Eine Absonderung in sonst geeigneter Weise kann auch in der eigenen Wohnung stattfinden.6 Hierbei 1 Vgl. unter anderem: Familien in der Krise (Hg.), Pressemitteilung zur Anordnung des Gesundheitsamtes zum Fall Dreieich vom 29. Juli 2020, abrufbar unter: https://www.familieninderkrise.com/2020/07/29/pm-zur-anordnung -des-gesundheitsamtes-zum-fall-in-dreieich/; Weichert, Rune, Angebliche Zwangsmaßnahme. Werden Kinder bei Corona-Verdacht von ihren Familien getrennt? Was ist dran an den Vorwürfen, in: Stern-online vom 16. August 2020, abrufbar unter https://www.stern.de/gesundheit/corona-verdacht--werden-kinder-von-ihrerfamilie -getrennt--das-ist-dran-an-den-vorwuerfen-9374862.html; Veltzke, Britta, Corona-Isolation für Kinder: Darf der Staat das? MDR Aktuell vom 18. August 2020, abrufbar unter https://www.mdr.de/nachrichten/politik /inland/faktencheck-corona-quarantaene-kinder-in-isolation100.html. 2 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz) vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1385). 3 Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 IfSG sind Personen, die an Lungenpest oder an von Mensch zu Mensch übertragbarem hämorrhagischen Fieber erkrankt oder dessen verdächtig sind, unverzüglich abzusondern. 4 Die Legaldefinition der übertragbaren Krankheit findet sich in § 2 Nr. 3 IfSG. 5 Diese Adressatenkreise sind in § 2 Nr. 4 bis 7 IfSG legaldefiniert. 6 Von Steinau-Steinrück, Sandra, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 214. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 5 geht der Gesetzgeber von der Freiwilligkeit der Betroffenen und damit von ihrer Einsicht in das Notwendige aus.7 Kinder, die in Schulen oder Kindertageseinrichtungen Kontakt zu Personen mit nachgewiesener COVID-19-Infektion bzw. -Erkrankung hatten, sind Ansteckungsverdächtige im Sinne dieser Vorschrift .8 Unstrittig ist zudem, dass grundsätzlich auch Kinder Adressaten von Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz sein können. Dies ergibt sich aus § 28 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 5 Satz 1 IfSG. Danach hat bei Schutzmaßnahmen gegenüber Personen, die geschäftsunfähig sind (dazu gehören Kinder bis zu sieben Jahren9) oder die in der Geschäftsfähigkeit beschränkt sind (dazu gehören Kinder und Jugendliche bis zu 18 Jahren10), derjenige für die Erfüllung der jeweiligen Verpflichtung zu sorgen, dem die Sorge für die Person zusteht. Hieraus lässt sich ableiten, dass auch Kinder Adressaten von Schutzmaßnahmen sein können - also auch einer Anordnung von Quarantäne nach § 30 IfSG. Bei der Bestimmung des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG handelt es sich um eine Ermessensvorschrift. Die zuständige Behörde ist nach § 28 IfSG zwar grundsätzlich zum Handeln verpflichtet; wie sie dem Infektionsgeschehen begegnet und welche Maßnahmen sie ergreift, steht jedoch im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Der oberste Maßstab für die Ausübung dieses Ermessens ist stets die Verhältnismäßigkeit der ergriffenen Maßnahme. Da es sich bei der Absonderung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG um eine besonders eingriffsintensive Maßnahme handelt, ist vor allem zu prüfen, ob keine gleich geeigneten, weniger eingriffsintensiven Maßnahmen zur Verfügung stehen.11 Die Anordnung der Absonderung gilt in diesem Sinne als Ultima Ratio.12 Eine Absonderung hat „in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise“ zu erfolgen . Eine geeignete Einrichtung kann bei Quarantänemaßnahmen nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG auch die Wohnung des Betroffenen sein. In der Kommentarliteratur wird davon ausgegangen, dass eine Absonderung in den eigenen Räumlichkeiten eine im Vergleich zur Absonderung in einem Krankenhaus oder einer sonstigen medizinischen Einrichtung die weniger belastende 7 Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften (Seuchenrechtsneuordnungsgesetz – SeuchRNeuG), BT-Drs. 14/2530 vom 19. Januar 2000, S. 75; Gerhardt, Jens, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 1; von Steinau-Steinrück, Sandra, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 214. 8 Die Definition dieses Begriffes findet sich in § 2 Nr. 7 IfSG. Danach ist Ansteckungsverdächtiger „eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein“. 9 Nach § 104 Nr. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist geschäftsunfähig, wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat. 10 Nach § 106 i. V. m. § 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist ein Minderjähriger beschränkt geschäftsfähig, der das siebente Lebensjahr, aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat. 11 Johann/ Gabriel in: Eckart/ Winkelmüller (Hg.), Beck Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, Stand 1. Juli 2020, § 30, Rn. 19f. 12 Gerhardt, Jens, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2020, § 30, Rn. 26. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 6 Maßnahme ist.13 Für die Beurteilung, ob eine Maßnahme verhältnismäßig ist, spielt auch deren Dauer eine wichtige Rolle. Die Maßnahme ist nur dann verhältnismäßig, wenn der zeitliche Rahmen der Anordnung das erforderliche Maß nicht überschreitet. Dafür sind medizinisch-epidemiologische Kriterien – etwa die Inkubationszeit der Krankheit sowie die Dauer der Ansteckungsgefahr – entscheidend.14 Nach den Meldungen über entsprechende Quarantäne-Anordnungen gegenüber Kindern hat unter anderem der betroffene Landkreis Karlsruhe eine Stellungnahme veröffentlicht.15 Darin wird darauf hingewiesen, dass es das Ziel solcher Maßnahmen sei, Infektionsketten wirksam zu unterbrechen und das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten. Dies gelte auch innerhalb einzelner Haushalte und für Kinder. Eltern erhielten in einer solchen Situation die Möglichkeit, ihre Kinder in dieser „zweifellos schwierigen Situation einer häuslichen Isolation zu unterstützen.“ Es sei klar, so heißt es in der Stellungnahme, dass Isolationsmaßnahmen bei Kindern abhängig vom Alter, Entwicklungsstand und auch den Bedürfnissen des einzelnen Kindes situationsbezogen umzusetzen seien. Ziel sei es, im Haushalt „nach Möglichkeit“ eine zeitliche und räumliche Trennung von anderen Haushaltsmitgliedern einzuhalten. Kontakte innerhalb der Familie seien daher nicht vollständig untersagt. Das eröffne den notwendigen Spielraum, um den Kontaktbedürfnissen von Kindern Rechnung zu tragen. Auch der Kreis Offenbach hat in einer entsprechenden Stellungnahme16 darauf hingewiesen, dass stets im Einzelfall geklärt werden müsse, welche Maßnahmen während der Quarantäne umsetzbar seien. Dabei spielten die unterschiedlichsten Aspekte eine Rolle – beispielsweise das Alter der Kinder, ihr Entwicklungsstand und die jeweiligen Wohnverhältnisse. „Es geht also keineswegs darum, (Klein)Kinder von ihren Eltern und Geschwistern einfach komplett zu trennen, sondern – wo möglich und vertretbar – Alternativen im täglichen Umgang miteinander zu finden.“ Natürlich dürften und sollten sich die Eltern weiterhin vollumfänglich und altersgerecht um das Kind kümmern. Es bedürfe deshalb in jedem Einzelfall immer einer Abwägung zwischen dem Willen des Gesetzgebers und der tatsächlich möglichen Umsetzung. Alle Beteiligten arbeiteten gemeinsam daran, die Balance zwischen Gesundheitsfürsorge und dem seelischen Wohl der Kinder in dieser besonderen Situation für jede Familie zu finden. 13 Johann/ Gabriel in: Eckart/ Winkelmüller (Hg.), Beck Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, Stand 1. Juli 2020, § 30, Rn. 21. 14 Johann/ Gabriel in: Eckart/ Winkelmüller (Hg.), Beck Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, Stand 1. Juli 2020, § 30, Rn. 22. 15 Stadt und Landkreis Karlsruhe (Hg.), Statement zur Aktuellen Berichterstattung über das Gesundheitsamt Karlsruhe vom 6. August 2020, abrufbar unter https://corona.karlsruhe.de/aktuell/statement-zur-aktuellen-berichterstattung -ueber-das-gesundheitsamt-karlsruhe. 16 Kreis Offenbach (Hg.), Stellungnahme zur Pressemitteilung von „Familien in der Krise“ vom 29. Juli 2020, bezugnehmend auf die Quarantäneverfügungen anlässlich eines bestätigten COVID-19-Falles in der Kita Schulstraße in Dreieich vom 31. Juli 2020, abrufbar unter https://www.kreis-offenbach.de/Themen/Gesundheit-Verbraucher -schutz/akut/Corona/Stellungnahme.php?object=tx,2896.5&ModID=7&FID=2896.9176.1&Nav ID=2896.1061.1&La=1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 7 Vor dem Hintergrund dieser differenzierten Umsetzung von Quarantäne-Anordnungen in der Praxis wird deutlich, dass durch die Anordnung von Quarantäne weder das Sorgerecht noch die Aufsichtspflicht der Eltern beeinträchtigt werden, im Gegenteil: Als Sorgeberechtigte sind die Eltern vielmehr ausdrücklich verpflichtet, für die Umsetzung der Maßnahmen und die Erfüllung der daraus folgenden Verpflichtungen zu sorgen. (§ 16 Abs. 5 IfSG). Bei der Entscheidung der zuständigen Behörde muss zudem der Aspekt des Kindeswohls berücksichtigt werden. Die Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“ sind sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe, für die es in Gesetzestexten keine rechtsverbindliche Definition gibt. Kinderrechte sind insbesondere in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK)17 festgeschrieben. Zu den Grundprinzipien der UN-KRK zählt die Einhaltung des „Kindeswohls“ gemäß Art. 3 Abs. 1.18 Danach ist „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, (…) das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Eine Definition des Begriffs des Kindeswohls liefert der Vertragstext nicht. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes führt dazu aus, dass das Kindeswohl anpassungsfähig und individuell je nach dem konkreten Einzelfall unter Beachtung der besonderen Situation, des persönlichen Kontextes sowie der Bedürfnisse des jeweiligen Kindes zu bestimmen sei.19 Wichtig für die Beurteilung im gegebenen Zusammenhang ist der Hinweis auf die zitierte Formulierung der Kinderrechtskonvention, wonach das Kindeswohl „ein“, aber nicht „der“ (einzige) Gesichtspunkt ist, der vorrangig zu berücksichtigen sei. Dies mache deutlich, dass dem Kindeswohl kein absoluter Vorrang gegenüber anderen öffentlichen Belangen zukomme und dass unter Umständen auch anderen Belangen der Vorzug gegeben werde müsse. Im Einzelfall könne das Kindeswohl deshalb durchaus hinter anderen rechtlich geschützten Interessen zurücktreten. Es sei aber in jeder Situation, die Kinder betreffe, „als Optimierungsgebot mit dem Ziel bestmöglicher Realisierung einzubeziehen“. 20 17 UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, A/RES/44/25, abrufbar unter: https://www.kinderrechtskonvention .info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/. Mit Unterzeichnung und Ratifizierung der UN-KRK ist diese zu einem Teil der deutschen Rechtsordnung geworden und hat den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Vgl. dazu Wapler, Friederike, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland. Eine Untersuchung am Beispiel des Kindeswohlprinzips (Art. 3 Abs. 2 KRK) und der Beteiligungsrechte (Art. 12 KRK), in: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB), 3/2019, S.252-273, abrufbar unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0034-1312-2019-3-252/umsetzung-und-anwendung-der-kinderrechtskonvention -in-deutschland-jahrgang-67-2019-heft-3. 18 Ausführlich dazu: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zum Kindeswohl in Artikel 3 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention, WD 9 – 3000 – 068/17, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/546736/223ceb4241f782eea38f8acec337e2d3/WD-9-068-17-pdf-data.pdf 19 Kinderrechtsausschuss, General Comment No. 14, 29. Mai 2013, S. 9. 20 Schmahl, Stefanie, Kinderrechtskonvention mit Zusatzprotokoll, Handkommentar, 2. Auflage 2017, Art. 3 Rn. 7 mit weiteren Nachweisen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 8 Bei der Anordnung einer häuslichen Quarantäne nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG kann die zuständige Behörde daher auch unter Berücksichtigung des Kindeswohles gegebenenfalls zu dem Schluss gelangen, dass dem Gesundheitsschutz der Allgemeinheit Vorrang gebührt. 3. Rechtsgrundlagen für die zwangsweise Absonderung in abgeschlossenen Einrichtungen Nach § 30 Abs. 2 IfSG ist auch eine Zwangsabsonderung möglich: „Kommt der Betroffene den seine Absonderung betreffenden Anordnungen nicht nach oder ist nach seinem bisherigen Verhalten anzunehmen, dass er solchen Anordnungen nicht ausreichend Folge leisten wird, so ist er zwangsweise durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses abzusondern. Ansteckungsverdächtige und Ausscheider können auch in einer anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung abgesondert werden. Das Grundrecht der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz) kann insoweit eingeschränkt werden.“ Da im Falle der Zwangsabsonderung eine Freiheitsentziehung vorliegt, gilt nach § 30 Abs. 2 Satz 4 IfSG Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG)21 entsprechend. Eine Freiheitsentziehung muss danach grundsätzlich vom Amtsgericht auf Antrag der für den Vollzug des IfSG zuständigen Behörde angeordnet werden. Dieser Antrag ist zu begründen und muss unter anderem Angaben zur Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung und zu ihrer erforderlichen Dauer enthalten (§ 417 Abs. 2 Nr. 3 und 4 FamFG). Neben einer Anordnung im ordentlichen Verfahren kann das Gericht auch nach § 427 FamFG eine vorläufige Freiheitsentziehung verhängen, wenn es dringende Gründe für ein sofortiges Tätigwerden gibt. In unaufschiebbaren Fällen kann die nach dem IfSG zuständige Behörde auch eine vorläufige Unterbringung anordnen, wenn eine gerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig herbeigeführt werden kann (§ 428 FamFG i. V. m. § 30 Abs. 2 IfSG). Auch bei einer Zwangsabsonderung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Es darf keine andere gleich geeignete Schutzmaßnahme zur Verfügung stehen und die Absonderung muss unter Berücksichtigung der Krankheit angemessen sein.22 Insbesondere ist die durch § 28 Abs. 1 IfSG normierte Voraussetzung der Erforderlichkeit zu beachten („soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung der übertragbaren Krankheit erforderlich ist“).23 Die Anordnung muss daher in zeitlicher Hinsicht so kurz wie möglich gehalten werden. Die bereits erwähnte Stellungnahme des Landkreises Karlsruhe24 betont, dass eine solche Zwangsmaßnahme „Extremfällen“ vorbehalten sei und dass von der Regelung des § 30 Abs. 2 Satz 2 IfSG im Falle von COVID-19 bisher kein Gebrauch gemacht worden sei. Diese Maßnahme 21 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586, 2587), zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 19. März 2020 (BGBl. I S. 541). 22 Mers, Jutta, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 248 f. 23 Erdle, Helmut, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 6. Auflage 2018, § 30 Rn. 4. 24 Stadt und Landkreis Karlsruhe (Hg.), Statement zur Aktuellen Berichterstattung über das Gesundheitsamt Karlsruhe vom 6. August 2020, abrufbar unter https://corona.karlsruhe.de/aktuell/statement-zur-aktuellen-berichterstattung -ueber-das-gesundheitsamt-karlsruhe. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 074/20 Seite 9 sei Ultima Ratio, falls die Eltern durch ihr Verhalten nicht dafür Sorge trügen, dass Außenstehende durch das Kind nicht angesteckt werden können. Wenn es aber gleichwohl notwendig werden sollte, ein Kind zum Schutz anderer zwangsweise zu isolieren, komme nur eine Unterbringung zusammen mit einem oder beiden Elternteilen in Betracht: „An eine Trennung des Kindes von den Eltern ist hier überhaupt nicht gedacht.“ Der Landkreis Karlsruhe weist abschließend darauf hin, dass eine Behörde auch in solchen Extremfällen handlungsfähig und in der Lage sein müsse, die notwendigen Maßnahmen durchzusetzen, um die Gesundheit anderer zu schützen . 4. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Quarantänemaßnahmen Die Quarantänemaßnahme gilt als einschneidendste Maßnahme bei der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten.25 In der Literatur werden teilweise Bedenken gegen die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit des § 30 IfSG geäußert. Wie bereits erwähnt, setzt die Absonderung nach § 30 Abs. 1 IfSG der Gesetzesbegründung zufolge die Freiwilligkeit und damit die Einsicht des Betroffenen in das Notwendige voraus. Dennoch kann die Absonderung nach dieser Vorschrift auch durch Verwaltungsakt angeordnet werden . In derartigen Fällen entfaltet die Anordnung der Absonderung unmittelbare Regelungswirkung . Deshalb wird in der Literatur die Frage aufgeworfen, inwiefern in solchen Fällen noch von einer freiwilligen Absonderung gesprochen werden könne, und die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift in Zweifel gezogen.26 Zudem stelle bereits die Anordnung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG (und nicht erst die Zwangsabsonderung nach § 30 Abs. 2 IfSG) eine Verkürzung des Schutzbereichs der Freiheit der Person dar, da die Zuwiderhandlung nach § 30 Abs. 1 Satz 2 mit Strafe bedroht sein könne (§ 74 IfSG) und somit eine psychische Zwangswirkung bestehe. Deshalb wird in der Kommentarliteratur die Frage aufgeworfen, ob auch in diesem Fall der Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) gelte.27 Zudem liege ein Verstoß gegen das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG vor, da das Gesetz in § 30 Abs. 1 IfSG das eingeschränkte Grundrecht der Freiheit der Person nicht zitiere. In der Folge seien auch Maßnahmen nach § 30 Abs. 2 IfSG nicht denkbar, da diese eine wirksame Quarantäneanordnung voraussetzten. *** 25 Mers, Jutta, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 253; von Steinau-Steinrück, Sandra, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 216. 26 Johann/ Gabriel in: Eckart/ Winkelmüller (Hg.), Beck Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, Stand 1. Juli 2020, § 30, Rn. 24. 27 Kießling, Andrea, in: Kießling (Hg.), Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 1. Auflage 2020, § 30 Rn. 29 f.