© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 072/20 Jugendgesundheitsuntersuchungen Teilnahmeraten und Studien zur Wirksamkeit im Hinblick auf das Erkennen von Misshandlungen Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 2 Jugendgesundheitsuntersuchungen Teilnahmeraten und Studien zur Wirksamkeit im Hinblick auf das Erkennen von Misshandlungen Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 072/20 Abschluss der Arbeit: 2. September 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Teilnahmerate an den Jugendgesundheitsuntersuchungen 6 2.1. Teilnahmerate an der J1-Untersuchung 6 2.2. Teilnahmerate an der J2-Untersuchung 6 3. Maßnahmen zur Steigerung der Teilnahmeraten an der J1-Untersuchung 7 3.1. Bayern 7 3.2. Mecklenburg-Vorpommern 7 3.3. Rheinland-Pfalz und Brandenburg 8 4. Studien und weitere Veröffentlichungen zur Wirksamkeit von Kinder bzw. Jugendvorsorgeuntersuchungen im Hinblick auf das Erkennen eines Missbrauchs 9 5. Kinderschutzleitlinie 11 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 4 1. Einleitung Durch das Angebot von Früherkennungsuntersuchungen sollen Kinder und Jugendliche in Deutschland eine regelmäßige ärztliche Betreuung erhalten. Bis zum sechsten Lebensjahr sind die U1- bis U9-Untersuchungen vorgesehen. Die Jugendgesundheitsuntersuchung J1 ist eine Früherkennungsuntersuchung für Mädchen und Jungen, die zwischen dem vollendeten 13. und vollendeten 14. Lebensjahr durchgeführt werden soll. Die rechtliche Grundlage bildet § 26 Absatz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch– Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V)1, wonach gesetzlich krankenversicherte Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres einen Anspruch haben auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten, die ihre körperliche , geistige oder psycho-soziale Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden. Konkretisiert wird dies für Jugendliche in der vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) gemäß § 26 Absatz 2 i. V. m. § 92 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3 und Absatz 4 SGB V beschlossenen Richtlinie zur Jugendgesundheitsuntersuchung, siehe Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Jugendgesundheitsuntersuchung (Jugendgesundheitsuntersuchungs -Richtlinie) in der Fassung vom 26. Juni 1998, in Kraft getreten am 28. August 1998, zuletzt geändert am 21. Juli 2016, veröffentlicht im Bundesanzeiger AT 12. Oktober 2016 B4, in Kraft getreten am 1. Januar 2017, abrufbar unter: https://www.g-ba.de/downloads /62-492-1270/RL-JUG_2016-07-21_iK-2017-01-01.pdf (dieser sowie alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 24. August 2020). Neben einer körperlichen Untersuchung versucht die Ärztin bzw. der Arzt bei einer J1-Untersuchung durch ein Gespräch die psychische Verfassung des Jugendlichen zu beurteilen. Inhalt der Untersuchung sind u. a. die Überprüfung der Skelettentwicklung, der Impfstatus, die Erfassung des Blutdrucks, das Vorliegen chronischer Erkrankungen sowie die Besprechung der familiären Situation, der schulischen Entwicklung, der Pubertätsentwicklung sowie das Eingehen auf gesundheitsgefährdendes Verhalten wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum. Informationen zur Anamnese und zur körperlichen Untersuchung sowie die veranlassten Maßnahmen werden in einem standardisierten bundeseinheitlichen Berichtsvordruck zur Jugendgesundheitsuntersuchung eingetragen, siehe Bekanntmachung der Richtlinie zur Jugendgesundheitsuntersuchung vom 26. Juni 1998, Bundesanzeiger Nr. 159 vom 27. August 1998, Seite 12.723/12.724, abrufbar unter: https://www.gba .de/downloads/62-492-159/RL_Jugend_1998-06-26.pdf. Die J1-Untersuchung wurde 1998 in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen, so dass die Kosten von der GKV übernommen werden. Eine weitere Gesundheitsuntersuchung ist die J2-Untersuchung im Alter von 16 bis 17 Jahren mit den Schwerpunkten Pubertäts- und Sexualitätsentwicklung, Schilddrüsenerkrankungen, Diabetes -Vorsorge, Haltungs-, Sozialisations- und Verhaltensstörungen, Medienverhalten und Umgang 1 Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), das zuletzt durch Artikel 311 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 5 mit Drogen. Die J2-Untersuchung ist keine gesetzlich festgeschriebene Krankenkassenleistung. Einige Krankenkassen übernehmen dennoch die Kosten, siehe z. B. Kassenärztliche Bundesvereinigung, Vertrag nach § 73c SGB V über die Durchführung zusätzlicher Früherkennungsuntersuchungen (J2) im Rahmen der Kinder- und Jugendmedizin zwischen der Techniker Krankenkasse und der Arbeitsgemeinschaft Vertragskoordinierung, vertreten durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung, 2015, abrufbar unter: https://www.kvwl.de/arzt/recht/kvwl/praevention/tk/tk_j2_vertrag.pdf. Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen sollen sicherstellen, dass Defekte und Erkrankungen möglichst schnell durch einen Kinder- und Jugendarzt oder Hausarzt erkannt werden , um früh eine Therapie einleiten zu können. Zugleich können sie dazu beitragen, Fälle von Vernachlässigung, Verwahrlosung, Kindesmisshandlung oder sexuellem Missbrauch zu erkennen .2 In den meisten Bundesländern ist deshalb ein verbindliches Einlade- und Meldewesen zu bestimmten Früherkennungsuntersuchungen eingeführt worden. In wenigen Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg und Hessen) ist die Teilnahme an den Untersuchungen U1 bis U9 als Pflicht ausgestaltet. Zu welchen der Früherkennungsuntersuchungen (U1–J1) aufgefordert wird, ist nicht einheitlich geregelt. Danach wird zur Teilnahme an – je nach Bundesland unterschiedlichen – Früherkennungsuntersuchungen eingeladen. Wenn die Untersuchung nicht durchgeführt wird, dann wird die zuständige Behörde informiert, die nach eigenem Ermessen die Aufgabe hat, diesem Sachverhalt nachzugehen, siehe z. B. Nordrhein-westfälische Verordnung zur Datenmeldung der Teilnahme an Kinderfrüherkennungsuntersuchungen /U-Untersuchungen (U-Untersuchung-TeilnahmedatenVO – UTeilnahmeDatVO) vom 10. September 2008, geändert durch Verordnung vom 13. Juli 2010 (GV. NRW. S. 412), abrufbar unter: https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen ?v_id=10000000000000000719#det332610. Die vorliegende Dokumentation befasst sich mit der Teilnahmerate an den Jugendgesundheitsuntersuchungen , mit Maßnahmen zur Steigerung dieser Teilnahmerate sowie mit Studien zur Wirksamkeit von Kinder- bzw. Jugendvorsorgeuntersuchungen im Hinblick auf das Erkennen eines Missbrauchs. Abschließend wird die Kinderschutzleitlinie vorgestellt, an deren Entwicklung 82 Fachgesellschaften, Organisationen, Bundesministerien und Bundesbeauftragte beteiligt waren. Sie soll der Erkennung, Feststellung und Sicherung von Kindesmissbrauch dienen. 2 Der Pschyrembel Online definiert Kindesmissbrauch als „Anwendung körperlicher und psychischer Gewalt gegenüber Kindern durch Erwachsene, insbesondere durch Eltern, Sorgeberechtigte und Erzieher. Kindesmisshandlung beinhaltet Vernachlässigung, körperlicher Kindesmissbrauch, sexuellen Missbrauch sowie emotionale und psychische Misshandlung.“ Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 6 2. Teilnahmerate an den Jugendgesundheitsuntersuchungen 2.1. Teilnahmerate an der J1-Untersuchung Statistiken zur Inanspruchnahme der Jugendgesundheitsuntersuchungen liegen nicht vor. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland hat indes die Thematik in Bezug auf die J1-Untersuchung näher betrachtet: Riens, Burgi/Mangiapane, Sandra, Teilnahme an der Jugendgesundheitsuntersuchung J1 – Eine retrospektive Kohortenstudie, Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Hrsg.), 2023, abrufbar unter: https://www.versorgungsatlas.de/fileadmin/ziva_docs/42/J1_Bericht _Final_20130426.pdf sowie Schulz, Mandy/Goffrier, Benjamin Goffrier/Bätzing-Feigenbaum, Jörg, Teilnahme an der Jugendgesundheitsuntersuchung J1 in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – Update für den Zeitraum 2009 bis 2014, Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Hrsg.), 2016, abrufbar unter: https://www.versorgungsatlas.de/fileadmin/ziva_docs/77/VA- 77_J1-Update_Bericht_V2.pdf. Diese beiden Studien analysieren die Teilnahmeraten an der J1-Untersuchung auf Basis bundesweiter vertragsärztlicher Abrechnungsdaten. Der erstgenannten Studie liegen Zahlen aus vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der Jahre 2007 bis 2010 zugrunde, während die zweitgenannte Studie auf Daten aus den Jahren 2009 bis 2014 zurückgreift. Für die 15-Jährigen des Jahres 2010 ergibt sich danach eine bundesweite kumulierte Inanspruchnahmerate an der J1-Untersuchung von 43,4 Prozent mit nur geringfügigen geschlechtsspezifischen Unterschieden (Jungen 43,8 Prozent, Mädchen 43 Prozent). Die Beteiligung an der J1-Untersuchung zeige starke Variationen sowohl auf Kreis- als auch auf Ebene der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) (KV-Ebene: 35,5 bis 52,6 Prozent, Kreis-Ebene: 21 bis 69,7 Prozent). Jugendliche , die im ländlichen Raum (38,3 Prozent) oder ländlichen Umland (41,5 Prozent) leben, hätten sich seltener an einer J1-Untersuchung beteiligt als Jugendliche im verdichteten Umland (44,8 Prozent) oder in Kernstädten (44,4 Prozent). Die J1-Inanspruchnahmeraten der Geburtsjahrgänge 1997 bis 1999 schwankten im Bundesdurchschnitt zwischen 46,6 und 48,6 Prozent. Die höchsten Raten habe in allen drei Jahrgängen Rheinland -Pfalz mit Werten zwischen 58 und über 60 Prozent erreicht, allerdings - wie auch auf Bundesebene - zuletzt leicht rückläufig. Die größten Zuwächse im Untersuchungszeitraum habe Mecklenburg-Vorpommern mit 6,8 Prozentpunkten aufgewiesen. Auf Kreisebene sei eine große Spanne der J1-Teilnahmeraten von 53 Prozentpunkten feststellbar. 2.2. Teilnahmerate an der J2-Untersuchung Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Michael Theurer, Renata Alt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP, Gesundheitsvorsorge bei Kindern und Jugendlichen: Teilnahme an U-Untersuchungen und J-Untersuchungen, Drucksache 19/18814 vom 22. April 2020, abrufbar unter: https://dip21.bundestag .de/dip21/btd/19/188/1918814.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 7 Zur Frage, wie hoch die Teilnahmerate an der J2-Untersuchung sei, antwortete die Bundesregierung : „Da es sich bei der J2-Untersuchung um eine zusätzliche Vorsorgeuntersuchung für Jugendliche im Alter von 16 bis 17 Jahren handelt, die nicht durch die Richtlinie des G-BA geregelt wird und auch nicht von allen Krankenkassen erstattet wird, liegen anders als zur J1-Untersuchung keine bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten vor.“ Lemke, Bernd, AOK Plus, Was ist eigentlich mit den Eltern los?, 2019, abrufbar unter: https://presseblog.aokplus-online.de/was-ist-eigentlich-mit-den-eltern-los/. Dem Beitrag liegt eine Erhebung der AOK Plus zur Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen von Kindern und Jugendlichen in Sachsen und Thüringen zugrunde. Danach gehen dort zur J2-Untersuchung lediglich 17 Prozent, während knapp die Hälfte der Jugendlichen die J1-Untersuchung besuchten. 3. Maßnahmen zur Steigerung der Teilnahmeraten an der J1-Untersuchung Einige Bundesländer haben sich zum Ziel gesetzt, die Teilnahmeraten an der J1-Untersuchung zu erhöhen. Beispielhaft seien genannt: 3.1. Bayern Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), Steigerung der Teilnahmerate bei der Jugendvorsorgeuntersuchung J1 möglich, 2019, abrufbar unter: https://www.lgl.bayern.de/gesundheit/praevention/kindergesundheit/jugendgesundheitsuntersuchung /j1_2019_steigerung_teilnahmeraten.htm sowie LGL, Stiftung Kindergesundheit, Stiftung für Präventive Medizin und Epigenetik, Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e. V. Landesverband Bayern, Dein Ticket zur J1-Untersuchung, abrufbar unter: http://j1-untersuchung.de/. Das LGL entwickelte zusammen mit der Stiftung Kindergesundheit die Informationskampagne „Dein Ticket zur J1“, verteilte einen entsprechenden Flyer in zwei bayerischen Landkreisen auf unterschiedliche Weise (als Beilage in einem Brief nach Hause bzw. per Brief nach Hause und zusätzlich per Erhalt in der Schule) und evaluierte im Anschluss die Auswirkung auf die Teilnahmerate . Nach Durchführung der Informationskampagne lagen die Teilnahmeraten an der J1-Untersuchung um rund 9 bzw. um 16 Prozentpunkte höher als vor der Durchführung. Seit Sommer 2017 wird der Flyer „Dein Ticket zur J1“ daher bayernweit in den sechsten Klassen durch die Gesundheitsämter verteilt. 3.2. Mecklenburg-Vorpommern Robert Koch-Institut (RKI), Epidemiologisches Bulletin, Vorsorgeuntersuchungen bei Jugendlichen (J 1), Erinnern nützt – Pilotaktion zur Steigerung der Teilnahme an der Vorsorgeuntersuchung J 1 in Mecklenburg-Vorpommern, 2012, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content /Infekt/EpidBull/Archiv/2012/Ausgaben/37_12.pdf?__blob=publicationFile. Zur Verbesserung der Inanspruchnahme der J1-Untersuchung wurde in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2011 auf Initiative des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGuS) eine Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 8 zweigeteilte Pilotaktion gestartet, durch die ca. 3.700 Jugendliche angesprochen wurden. Dazu wurden im ersten Teil alle Schüler der sechsten Klassen mittels in den Schulen ausgeteilter Flyer und Informationsbriefe an die Eltern aus drei ausgewählten kreisfreien Städten/Kreisen an die J1-Untersuchung bzw. die empfohlenen Impfungen erinnert. Im zweiten Teil dieser Pilotaktion wurden in drei weiteren ausgewählten Kreisen/kreisfreien Städten über eine Servicestelle Elternbriefe zur Erinnerung an die J1-Untersuchung an die Haushalte aller Kinder verteilt, die ihren zwölften Geburtstag begingen (ca. 1.200 Kinder). Ziel war es, durch eine Auswertung der bei der KV Mecklenburg-Vorpommern im ersten Halbjahr 2010 und 2011 abgerechneten J1-Untersuchungen die Ergebnisse vor und nach dieser Aktion zu vergleichen und auszuwerten. Durch beide Teilaktionen wurde angestrebt, die Teilnahmequote an den J1-Untersuchungen und damit auch die Impfquoten der Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern kontinuierlich zu erhöhen. Im Ergebnis habe sich die Teilnahmerate der 13-Jährigen in den Kreisen, in denen die Erinnerungsschreiben über die Schulen verteilt wurden, von 40 auf 64 Prozent erhöht. In den Kreisen, in denen über die Servicestelle Elternbriefe versandt wurden, sei dieser Anteil von 30 auf 47 Prozent gestiegen. Auffällig sei jedoch, dass nach Beendigung der Erinnerungsaktion der Anstieg deutlich geringer ausgefallen bzw. völlig erloschen sei. Dieses zeige, dass eine aktive stetige Erinnerung erforderlich zu sein scheine. Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst im Land Mecklenburg-Vorpommern (Gesetz über den Öffentlichen Gesundheitsdienst - ÖGDG M-V) vom 19. Juli 1994, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 16. Mai 2018 (GVOBl. M-V S. 183), abrufbar unter: http://www.landesrecht -mv.de/jportal/portal/page/bsmvprod.psml?nid=0&showdoccase=1&doc.id=jlr- %C3%96GDGMVrahmen&st=lr. Mittlerweile hat Mecklenburg-Vorpommern gesetzlich festgeschrieben, dass das Landesamt für Gesundheit und Soziales auf eine vermehrte Inanspruchnahme der Jugendgesundheitsuntersuchungen hinwirkt, in dem es schriftlich über die Jugendgesundheitsuntersuchung informiert und zur Teilnahme auffordert. 3.3. Rheinland-Pfalz und Brandenburg Hock/Berchner/Blankenstein et al., Zum aktuellen Stand der Kindervorsorgeprogramme, Ergebnisse des ersten bundesweiten Arbeitstreffens 2011 in Frankfurt am Main in: Gesundheitswesen, 2013; 75(03): 143-148, abrufbar unter: https://www.thieme-connect.com/products/ejournals /html/10.1055/s-0032-1331731, Rheinland-Pfalz, Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung, Zentrale Stelle Landeskinderschutzgesetz , Aufgaben der Zentralen Stelle nach § 5 Landesgesetz zum Schutz von Kindeswohl und Kindergesundheit (LKindSchuG) sind:, abrufbar unter: https://lsjv.rlp.de/de/unsere-aufgaben /kinder-jugend-und-familie/landesjugendamt/zentrale-stelle-landeskinderschutzgesetz/ sowie Land Brandenburg, Landesamt für für Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Gesundheit, Abteilung Gesundheit, Zentrales Einladungs- und Rückmeldewesen (ZER), abrufbar unter: https://lavg.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.430396.de. Um die Teilnahmerate an der J1-Untersuchung zu steigern, laden auch die Bundesländer Brandenburg und Rheinland-Pfalz zu der J1-Untersuchung ein. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 9 4. Studien und weitere Veröffentlichungen zur Wirksamkeit von Kinder bzw. Jugendvorsorgeuntersuchungen im Hinblick auf das Erkennen eines Missbrauchs Zum Nutzen verdachtsunabhängiger Früherkennungsuntersuchungen im Hinblick auf das Erkennen eines Missbrauchs wird auf folgende Studien bzw. Veröffentlichungen hingewiesen: Krüger, Paula/Lätsch, David/Voll, Peter et al., Übersicht und evidenzbasierte Erkenntnisse zu Maßnahmen der Früherkennung von innerfamiliärer Gewalt bzw. Kindeswohlgefährdungen , Schlussbericht, Schweizerisches Bundesamt für Sozialversicherungen (Hrsg.), Forschungsbericht Nr. 1/18, 2017. Der Forschungsbericht gibt Auskunft darüber, welche Früherkennungsmaßnahmen von Kindeswohlgefährdungen im In- und Ausland existieren, welche Erkenntnisse es zu deren Wirksamkeit gibt, was über den adäquaten Umgang mit den Ergebnissen eines Screenings bekannt ist und welche Empfehlungen sich – bezogen auf die Schweiz – ableiten lassen. Ein Ergebnis lautet: „[…], dass alleine darin Einigkeit besteht, dass Gesundheitsfachpersonen und anderen Berufsgruppen […] eine entscheidende Rolle bei der Früherkennung innerfamiliärer Gewalt bzw. Kindeswohlgefährdungen zukommt. Sie werden aufgerufen, mutig zu sein und das Thema Gewalt im Gespräch mit ihren Patient(inn)en […] anzusprechen . Dabei wird Gesundheitsfachpersonen […] häufiger empfohlen, Fragen nach Gewalterfahrungen routinemäßig in die Anamnese zu integrieren, während den Vertreter(inne)n der anderen Berufsgruppen häufiger zu einem verdachtinduzierten Vorgehen geraten wird.“ (S. X). Darüber hinaus werden Instrumente und Verfahren zur Erkennung von und zu Vorgehen bei innerfamiliärer Gewalt und anderen Kindeswohlgefährdungen aus den Ländern Schweiz, Deutschland, Niederlande und Frankreich gelistet. Im Bereich der Pädiatrie werden als Verfahren vor allem Checklisten und ein Anhaltsbogen zur Einschätzung genannt (S. 78 ff.). Hingewiesen wird zudem auf die aus der Literaturrecherche ersichtlichen Risiken der falsch-negativen Befunde, die zu falscher Sicherheit führen könnten und der falsch-positiven Befunde, die zu ungerechtfertigten Belastungen der Eltern und ihrer Kinder führen könnten. Beides gelte potentiell auch dann, wenn ein Screening institutionell eingebettet sei und die Kommunikation optimal gestaltet werde. Zum Einbezug der Jugendlichen wird darauf hingewiesen, dass im Jugendalter das Kind im Rahmen der Gesundheitsuntersuchungen in der Regel ohne Beisein der Eltern untersucht werde. Dies erlaube es, neben der Ansprache von Themen wie Alkohol- und Drogenkonsum auch auf mögliche Gewalterfahrungen einzugehen. Es sollten direkte Fragen gestellt und Suggestivfragen vermieden werden. Wichtig sei zudem, dass Schulungen zu methodischen Aspekten der Gesprächsführung mit Eltern und Kind durchgeführt würden. Hock/Graul/Herb et al., Nicht-Teilnahmen an Kindervorsorgeuntersuchungen als Indiz für Kindeswohlgefährdung? – Eine retrospektive Analyse von 605 an das Jugendamt gemeldeten Fällen in: Das Gesundheitswesen 2017; 79(04): 261 – 267, abrufbar unter: https://www.thieme-connect.de/products/ejournals/html/10.1055/s-0042-107945. In dieser Studie wurde die Nicht-Teilnahme an Kindervorsorgeuntersuchungen in Hessen als möglicher Hinweis für eine Kindeswohlgefährdung untersucht. Dabei wurden 605 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 10 Meldungen über nicht durchgeführte Kindervorsorgeuntersuchungen aus dem Jahr 2012 retrospektiv analysiert. Die Erfassung jedes Bearbeitungsfalles erfolgte über einen standardisierten , an das Jugendamt gerichteten Fragebogen sowie teilweise über eine zusätzliche Befragung der zuständigen Mitarbeiterin bzw. des zuständigen Mitarbeiters. In 60 Fällen (10 Prozent) habe auch am Ende der Bearbeitung keine Bescheinigung über eine durchgeführte Untersuchung vorgelegen. Dies sei zum Teil auch begründet worden (u. a. mit Auslandsaufenthalt , Umzug, Versäumnis, Krankheit, aber auch Unkenntnis des Gesetzes). Während des Erhebungszeitraumes der Studie seien zwar neun der gemeldeten Fälle (1,5 Prozent) dem Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung bereits bekannt gewesen, jedoch sei durch die Meldungen über die nicht durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen kein neuer Fall einer Kindeswohlgefährdung festgestellt worden. Im Ergebnis heißt es: „Nicht durchgeführte Kindervorsorgeuntersuchungen können, wie bereits Studien in anderen Bundesländern nahelegten, ein Indiz für Kindeswohlgefährdung sein, müssen es aber nicht.“ Freistaat Sachsen, Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, Studie: Evaluation des Sächsischen Kindergesundheits- und Kinderschutzgesetzes (SächsKiSchG) vom 11. Juni 2010, 2014, abrufbar unter: https://www.dresden.de/media/pdf/jugend/jugendkinderschutz /Evaluationsbericht_Kinderschutzgesetz.pdf. In Sachsen wurde im Jahr 2010 das SächsKiSchG verabschiedet. Das Gesetz beschreibt die Bildung lokaler Netzwerke und die Früherkennungsuntersuchungen als zentrale Instrumente , um Gefährdungssituationen frühzeitig erkennen und einer Eskalation vorbeugen zu können. Die vorliegende Evaluation des Gesetzes beinhaltet auch auf Grundlage von Befragungen die Einschätzungen von Ärzten, Jugend- und Gesundheitsämtern zu den Früherkennungsuntersuchungen. Ärzte, Gesundheits- und Jugendämter schätzen danach die Wirkung der Gesundheitsuntersuchungen als eher gering ein, um Fälle von Kindeswohlgefährdung zu erkennen. Zwar sei die Mehrheit der Ärzte „mindestens eher“ der Ansicht , dass auch Kindeswohlgefährdungen durch die Früherkennungsuntersuchungen rechtzeitig erkannt werden können. Mehr als ein Viertel teile diese Meinung allerdings nicht. Das werde vor allem mit dem Problem begründet, dass nicht alle Kinder an den Untersuchungen teilnähmen. Einige Ärzte hätten angegeben, dass sie in vielen Fällen die Kinder und ihr häusliches Umfeld über einen langen Zeitraum hinweg kennen würden und Probleme und Gefahrenlagen vor diesem Hintergrund einschätzen könnten. Allerdings werde auch mehrfach darauf hingewiesen, dass sie zwangsläufig nur Urteile zu Kindern fällen könnten, die ihnen im Rahmen der Untersuchungen vorgestellt würden. Damit würden vor allem unbeabsichtigte Gefährdungen, wie z. B. durch einseitige Ernährung, erkannt. Die Gesundheitsämter sähen Personen in kindnahen Settings als wesentlich besser geeignet zur Aufdeckung von Kindeswohlgefährdungen an. Dies schon deshalb, weil der zeitliche Abstand zwischen den Untersuchungen recht hoch sei. (S. 42 ff.) Hoytema van Konijenburg, Eva/Teeuw, Arianne/Sieswerda-Hoogendoorn, Tessa et al., Insufficient evidence for the use of a physical examination to detect maltreatment in children without prior suspicion: a systematic review, 2013, abrufbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4029283/. Die vorliegende Literaturrecherche zog 147 Studien mit ihren Volltexten heran, wobei letztlich drei Studien eingehend betrachtet wurden. Danach sei nicht ausreichend belegt, Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 11 dass körperliche Untersuchungen als Screening-Instrument einen Missbrauch bei Kindern aufdeckten. Die Prävalenz der Auffälligkeiten bei einer körperlichen Untersuchung ohne Bestätigung einer Kindeswohlgefährdung läge zwischen 7,8 und 14,6 Prozent. Die Prävalenz von Anzeichen von Kindesmisshandlung, die durch einen Referenzstandard bestätigt wurden, läge zwischen 0,8 und 13,5 Prozent. 5. Kinderschutzleitlinie Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), Kindesmisshandlung, - missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie), Langfassung vom 7. Februar 2019, Klassifikation S33, abrufbar unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/027-069l_S3_Kindesmisshandlung-missbrauch -vernachlaessigung-Kinderschutzleitlinie_2019-02_1_01.pdf. Die Kinderschutzleitlinie enthält Handlungsempfehlungen zum Schutz vor Kindesmissbrauch und zur Förderung von Kindern und Jugendlichen. Dabei wird auf die Notwendigkeit und die Relevanz von gut funktionierenden regionalen Netzwerkstrukturen, in denen verschiedene Einrichtungen wie Gesundheitsämter, Sozialämter, Schulen, Polizei- und Ordnungsbehörden, Agenturen für Arbeit, Krankenhäuser, Sozialpädiatrische Zentren, Frühförderstellen und Beratungsstellen kooperieren, eingegangen. Die betreffenden Handlungsempfehlungen befassen sich konkret mit dem Aufbau dieser Strukturen, dem kontinuierlichen Austausch im Rahmen von gemeinsamen Trainings und Seminaren, der kontinuierlichen Pflege und Verbesserung der Strukturen und der Notwendigkeit, die Handlungsweisen, Expertisen und Rolle der anderen Partner im Kinderschutz verstehen zu können. In Bezug auf die Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen wird empfohlen: Die Dokumentation im Kinderuntersuchungsheft sollte (mit Einwilligung der Personensorgeberechtigten bzw. der Bezugspersonen) bei der ausführlichen Anamnese zur Feststellung eines Kindesmissbrauchs berücksichtigt werden. Ärztinnen und Ärzte einschließlich ihrer Mitarbeitenden, die Früherkennungsuntersuchungen und andere Vorsorgeuntersuchungen für Kinder und Jugendliche durchführen, sollen zur Erkennung von Kindesmissbrauch sensibilisiert und fortgebildet werden. Bei beobachteten Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen sei aber ein spezifischer Rückschluss auf das Vorliegen einer Misshandlung nicht möglich. Daher sollten Kinder und Jugendliche mit entsprechenden Auffälligkeiten alters- und entwicklungsgerecht angesprochen und nach ihrem Wohlbefinden in ihrem Umfeld gefragt werden. Bei entsprechendem Verdacht sollten Informationen, die aus verschiedenen Quellen des kindlichen bzw. 3 Mit dem Stufenklassifikationsschema der AWMF werden die Klassen S1-Handlungsempfehlung sowie S2e, S2k und S3-Leitlinie unterschieden. Jede Klasse steht für ein bestimmtes methodisches Konzept, das für den Anwender nachvollziehbar dargelegt werden muss. Die Wahl der Klasse richtet sich nach der Frage, wie viel Aufwand zweckmäßig und umsetzbar ist. S3-Leitlinien sind evidenz- und konsensbasiert. Näheres ist abrufbar über AWMF, AWMF-Regelwerk Leitlinien: Stufenklassifikation unter: https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk /ll-entwicklung/awmf-regelwerk-01-planung-und-organisation/po-stufenklassifikation.html. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 072/20 Seite 12 jugendlichen Umfelds stammen, zusammengetragen werden, um den Verdacht zu entkräften oder zu erhärten. Darüber hinaus werden in der Kinderschutzleitlinie Empfehlungen bei Verdacht auf eine emotionale Vernachlässigung bzw. Misshandlung gegeben. ***