© 2016 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 072/14 Stärkung der Selbstverwaltung in der GKV durch Rückkehr zur Beitragssatzautonomie der Krankenkassen Rechtshistorische Entwicklung, verfassungsrechtliche Zulässigkeit und aktueller Diskussionsstand Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 2 Stärkung der Selbstverwaltung in der GKV durch Rückkehr zur Beitragssatzautonomie der Krankenkassen – Rechtshistorische Entwicklung, verfassungsrechtliche Zulässigkeit und aktueller Diskussionsstand Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 072/14 Abschluss der Arbeit: Datum 8. September 2014 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Allgemeines zur Bedeutung des Beitragssatzes und zur derzeitigen Höhe des allgemeinen Beitragssatzes 5 2.1. Bedeutung des Beitragssatzes 5 2.2. Derzeitige Höhe des allgemeinen Beitragssatzes 7 3. Rechtshistorische Entwicklung der Festsetzung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung 7 3.1. Rechtslage bis zum 31. Dezember 2008 8 3.2. Rechtslage vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2010 10 3.3. Rechtslage seit dem 1. Januar 2011 12 3.3.1. Die Regelung des allgemeinen Beitragssatzes durch parlamentsgesetzliche Festlegung (§ 241 SGB V) 12 3.3.2. Die Festlegung und Gestaltung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags durch die Krankenkasse (§ 242 SGB V) 13 3.4. Rechtslage ab dem 1. Januar 2015 14 3.4.1. Zielsetzung und Notwendigkeit der im GKV-FQWG getroffenen Regelungen 15 3.4.2. Gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung 16 3.4.2.1. Festsetzung des allgemeinen paritätisch finanzierten Beitragssatzes 16 3.4.2.2. Umstellung von einkommensunabhängigen auf einkommensabhängige Zusatzbeiträge 16 3.4.2.3. Einführung eines Einkommensausgleichs zwischen den Krankenkassen 18 4. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Rückkehr zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen 19 4.1. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 22. Mai 1985 20 4.2. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Februar 1994 24 5. Der aktuelle Diskussionsstand zur Wiederherstellung der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen 29 5.1. Argumente der Krankenkassen für eine Rückkehr zu vollen Beitragssatzautonomie 29 5.1.1. Ersatzkassen 29 5.1.2. Innungskrankenkassen 31 5.1.3. Betriebskrankenkassen 32 5.2. Die vom IGES Institut im Auftrag der DAK-Gesundheit vorgelegte Studie „Beitragssatzautonomie der Krankenkassen - Eine Machbarkeitsstudie“ vom Oktober 2013 34 6. Literaturverzeichnis 34 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 4 7. Anlage 36 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 5 1. Einleitung In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) war nach der bis Ende 2008 geltenden Rechtslage jede einzelne Krankenkasse berechtigt, den allgemeinen Beitragssatz in ihrer Satzung selbst festzulegen . Seit der Einführung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 gilt nunmehr ein kassenübergreifender allgemeiner Beitragssatz, der zunächst in den Jahren 2009 und 2010 durch Rechtsverordnung der Bundesregierung festgesetzt wurde und seit dem 1. Januar 2011 unmittelbar durch das Gesetz selbst festgelegt ist. Damit wurden letzte Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen beseitigt und deren bis zu diesem Zeitpunkt bestehende Satzungsautonomie hinsichtlich der Beitragsfestsetzung nahezu aufgehoben. In der gesundheitspolitischen Diskussion gewinnt zunehmend die Forderung nach einer Wiederherstellung der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen an Unterstützung. Vor diesem Hintergrund wird – im Anschluss an einige allgemeine Ausführungen zur Bedeutung des Beitragssatzes und zur derzeitigen Höhe des allgemeinen Beitragssatzes1 - nachfolgend zunächst der Frage nachgegangen, wie sich die gesetzlichen Regelungen zur Festsetzung des allgemeinen Beitragssatzes im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung in der Vergangenheit im Einzelnen entwickelt haben2. Da eine Rückkehr zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen - entsprechend der bis Ende 2008 maßgeblichen Rechtslage – deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit voraussetzt und diese Beitragssatzautonomie in der Vergangenheit zeitweise zu erheblichen Beitragssatzunterschieden zwischen den Krankenkassen führte, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht vor allem zu fragen, ob und inwieweit das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz der Verfassung sich ergebende Gebot der Beitragsgerechtigkeit einer Wiederherstellung der Beitragssatzautonomie der Krankenkassen entgegensteht3. Abschließend werden die in der gesundheitspolitischen Diskussion für einen solchen Systemwechsel vorgetragenen Argumente dargestellt4. 2. Allgemeines zur Bedeutung des Beitragssatzes und zur derzeitigen Höhe des allgemeinen Beitragssatzes 2.1. Bedeutung des Beitragssatzes In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden die Beiträge nach den §§ 241 ff SGB V5 in der Regel6 nach einem Vomhundertsatz der beitragspflichtigen Einnahmen (§§ 223, 226 ff SGB V) des Mitglieds ermittelt. Dieser Vomhundertsatz wird als Beitragssatz bezeichnet. Damit ermittelt sich der individuelle Krankenversicherungs-Beitrag des Mitglieds – wie auch in den weiteren 1 Vgl. hierzu den Gliederungspunkt 2. 2 Vgl. hierzu den Gliederungspunkt 3. 3 Vgl. hierzu den Gliederungspunkt 4. 4 Vgl. hierzu den Gliederungspunkt 5. 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 11. August 2014 (BGBl. I S. 1346) 6 Ausnahme z. B. § 244 SGB V Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 6 Bereichen der Sozialversicherung und der Arbeitslosenversicherung (vgl. § 341 Abs. 1 SGB III7, § 157 SGB VI8, §§ 55, 57 SGB XI9) – aus dem Produkt von beitragspflichtigen Einnahmen und Beitragssatz 10. Die Höhe des individuellen Beitrags des Mitglieds wird daher einerseits durch den jeweils maßgeblichen Beitragssatz (§§ 241, 242, 243-248 SGB V), andererseits aber auch über die für beitragspflichtig erklärten Einnahmen (§§ 226-240 SGB V) bestimmt11. Die Regelung, dass der Beitragssatz als Prozentanteil der beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds definiert wird, ist Ausdruck des Prinzips der solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Beitragsbemessung nach dem individuellen Versicherungsrisiko (z. B. nach Alter, Geschlecht, Familienstand, Gesundheitszustand oder individuellen Risiken aus Beruf oder Lebensführung), wie sie in der privaten Krankenversicherung erfolgt, ist damit ausgeschlossen . Stattdessen wird die Beitragshöhe nach der individuellen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Mitglieds bestimmt12. Über diesen Zweck des Beitragssatzes hinaus kommt dem Beitragssatz auch eine allgemeine wirtschafts-, sozial- und finanzpolitische Bedeutung zu, da mittels dieses Steuerungsinstruments zugleich die Belastung der Versicherten und Arbeitgeber mit Beiträgen festgelegt wird13. Nach der bis zum 31. Dezember 2008 maßgeblichen Rechtslage war der allgemeine Beitragssatz nach § 241 SGB V alter Fassung (a. F.) zudem Ausdruck der Finanzhoheit der einzelnen Krankenkasse , da bis zu diesem Zeitpunkt jede einzelne Krankenkasse berechtigt war, den allgemeinen Beitragssatz selbst in ihrer Satzung festzulegen14. Durch die inhaltliche Neugestaltung der Beitragssatzfestsetzung zum 1. Januar 2009 wurde die Finanzhoheit der einzelnen Krankenkassen weitgehend aufgehoben und im Rahmen des Gesundheitsfonds (vgl. § 271 SGB V) durch staatliche Vorgaben ersetzt. Lediglich im Rahmen des neugeschaffenen kassenindividuellen Zusatzbeitrages (§ 242 SGB V) wurden den Krankenkassen Möglichkeiten eröffnet, in eigener Verantwortung Beiträge zum Ausgleich des nicht durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds gedeckten Finanzbedarfs zu erheben15. Seit dem 1. Januar 2009 gilt - wie bereits erwähnt - ein kas- 7 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (Art. 1 des Gesetzes vom 24. März 1997, BGBl. I S. 594, 595), zuletzt geändert durch Art. 8 des Gesetzes vom 11. August 2014 (BGBl. I S. 1348) 8 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. Februar 2002 (BGBl. I S. 754, 1404, 3384), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 21. Juli 2014 (BGBl. I S. 1133) 9 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung – (Art. 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 1014, 1015), zuletzt geändert durch Art. 6 des Gesetzes vom 21. Juli 2014 (BGBl. I S. 1133) 10 Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 241 SGB V Rn. 5 11 Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 241 SGB V Rn. 5 12 Baier, in: Krauskopf, Soziale Krankenversicherung/Pflegeversicherung, § 241 SGB V Rn. 5; Mack, in: jurisPK- SGB V, § 241 Rn. 24; Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 15 13 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 15 14 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 16; Peters, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, SGB V § 241 Rn. 3 15 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 16 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 7 senübergreifender allgemeiner Beitragssatz, der zunächst in den Jahren 2009 und 2010 durch Rechtsverordnung der Bundesregierung festgelegt wurde und seit dem 1. Januar 2011 in § 241 SGB V durch das Gesetz selbst festgelegt ist. 2.2. Derzeitige Höhe des allgemeinen Beitragssatzes Der allgemeine Beitragssatz im Sinne von § 241 SGB V gilt für alle Mitglieder, für die kein anderer – ermäßigter – Beitragssatz im Gesetz (§§ 243-246, 247 Satz 2, 248 Satz 2 SGB V) bestimmt ist und ist auf alle beitragspflichtigen Einnahmen anzuwenden, für die kein abweichender Beitragssatz festgelegt ist. Er beträgt derzeit 15,5 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder im Sinne der §§ 226-240 SGB V. Die konjunkturpolitisch motivierte vorübergehende Absenkung des Beitragssatzes um 0,6 Beitragspunkte auf 14,9 Prozent wurde rückgängig gemacht. Der paritätisch finanzierte Beitragssatz beträgt daher wieder 14,6 Prozent, wie vor der Senkung durch das Konjunkturpaket II. Der mitgliederbezogene Beitragssatzanteil von 0,9 Prozent blieb erhalten 16. 3. Rechtshistorische Entwicklung der Festsetzung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung Vor dem Hintergrund der in der gesundheitspolitischen Diskussion zum Teil erhobenen Forderung nach einer Wiederherstellung der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen ist zunächst der Frage nachzugehen, wie sich die gesetzlichen Regelungen zur Festsetzung des Beitragssatzes seit Inkrafttreten des SGB V am 1. Januar 198917 im Einzelnen entwickelt hatten, bevor durch das Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz – GKV-FinG) vom 22. Dezember 201018 die Bestimmung des § 241 SGB V mit Wirkung zum 1. Januar 2011 vollständig neugefasst und der allgemeine Beitragssatz aller Krankenkassen – wie bereits erwähnt – parlamentsgesetzlich festgelegt wurde. Darüber hinaus ist im vorliegenden Zusammenhang von Interesse, in wieweit durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG) vom 21. Juli 201419, das im Wesentlichen am 1. Januar 2015 in Kraft tritt20, die Beitragssatzautonomie der Krankenkassen wieder gestärkt worden ist. 16 Vgl. die Begründung zu § 241 SGB V im Entwurf eines Gesetzes zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz – GKV-FinG) in: BT-Drs. 17/3040 vom 28. September 2010, S. 27 17 Durch Artikel 1 des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits Reformgesetz – GRG) vom 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477, 2482 18 BGBl. I S. 2309 19 BGBl. I S. 1133 20 Vgl. Art. 17 Abs. 1 GKV-FQWG Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 8 3.1. Rechtslage bis zum 31. Dezember 2008 Im Gegensatz zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung, deren Beitragssätze gesetzlich geregelt sind (§ 341 Abs. 2 SGB III) bzw. durch Rechtsverordnung der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates festgelegt werden (§ 160 SGB VI), oblag die Festsetzung des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum 31. Dezember 2008 dem Hoheitsbereich der Selbstverwaltung . Während § 194 Abs. 1 Nr. 4 SGB V a. F. bis zu diesem Zeitpunkt vorschrieb, dass die Satzung der Krankenkasse insbesondere Bestimmungen über die Höhe, Fälligkeit und Zahlung der Beiträge enthalten musste, regelte die durch Art. 1 des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 198821 eingeführte und mit Wirkung vom 1. Januar 1989 in Kraft getretene Bestimmung des § 241 SGB V a. F., dass die Beiträge nach einem in der Satzung der Krankenkasse festzulegenden Vomhundertsatz der beitragspflichtigen Einnahmen (= Beitragssatz) zu erheben sind und für welchen Personenkreis der allgemeine Beitragssatz gilt. Die Satzungsregelung war gem. § 33 Abs. 3 SGB IV22, § 197 Abs. 1 Nr. 1 SGB V a. F. vom Verwaltungsrat zu beschließen und bedurfte der Genehmigung der Aufsichtsbehörde (§ 195 Abs. 1 SGB V). Bei der bis zum 31. Dezember 2008 maßgebenden Festsetzung der Beitragssätze im Zuständigkeitsbereich der Selbstverwaltung waren gesetzliche Rahmenbedingungen vorgegeben, die bei der Bestimmung der Beitragshöhe beachtet werden mussten und über deren Erfüllung sich die Aufsichtsbehörde bei der Genehmigung der Satzung zu überzeugen hatte23. Abstufungen nach dem Versicherungsrisiko (z. B. Geschlecht , Familienstand, Vorerkrankung) waren nicht erlaubt24. Nach § 220 Abs. 1 Satz 2 SGB V a. F. waren die Beiträge so zu bemessen, dass sie zusammen mit den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsplan vorgesehenen Ausgaben und die vorgeschriebene Auffüllung der Rücklage deckten . Die Beiträge waren also nicht nur in ihrem voraussichtlichen Verhältnis zu den Leistungen zu sehen, sondern jeweils zusammen mit den übrigen Einnahmen (z. B. Einzugsstellenvergütung, Zinsen, Gebühren, Säumniszuschläge, Mieteinnahmen, Kapitalerträge, Ersatz- und Erstattungsansprüche ) den gesamten Ausgaben ( z. B. Leistungen, Personal- und Verwaltungskosten, Zinsen, Mieten) gegenüberzustellen. Ebenso hatte die Krankenkasse die Ausgleichsansprüche oder Ausgleichsverpflichtungen aus dem Risikostrukturausgleich (§ 266 SGB V a. F.) zu berücksichtigen25. Die volle Beitragssatzautonomie der Krankenkassen nach der bis zum 31. Dezember 2008 maßgeblichen Rechtslage führte von Kasse zu Kasse zeitweise zu erheblichen Unterschieden in der Höhe des allgemeinen Beitragssatzes26, obwohl der Gesetzgeber mit dem zum 1. Januar 1989 in 21 BGBl. I S. 2477, 2482 22 Viertes Buch Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – i. d. F. der Bekanntmachung vom 12. November 2009 (BGBl. 1 S. 3710, 3973; 2011 I S. 363), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 11. August 2014 (BGBl. I S. 1348) 23 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 19, 27 24 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 4 25 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V § 241 Rn. 27 26 Zur Entwicklung des durchschnittlichen allgemeinen Beitragssatzes der Krankenkassen von 1989 bis 2008 siehe Rn. 4 der Übersicht „Sozialversicherungswerte“ am Ende von Band 2 des Kasseler Kommentars zum Sozialversicherungsrecht Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 9 Kraft getretenen Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz – GRG) vom 20. Dezember 198827 die Möglichkeiten der Krankenkassen verbessern wollte, auf Beitragssatzunterschiede zu reagieren28. So wurde der freiwillige Zusammenschluss von Krankenkassen innerhalb einer Kassenart erleichtert (§§ 144 ff, 150, 160 SGB V) und zugleich für Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK) und Innungskrankenkassen die Möglichkeit der Vereinigung innerhalb eines Landes geschaffen (§§ 145, 160 SGB V). Auch im Übrigen zielte das Gesetz auf die Verringerung von Beitragssatzunterschieden ab. Es erleichterte einen freiwilligen Finanzausgleich innerhalb einer Kassenart (§ 265 SGB V a. F.), sah bei überdurchschnittlichen Bedarfssätzen einen obligatorischen Finanzausgleich vor (§ 266 SGB V a. F.) und eröffnete allen Kassen die Möglichkeit eines länderübergreifenden Finanzausgleichs (§ 267 SGB V a. F.). Diese Regelungen bezogen sich aber stets auf die einzelnen Kassenarten, so dass es – von der Krankenversicherung der Rentner abgesehen – noch keinen kassenartenübergreifenden Finanzausgleich gab. Das im Wesentlichen zum 1. Januar 1993 in Kraft getretene Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz - GSG) vom 21. Dezember 199229 sollte vor allem der Kostensteigerung im Gesundheitswesen und der damit verbundenen anhaltenden Steigerung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung entgegenwirken. Daneben hatte es aber auch den Abbau bestehender Beitragssatzunterschiede zum Ziel30. Demgemäß erleichterte es die Vereinigung von Krankenkassen (§§ 144 ff, 149 f, 159f, 168a SGB V in der Fassung des GSG), führte mit Wirkung vom 1. Januar 1994 einen bundesweiten und die Kassenarten übergreifenden Risikostrukturausgleich (RSA) unter den Krankenkassen ein (§§ 266 SGB V a. F.) und gewährte den Versicherten ab dem 1. Januar 1996 ein Wahlrecht zwischen den verschiedenen Trägern der Krankenversicherung nach Maßgabe der §§ 173 ff SGB V. Durch Art. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (Beitragsentlastungsgesetz – BeitrEntlG) vom 1. November 199631 wurde in die Beitragssatzautonomie der Selbstverwaltung eingegriffen, indem mit § 2 dieses Gesetzes die Beitragssätze aller gesetzlichen Krankenkassen nach den §§ 241 bis 243 SGB V a. F. zum 1. Januar 1997 zwingend um 0,4 Beitragssatzpunkte abgesenkt wurden. Durch diesen bis dahin einmaligen Eingriff des Gesetzgebers in die Finanzhoheit der Krankenkassen sollte sichergestellt werden, dass Einsparungen aufgrund gesetzlicher Leistungskürzungen den Beitragszahlern auch tatsächlich zugutekommen 32. 27 BGBl. I S. 2477 28 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 11/2237, S. 152 29 BGBl. I S. 2266 30 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 12/3608, S. 2, 68 f, 74 f 31 BGBl. I S. 1631 32 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 20 unter Bezugnahme auf die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 13/4615 S. 9 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 10 3.2. Rechtslage vom 1. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2010 Im Zuge der Einführung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 wurde durch Art. 1 Nr. 159 des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV- Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. März 200733 der allgemeine Beitragssatz gem. § 241 SGB V von diesem Zeitpunkt an bis zum 31. Dezember 2010 nicht mehr individuell durch Satzungsbeschluss der jeweiligen Krankenkasse, sondern bundeseinheitlich für alle Kassen durch Rechtsverordnung der Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundesrates festgesetzt. Damit wurden letzte Beitragssatzunterschiede zwischen den Krankenkassen beseitigt und deren Satzungsautonomie hinsichtlich der Beitragsfestsetzung nahezu aufgehoben34. Die Ermächtigung der Krankenkassen zur Regelung des allgemeinen Beitragssatzes durch Satzungsbestimmungen in § 194 Abs. 1 Nr. 4 SGB V a. F. wurde entsprechend gestrichen. Lediglich der neu eingeführte Zusatzbeitrag (§ 242 SGB V) kann seitdem durch die Krankenkasse eigenständig durch satzungsmäßige Festlegung bestimmt werden (§ 194 Abs. 1 Nr. 4 SGB V neuer Fassung). Bei der inhaltlichen Neugestaltung der Beitragssatzfestsetzung durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz zum 1. Januar 2009, mit dem die Finanzhoheit der einzelnen Krankenkassen weitgehend aufgehoben und im Rahmen des Gesundheitsfonds (§ 271 SGB V) durch staatliche Vorgaben ersetzt wurde, handelte es sich um einen klaren Paradigmenwechsel35. Der Beitragssatz als „Anreiz“ für einen Kassenwechsel schied damit aus. Zugleich verloren die Krankenkassen mit dem Recht der autonomen Beitragssatzgestaltung ein wesentliches Instrument der Regelung eigener Angelegenheiten . Andererseits erhielten sie mit der Einführung eines kassenindividuellen Zusatzbeitrages nach § 242 SGB V und der Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen an ihre Mitglieder Prämien auszuzahlen, neue Instrumente, um sich von anderen Kassen abzuheben36. Durch Art. 1 Nr. 159 des GKV-WSG wurde die Vorschrift des § 241 SGB V a. F. bereits mit Wirkung zum 1. Januar 2008 um die Absätze 2, 3 und 4 ergänzt. Der bis dahin geltende Wortlaut des § 241 SGB V a. F. wurde Absatz 1. Nach § 241 Abs. 2 in der Fassung des GKV-WSG hatte die Bundesregierung nach Auswertung der Ergebnisse eines beim Bundesversicherungsamt zu bildenden Schätzer-Kreises durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates erstmals bis zum 1. November 2008 mit Wirkung ab dem 1. Januar 2009 den allgemeinen Beitragssatz in Hundertsteln der beitragspflichtigen Einnahmen festzulegen. Über den beabsichtigten Erlass einer Rechtsverordnung nach Abs. 2 hatte die Bundesregierung den Deutschen Bundestag so rechtzeitig zu unterrichten, dass diesem die Möglichkeit zur Befassung mit der beabsichtigten Festsetzung oder Anpassung gegeben wurde (§ 241 Abs. 3 in der Fassung des GKV-WSG). Die Frist nach Abs. 3 galt als erfüllt, wenn zwischen der Unterrichtung und der Beschlussfassung über die Verordnung nach Abs. 2 mindestens drei Wochen lagen (§ 241 Abs. 4 i. d. Fassung des GKV-WSG). 33 BGBl. I S. 378 34 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 21; Schlegel, GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG), in: jurisPR-SozR 4/2007 Anmerkung 4 35 Schlegel, GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG), in: jurisPR-SozR 4/2007 Anmerkung 4 36 Schlegel, GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG), in: jurisPR-SozR 4/2007 Anmerkung 4; zur Festlegung und Gestaltung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags durch die Krankenkassen vgl. näher unten zu Gliederungspunkt 3.3.2. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 11 Die Beitragssatzfestsetzung der Bundesregierung nach § 241 SGB V in der Fassung des GKV-WSG hatte sich grundsätzlich am Ausgleich von Beitragseinnahmen und Leistungsausgaben zu orientieren . Konkret bestimmte § 220 Abs. 1 Satz 2 SGB V in der ab dem 1. Januar 2009 geltenden Fassung , dass die Beiträge bei der erstmaligen Festsetzung des allgemeinen Beitragssatzes nach § 241 Abs. 1 SGB V so zu bemessen waren, dass die voraussichtlichen Beitragseinnahmen zusammen mit der Beteiligung des Bundes nach § 221 SGB V und den voraussichtlichen sonstigen Einnahmen des Gesundheitsfonds (§ 271 SGB V) die voraussichtlichen Ausgaben der Krankenkassen sowie den vorgeschriebenen Aufbau der Liquiditätsreserve für den Gesundheitsfonds nach § 271 SGB V deckten. Die Höhe des nach § 241 SGB V festzusetzenden Beitragssatzes orientierte sich damit am Ausgleich der Einnahmen und Ausgaben aller Krankenkassen im Rahmen des Gesundheitsfonds . Ob die auf der Basis des Gesundheitsfonds der einzelnen Krankenkasse zugewiesenen Mittel zur Bestreitung der Ausgaben ausreichten, war für die Festsetzung des Beitragssatzes nach § 241 SGB V a. F. insoweit unerheblich. Führte die Finanzierung aus dem Gesundheitsfonds bei einer Krankenkasse zu einer Unterdeckung, so war diese gezwungen, die Unterdeckung durch einen kassenindividuellen Zusatzbeitrag (§ 242 SGB V) auszugleichen37. Die Voraussetzungen für eine Änderung des Beitragssatzes durch die Bundesregierung waren in § 220 Abs. 2 SGB V näher beschrieben. Nach Satz 1 dieser Bestimmung war der allgemeine Beitragssatz nach § 241 SGB V zu erhöhen, wenn die voraussichtlichen Einnahmen des Gesundheitsfonds die voraussichtlichen Ausgaben der Krankenkassen einschließlich der für den vorgeschriebenen Aufbau der Liquiditätsreserve für den Gesundheitsfonds nach 271 SGB V erforderlichen Mittel im laufenden und im Folgejahr nicht zu mindestens 95 Prozent deckten. Eine geringfügig geringere Unterdeckung als 5 Prozent oder eine höhere kurzfristige Unterdeckung führte demnach nicht zu einer zeitnahen Anpassung des Beitragssatzes. Hierdurch entstandene Defizite waren von den Krankenkassen über den Zusatzbeitrag nach § 242 SGB V auszugleichen38. Umgekehrt war nach § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V a. F. der Beitragssatz zu ermäßigen, wenn eine Deckungsquote von 100 Prozent überschritten und bei einer Senkung des Beitragssatzes um mindestens 0,2 Beitragssatzpunkte die Deckungsquote von 95 Prozent im Laufe des Kalenderjahres voraussichtlich nicht unterschritten wurde. Mit der Verordnung zur Festlegung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Beitragssatzverordnung – GKV-BSV) vom 29. Oktober 200839 kam die Bundesregierung ihrer gesetzlichen Verpflichtung nach § 241 Abs. 2 SGB V i. d. F. des GKV-WSG nach und legte erstmalig mit Wirkung ab dem 1. Januar 2009 den allgemeinen Beitragssatz fest. Nach § 1 Satz 1 der GKV-BSV vom 29. Oktober 2008 betrug der paritätisch finanzierte Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung 14,6 Prozent. Der allgemeine Beitragssatz nach § 241 SGB V war der um 0,9 Beitragssatzpunkte erhöhte paritätisch finanzierte Beitragssatz nach Satz 1, er betrug 15,5 Prozent (§ 1 Satz 2 GKV-BSV). Durch Art. 14 Nr. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 des Gesetzes zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland vom 2. März 200940 37 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 28 38 Gerlach, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 241 Rn. 31 39 BGBl. I S. 2109 40 BGBl. I S. 416 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 12 wurde die GKV-Beitragssatzverordnung vom 29. Oktober 2008 mit Wirkung zum 1. Juli 2009 geändert und der Beitragssatz neu festgelegt. Zur Entlastung der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung sowie der Arbeitgeber wurde der paritätisch finanzierte allgemeine Beitragssatz um 0,6 Beitragssatzpunkte auf 14,0 Prozent abgesenkt.41 Zum Ausgleich wurde der Bundeszuschuss – über die bereits bisher vorgesehene Erhöhung nach § 221 Abs. 1 Satz 2 SGB V um jährlich 1,5 Mrd. Euro hinaus – um weitere 3,2 Mrd. Euro im Jahr 2009 und jeweils 6,3 Mrd. Euro für die Jahre 2010 und 2011 aufgestockt. 3.3. Rechtslage seit dem 1. Januar 2011 Mit dem Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzierungsgesetz – GKV-FinG) vom 22. Dezember 201042, das zum 1. Januar 2011 in Kraft trat, wurden wesentliche Elemente der Beitragsfinanzierung geändert. Hervorzuheben sind im vorliegenden Zusammenhang folgende Änderungen: 3.3.1. Die Regelung des allgemeinen Beitragssatzes durch parlamentsgesetzliche Festlegung (§ 241 SGB V) Die Vorschrift des § 241 SGB V wurde durch Art. 1 Nr. 17 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 des GKV-Finanzierungsgesetzes mit Wirkung zum 1. Januar 2011 vollständig neu gefasst. In der aktuell geltenden Fassung enthält die Vorschrift nur noch einen Satz, der bestimmt, dass der allgemeine Beitragssatz 15,5 Prozent der beitragspflichtigen Einnahmen beträgt. Er liegt damit um 0,6 Prozent höher als der bisherige Beitragssatz. Die konjunkturpolitisch motivierte vorübergehende Absenkung des Beitragssatzes wurde damit rückgängig gemacht. Der paritätisch finanzierte Beitragssatz beträgt wieder 14,6 Prozent, der mitgliederbezogene Anteil 0,9 Prozent (vgl. § 249 Abs. 1 SGB V)43. Aufgrund der Änderung des § 241 SGB V durch das GKV-Finanzierungsgesetz ist der allgemeine Beitragssatz aller Krankenkassen nunmehr unmittelbar und allgemeinverbindlich gesetzlich festgeschrieben . Das in den Jahren 2009 und 2010 maßgebliche Verfahren zur Festlegung des allgemeinen Beitragssatzes durch Rechtsverordnung der Bundesregierung ist damit – ebenso wie der ursprüngliche Regelungsmechanismus für die Anpassung des Beitragssatzes und der gesetzliche Anpassungszwang für die einkommensabhängigen Beitragssätze bei einer Unterdeckung des Gesundheitsfonds – entfallen. Nach der Gesetzesbegründung44 hat die Festschreibung des allgemeinen Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung durch das GKV-Finanzierungs gesetz den Zweck, den für die Beschäftigungssituation negativen unmittelbaren Zusammenhang zwischen steigenden Gesundheitsausgaben und steigenden Lohnkosten zu durchbrechen. Aus diesem Grund entfielen die bisherigen Mechanismen zur Veränderung des allgemeinen Beitragssatzes einschließlich der Verordnungsermächtigung. Der Beitrag eines GKV-Mitglieds setzt sich 41 Siehe näher BT-Drs. 16/11740, S. 33 42 BGBl. I S. 2309 43 Vgl. hierzu näher BT-Drs. 17/3040, S. 27 44 Vgl. BT-Drs. 17/3040 S. 27 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 13 nach derzeitiger Rechtslage damit aus einem allgemeinverbindlichen allgemeinen Beitragssatz im Sinne des § 241 SGB V bzw. einen ermäßigten Beitragssatz (§§ 243, 245-246, 247 Satz 2, 248 Satz 2 SGB V) und einem von der Krankenkasse festgelegten kassenindividuellem Zusatzbeitrag im Sinne des § 242 SGB V zusammen. 3.3.2. Die Festlegung und Gestaltung des kassenindividuellen Zusatzbeitrags durch die Krankenkasse (§ 242 SGB V) Der kassenindividuelle Zusatzbeitrag stellt ein ergänzendes Finanzierungsinstrument dar, das grundsätzlich bereits durch Art. 1 Nr. 161 des GKV-WSG vom 26. März 2007 mit Wirkung vom 1. Januar 2009 geschaffen wurde und bei Unterdeckung der Ausgaben aus den Zuweisungen des Gesundheitsfonds von der Krankenkasse durch Satzung eingeführt werden kann (§ 242 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Der Zusatzbeitrag ist Teil des Sozialversicherungsbeitrags des Versicherten45. Gestaltung und Erhebung des Zusatzbeitrags sind in den gesetzlichen Grenzen Sache der Krankenkasse 46. Von Mitgliedern, die das Sonderkündigungsrecht nach § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V wegen der erstmaligen Erhebung oder einer Erhöhung des Zusatzbeitrags fristgemäß ausgeübt haben, wird der Zusatzbeitrag gem. § 242 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB V nicht erhoben. Der Zusatzbeitrag wird gem. § 242 Abs. 1 Satz 4 SGB V im vollen Umfang erhoben, wenn die Kündigung nicht wirksam wird47. Anders als in der Gesetzesbegründung zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG)48, setzt die Erhebung des Zusatzbeitrags nicht voraus, dass der Finanzbedarf nicht durch andere Instrumente gedeckt werden kann (insbesondere speziellere Tarife und wirtschaftlicheres Management )49. Nach § 242 Abs. 1 Satz 1 SGB V ist es vielmehr als ausreichend anzusehen, dass der Finanzbedarf einer Krankenkasse durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht gedeckt ist. Allerdings bedarf die Satzungsregelung, die den Zusatzbeitrag festlegt, nach § 195 Abs. 1 SGB V der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Hierbei kann fehlende Wirtschaftlichkeit, insbesondere das fehlende Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven (§ 4 Abs. 4 Satz 1 SGB V), der Genehmigung entgegenstehen, wobei der Krankenkasse allerdings ein Bewertungsspielraum zusteht50. Soweit die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds den Finanzbedarf einer Krankenkasse übersteigen, kann sie bei hinreichend gesicherter Rücklage (§ 242 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 261 SGB V) kraft Satzungsrechts Prämien an ihre Mitglieder auszahlen (§ 242 Abs. 2 45 BT-Drs. 16/3100, S. 165 46 Rixen, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 37 Rn. 88 47 Näher Geiß, in: BKK 2008, 498 (503) 48 Vgl. BT-Drs. 16/3100, S. 165 49 Rixen, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 37 Rn. 89 50 Vgl. BSGE 71, 108 (110) = NZS 1992, 151; Schnapp, in: Festschrift von Maydell, 2002, 621 (632); derselbe, in: VSSR 2006, 191 (200); Rixen, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 37 Rn. 89; siehe auch Kluth, in: Gewerbearchiv 2006, S. 446 ff Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 14 Satz 1 SGB V), womit jede dem Mitglied unbedingt zugute kommende Zuordnung von Aktiva gemeint ist; der Auszahlungsanspruch ist daher insbesondere auf- und verrechnungsfest51. Dass die Zusatzbeiträge – anders als noch nach dem bis Ende 2010 geltenden alten Recht - aufgrund des GKV-Finanzierungsgesetzes vom 22. Dezember 2010 mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 einkommensunabhängig geworden sind (vgl. § 242 Abs. 1 Satz 1 SGB V i. d. F. des GKV- FinG), bedeutet, dass sie in festen Euro-Beträgen erhoben werden müssen; darüber hinaus entfiel die bisherige Begrenzung auf höchstens acht Euro52; insoweit gilt nunmehr der Sozialausgleich gem.§ 242b SGB V. Die Regelungen in § 242 Abs. 4 Satz 1 und 2 SGB V, die ebenfalls durch das GKV-FinG mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 eingefügt und sodann nochmals durch Art. 3 Nr. 4 Buchstabe b des Gesetzes vom 28. Juli 201153 mit Wirkung ab dem 4. August 201154 ergänzt wurden , begrenzen die Höhe des Zusatzbeitrags grundsätzlich auf die Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitrags nach § 242a SGB V55. Die Bestimmung des§ 242 Abs. 5 Satz 1 SGB V, die ebenfalls durch das GKV-FinG mit Wirkung ab dem 1. Januar 2011 eingefügt und sodann nochmals durch Art. 3 Nr. 4b des Gesetzes vom 28. Juli 2011 ergänzt wurde, legt fest, dass von bestimmten Personengruppen kein Zusatzbeitrag zu erheben ist. Dazu zählen insbesondere Bezieher von Entgeltersatzleistungen wie Krankengeld, Mutterschaftsgeld und Elterngeld; auch Menschen mit Behinderungen müssen keinen Zusatzbeitrag zahlen56. Allerdings gilt dies nur, wenn sie keine weiteren beitragspflichtigen Einnahmen haben57. Die Vorschrift des§ 242 Abs. 5 Satz 2 SGB V bestimmt, dass die Freiheit von der Erhebung des Zusatzbeitrags auch für die Personen im Sinne des Satzes 1 gilt, die freiwillig versichert sind58. 3.4. Rechtslage ab dem 1. Januar 2015 Abschließend ist im vorliegenden Zusammenhang noch auf das im Wesentlichen am 1. Januar 2015 in Kraft tretende Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz – GKV-FQWG) vom 21. Juli 201459 einzugehen. 51 Rixen, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 37 Rn. 90 52 Vgl. dazu BT-Drs. 17/3040, S. 27 53 BGBl. I S. 1622, 1626 54 Vgl. dazu BT-Drs. 17/6141, 38 (zu § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V) 55 Vgl. BT-Drs. 17/3696, S. 48 56 Vgl. näher BT-Drs. 17/3040, S. 28; 17/3696, S. 48 57 Vgl. dazu BT-Drs. 17/3696, S. 48 58 Vgl. BT-Drs. 17/3696, S. 48 59 BGBl. I S. 1133 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 15 3.4.1. Zielsetzung und Notwendigkeit der im GKV-FQWG getroffenen Regelungen Mit dem GKV-FQWG sollen nach der Gesetzesbegründung60 die Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie die Qualität der Versorgung nachhaltig gestärkt und auf eine dauerhaft solide Grundlage gestellt werden. Bei der Neugestaltung der Finanzierungsgrundlagen sei – so heißt es in der Gesetzesbegründung – sicherzustellen, dass die Beitragsautonomie der Krankenkassen weiter gestärkt werde und der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen mit dem Ziel einer Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung stattfinde. Hieraus resultierende Anreize für Risikoselektion und damit einhergehende Wettbewerbsverzerrungen seien auszuschließen61 Die Bundesregierung geht davon aus, dass trotz der derzeit guten Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung perspektivisch die voraussichtlichen jährlichen Ausgaben der Krankenkassen die voraussichtlichen jährlichen Einnahmen des Gesundheitsfonds übersteigen werden und deshalb eine neue Finanzierungsgrundlage erforderlich ist62. Eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung und eine wirtschaftliche, qualitativ hochwertige und an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientierte Versorgung könne nur mit einer wettbewerblichen Ausrichtung der gesetzlichen Krankenversicherung und einer umsichtigen Ausgabenpolitik gewährleistet werden. Darüber hinaus sei eine beschäftigungsfreundliche Ausgestaltung der Finanzierungsgrundlagen sicherzustellen, um negative Effekte steigender Gesundheitsausgaben auf Beschäftigung und Wachstum zu vermeiden63. Daher sei es notwendig, dass Zusatzbeiträge in Zukunft ein etabliertes Instrument der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung seien. Um eine bessere Ausgewogenheit zwischen Preis- und Qualitätswettbewerb zu erreichen, sei es notwendig, dass die Zusatzbeiträge tatsächlich erhoben würden. Die bisherige Situation, dass einzelne Krankenkassen einen Zusatzbeitrag hätten erheben müssen, während die meisten Krankenkassen aufgrund ihrer Finanzsituation auf die Erhebung von Zusatzbeitragen hätten verzichten können, habe zu einer ungewollten Dominanz des Preiswettbewerbs geführt und den Wettbewerb auf der Leistungsseite, insbesondere um mehr Qualität in der Versorgung und Bemühungen um eine stärker präventive und sektorenübergreifende Ausrichtung des Gesundheitswesens, in den Hintergrund rücken lassen64. Zudem hätten die Krankenkassen mit hohen Überschüssen und hohen Finanzreserven – insbesondere zur langfristigen Vermeidung einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge – nur in vergleichsweise geringem Umfang von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ihre Mitglieder durch die Auszahlung von Prämien oder durch zusätzliche Satzungsleistungen an der positiven Finanzentwicklung zu beteiligen. Das habe zur Folge gehabt, dass sich die Finanzreserven der Krankenkassen höchst 60 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 2, 25 61 Vgl. BT-Drs. 18/1307, S. 1f und 24 62 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/1307 S. 1und 24 63 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 1 und 24 64 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/1307 S. 1 und 24 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 16 unterschiedlich entwickelt hätten, differenzierte Preissignale an die Versicherten jedoch weitestgehend unterblieben seien. 3.4.2. Gesetzgeberische Maßnahmen zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung Um die Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung nachhaltig zu stärken und auf eine dauerhaft solide Grundlage zu stellen, sieht das GKV-FQWG unter anderem folgende Maßnahmen vor: 3.4.2.1. Festsetzung des allgemeinen paritätisch finanzierten Beitragssatzes Der allgemeine paritätisch finanzierte Beitragssatz wird bei 14,6 Prozent festgesetzt und der Arbeitgeberanteil bleibt bei 7,3 Prozent gesetzlich festgeschrieben (§§ 241, 249 SGB V in der Fassung des GKV-FQWG). Die im Rahmen des GKV-Finanzierungsgesetzes vom 25. Dezember 201065 erfolgte Entkoppelung der Lohnzusatzkosten von den Gesundheitsausgaben bleibt damit bestehen . 3.4.2.2. Umstellung von einkommensunabhängigen auf einkommensabhängige Zusatzbeiträge Der einkommensunabhängige Zusatzbeitrag und der damit verbundene steuerfinanzierte Sozialausgleich werden abgeschafft. Die Krankenkassen erheben die Zusatzbeiträge nach § 242 SGB V in Zukunft nicht mehr einkommensunabhängig, sondern prozentual im Hinblick auf die beitragspflichtigen Einnahmen des Mitglieds. Mit diesen Maßnahmen wird der Solidarausgleich bei den Zusatzbeiträgen zukünftig innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung organisiert. Ein Sozialausgleich und damit verbundene Mehrbelastungen des Bundeshaushalts sind nicht mehr erforderlich66. Diese Umstellung erfordert ein Reihe von Änderungen des § 242 SGB V, der daher neu gefasst wird. Im Einzelnen gilt danach Folgendes: Nach § 242 Abs. 1 SGB V in der Fassung des GKV-FQWG hat die Krankenkasse in ihrer Satzung zu bestimmen, dass von ihren Mitgliedern ein einkommensabhängiger Zusatzbeitrag erhoben wird, soweit ihr Finanzbedarf durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht gedeckt ist. Die Krankenkassen haben den einkommensabhängigen Zusatzbeitrag als Prozentsatz der beitragspflichtigen Einnahmen jedes Mitglieds zu erheben (kassenindividueller Zusatzbeitragssatz). Der Zusatzbeitragssatz ist so zu bemessen, dass die Einnahmen aus dem Zusatzbeitrag zusammen mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds und den sonstigen Einnahmen die im Haushaltsjahr voraussichtlich zu leistenden Ausgaben und die vorgeschriebene Höhe der Rücklage decken; dabei ist die Höhe der voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahmen aller Krankenkassen nach § 220 Abs. 2 Satz 2 SGB V je Mitglied zugrundezulegen. Von bestimmten Personengruppen wird der Zusatzbeitrag in Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes nach § 242a SGB V erhoben (§ 242 Abs. 3 SGB V i. d. Fassung des GKV-FQWG). In Verbindung mit der Ab- 65 BGBl. I S. 2309 66 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 17 senkung des einheitlichen Beitragssatzes werde – so heißt es in der Gesetzesbegründung67 – die Beitragsautonomie der Krankenkassen erheblich ausgeweitet. Damit die unterschiedliche Einkommensstruktur der Krankenkassen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führt, wird zudem ein vollständiger Einkommensausgleich eingeführt (§ 270a SGB V). Der neue Absatz 2 des § 242 SGB V entspricht inhaltlich den Regelungen des bisherigen Abs. 3 Satz 2 bis 5. Dies bedeutet Folgendes: Ergibt sich während des Haushaltsjahres, dass die Betriebsmittel der Krankenkassen einschließlich der Zuführung aus der Rücklage zur Deckung der Ausgaben nicht ausreichen, ist der Zusatzbeitragssatz nach § 242 Abs. 1 SGB V durch Änderung der Satzung zu erhöhen. Muss eine Krankenkasse kurzfristig ihre Leistungsfähigkeit erhalten, so hat der Vorstand zu beschließen, dass der Zusatzbeitragssatz bis zur satzungsmäßigen Neuregelung erhöht wird; der Beschluss bedarf der Genehmigung der Aufsichtsbehörde. Kommt kein Beschluss zustande, ordnet die Aufsichtsbehörde die notwendige Erhöhung des Zusatzbeitragssatzes an. Der bisherige Abs. 2 des § 242 SGB V entfällt. Damit wird die Möglichkeit der Krankenkassen, an ihre Mitglieder Prämien auszuzahlen, wenn die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds ihren Finanzbedarf übersteigen, abgeschafft. Der Finanzbedarf der gesetzlichen Krankenversicherung wird damit künftig über Beiträge aus dem allgemeinen bzw. dem ermäßigten Beitragssatz, den einkommensabhängigen Zusatzbeiträgen sowie der Beteiligung des Bundes aus Steuermitteln gedeckt68. Als Folge der Senkung des allgemeinen bzw. ermäßigten Beitragssatzes auf 14,6 Prozent bzw. 14,0 Prozent und der daraus resultierenden Unterdeckung in Höhe von jährlich rund 11 Mrd. Euro sowie der Tatsache, dass der bisherige mitgliederbezogene Beitragssatzanteil in Höhe von 0,9 Prozent in die Zusatzbeitragssätze der Krankenkassen einfließt, soll der Preiswettbewerb zukünftig über die Höhe der Zusatzbeiträge stattfinden69. Die Verwendung von Finanzreserven seitens der Krankenkassen soll hierbei dazu beitragen, den Anstieg der Zusatzbeiträge in den nächsten Jahren zu begrenzen. Die Gesetzesbegründung geht davon aus, dass die mit diesen Maßnahmen einhergehende Stärkung der Beitragsautonomie der Krankenkassen für viele Beitragszahlerinnen und -zahler im Jahr 2015 zu Entlastungen führen wird70. Der neue Absatz 3 des § 242 SGB V regelt, dass die Krankenkasse den Zusatzbeitrag für bestimmte Personenkreise abweichend von Abs. 1 in Höhe des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes nach § 242a SGB V zu erheben hat. Diese obligatorische Erhebung gilt auch dann, wenn die Krankenkasse keinen individuellen Zusatzbeitragssatz nach Abs. 1 erhebt. Aus beitragsrechtlicher Sicht zeichnen sich diese Personengruppen unter anderem dadurch aus, dass bei ihnen auch die allgemeinen Beiträge von Dritten getragen werden. Dies betrifft insbesondere versicherungspflichtige Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II. Die Beitragstragung durch 67 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 42 68 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 42 69 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/1307, S. 25, 42f 70 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 25 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 18 Dritte trifft aber auch auf andere Personengruppen zu, die bislang generell vom Zusatzbeitrag ausgenommen waren (§ 242 Abs. 5 SGB V a. F.)71. 3.4.2.3. Einführung eines Einkommensausgleichs zwischen den Krankenkassen Damit künftig bei gleichem Finanzierungsbedarf Krankenkassen mit vielen überdurchschnittlich gut verdienenden Mitgliedern nicht gegenüber jenen Kassen im Vorteil sind, die viele unterdurchschnittlich verdienende Mitglieder haben, sieht das GKV-FQWG im Hinblick auf die Umstellung von einkommensunabhängigen auf einkommensabhängige Zusatzbeiträge mit dem neuen § 270a SGB V die Einführung eines Einkommensausgleichs zwischen den Krankenkassen vor. Damit soll verhindert werden, dass die unterschiedlichen beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder der Krankenkassen zu Risikoselektionsanreizen und Wettbewerbsverzerrungen führen . Es soll sichergestellt werden, dass sich der Wettbewerb an den Bedürfnissen der Versicherten orientiert und sich die Krankenkassen um eine wirtschaftliche und qualitativ hochwertige Versorgung bemühen72. Mit dem Einkommensausgleich werden die Einkommensunterschiede der Mitglieder der Krankenkassen vollständig ausgeglichen. Jede Krankenkasse erhält durch diesen Ausgleich die Einnahmen aus dem einkommensabhängigen Zusatzbeitrag, die sie erzielen würde, wenn die beitragspflichtigen Einnahmen ihrer Mitglieder dem Durchschnitt in der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen würden73. Der Einkommensausgleich wird durch das Bundesversicherungsamt durchgeführt, dass die in den Gesundheitsfonds eingehenden Einnahmen auch aus dem Zusatzbeitrag für diese Zwecke verwaltet. Eine Unterdeckung kann die Krankenkasse zukünftig durch die Erhebung eines in seiner Höhe variablen einkommensabhängigen Zusatzbeitrags decken. Die Krankenkasse berechnet die Höhe des von ihr benötigten Zusatzbeitrags auf der Grundlage der durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Als Einzugsstelle führt die Krankenkasse sämtliche Beitragseinnahmen einschließlich der Einnahmen aus dem von ihr erhobenen Zusatzbeitrag an den Gesundheitsfonds ab. Der Einzug des einkommensabhängigen Zusatzbeitrags erfolgt im Quellenabzug74. Der eigentliche Einkommensausgleich wird wie folgt durchgeführt: Die Krankenkassen, die einen Zusatzbeitrag nach § 242 SGB V erheben, erhalten vom Bundesversicherungsamt aus dem Gesundheitsfonds die Beiträge aus den Zusatzbeiträgen ihrer Mitglieder in der Höhe, die sich nach dem Einkommensausgleich ergibt. Durch diesen Einkommensausgleich erhalten Krankenkassen mit unterdurchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen einen höheren Betrag vom Gesundheitsfonds als sie abgeführt haben und umgekehrt. Das Verfahren zur Ermittlung der Zuweisun- 71 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 43 72 Vgl. die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 18/1307 S. 26, 49 73 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 49 74 Vgl. BT-Drs. 18/1307, S 49 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 19 gen nach den §§ 266 und 270 SGB V bleibt vom Einkommensausgleich unberührt75. Im Einzelnen sieht der in § 270a SGB V geregelte Einkommensausgleich folgende Regelungen vor: Abs. 1 legt fest, dass zwischen den Krankenkassen im Hinblick auf die von ihnen erhobenen Zusatzbeiträge nach § 242 SGB V nach Maßgabe der folgenden Absätze ein vollständiger Ausgleich der unterschiedlichen beitragspflichtigen Einnahmen ihrer Mitglieder durchgeführt wird. Nach Abs. 2 Satz 1 erhalten die Krankenkassen, die einen Zusatzbeitrag nach § 242 SGB V erheben, aus dem Gesundheitsfonds die Beträge aus den Zusatzbeiträgen ihrer Mitglieder in der Höhe, die sich nach dem Einkommensausgleich ergibt. Die Höhe dieser Mittel für jede Krankenkasse wird ermittelt , indem der Zusatzbeitragssatz der Krankenkasse nach § 242 Abs. 1 SGB V mit den voraussichtlichen durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen je Mitglied aller Krankenkassen und ihrer Mitgliederzahl multipliziert wird (§ 270a Abs. 2 Satz 2 SGB V). Weicht der Gesamtbetrag aus den Zusatzbeiträgen nach § 242 SGB V von den notwendigen Aufwendungen für die Mittel nach Abs. 2 ab, wird der Abweichungsbetrag entweder aus den Mitteln der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds nach § 271 Abs. 2 SGB V aufgebraucht oder der Liquiditätsreserve zugeführt (§ 270a Abs. 3 SGB V). Absatz 4 des § 270a SGB V regelt die Aufgaben und Befugnisse des Bundesversicherungsamts bei der Durchführung des Einkommensausgleichs. Nach dieser Bestimmung verwaltet das Bundesversicherungsamt für die Zwecke der Durchführung des Einkommensausgleichs die eingehenden Beträge aus den Zusatzbeiträgen. Dabei wird die Durchführung des Einkommensausgleichs in die bestehenden Strukturen des Gesundheitsfonds integriert. Zusätzliche Zahlungsströme an den Gesundheitsfonds oder an die Krankenkassen sind nicht erforderlich . Die Beträge aus dem Einkommensausgleich werden vom Bundesversicherungsamt synchron zu den Zuweisungen nach den §§ 266, 270 SGB V berechnet und beschieden. Das Nähere zur Ermittlung der vorläufigen und endgültigen Mittel, die die Krankenkassen im Rahmen des Einkommensausgleichs erhalten, zur Durchführung, zum Zahlungsverkehr und zur Fälligkeit der Beiträge regelt die Rechtsverordnung nach § 266 Abs. 7 Satz 1 SGB V76. 4. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Rückkehr zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen Eine Rückkehr zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen – entsprechend der bis zum 31. Dezember 2008 maßgeblichen Rechtslage77 - setzt deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit voraus. Da die Beitragssatzautonomie der Krankenkassen nach dem bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Recht von Kasse zu Kasse zeitweise zu erheblichen Unterschieden in der Höhe des allgemeinen Beitragssatzes führte, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht vor allem zu fragen, ob und inwieweit das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG)78 sich 75 Vgl. BT-Drs. 18/1307 S. 49 76 Vgl. BT-Drs. 18/1307, S. 50 77 Zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen nach der bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Rechtslage und den daraus folgenden Beitragssatzunterschieden vgl. näher oben zu Gliederungspunkt 3.1. 78 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 11. Juli 2012 (BGBl. I S. 1478) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 20 ableitende Gebot der Beitragsgerechtigkeit einer Wiederherstellung der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen entgegensteht bzw. welche Anforderungen Art. 3 Abs. 1 GG an die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung stellt. Zu der Frage, ob und inwieweit unterschiedliche Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung als Folge der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen verfassungsrechtlich zulässig sind, liegen mit dem Urteil der Bundessozialgerichts vom 22. Mai 1985 und dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Februar 1994 zwei grundlegende höchstrichterliche Entscheidungen vor79. 4.1. Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 22. Mai 1985 Dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 22. Mai 198580 lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem im Jahre 1980 ein Mitglied einer Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) den Beitragssatz seiner Kasse beanstandet hatte. Es verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG, dass seine Kasse ihren allgemeinen Beitragssatz ab Januar 1980 auf 14,2 Prozent und ab Juli 1981 weiter auf 14,9 Prozent und damit auf den höchsten Satz aller Kassen angehoben habe81. Diesen Beitragssatz konnte das AOK-Mitglied damals nicht durch einen Kassenwechsel ausweichen82. In seinem Urteil vom 22. Mai 198583 ermittelte der 12. Senat des Bundessozialgerichts für 1985 Beitragssätze zwischen 7,0 Prozent und 14,4 Prozent bei einem durchschnittlichen Beitragssatz von 11,73 Prozent und befasste sich vor diesem Hintergrund eingehend mit der organisatorische Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung , den Ursachen für die Abweichungen im Beitragssatz, der unterschiedlichen Ausgleichsbedürftigkeit verschiedener Einflussfaktoren und der damaligen Finanzausgleiche in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Beitragssatzunterschiede hat das Bundessozialgericht als vereinbar mit dem Grundgesetz angesehen, jedoch angedeutet, dass sie künftig ausgleichsbedürftig werden könnten; zu einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht hat sich das Bundessozialgericht nicht entschließen können84. Bei der Prüfung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit unterschiedlich hoher Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich das Bundessozialgericht im Wesentlichen von folgenden Erwägungen leiten lassen: 79 Bundessozialgericht, Urteil vom 22. Mai 1985 – Az 12 RK 15/83 – BSGE 58, 134 = SozR 2200 § 385 RVO Nr. 14 und anschließend Bundesverfassungsgericht, Beschluss des Ersten Senats vom 8. Februar 1994 – 1 BvR 1237/85 – BVerfGE 89, 365 = SozR 3-2200 § 385 RVO Nr. 4 = NJW 1994, 2410 = NZS 1994, 364; im Rahmen des Risikostrukturausgleichs (RSA) Bundessozialgericht, Urteil vom 24. Januar 2003 – Az B 12 KR 19/01 R – BSGE 90, 231 (236) = SozR 4-2500 § 266 SGB V Nr. 1 S. 6 80 BSGE 58, 134 ff 81 BSGE 58, 134 (135) 82 Schlegel, GKV – Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) in jurisPR-SozR 4/2007 Anm.4 zu Gliederungspunkt 2.1.; ders., in: Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales, 2006, 378 (378) 83 BSGE 58, 134 (139) 84 BSGE 58, 134 (136 ff) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 21 Das Grundgesetz enthalte – so das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1985 – keine ausdrücklichen Vorschriften über die Organisation der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung. Hinweise ergäben sich insoweit auch nicht aus der Kompetenzvorschrift des Art. 74 Nr. 12 GG, aus der Vorschrift über die Bundesunmittelbarkeit bestimmter Sozialversicherungsträger (Art. 87 Abs. 2 GG) oder aus dem Gebot des sozialen Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 1 GG). Dies habe das Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden, zunächst zur gesetzlichen Unfallversicherung, später auch zur gesetzlichen Krankenversicherung85. Ebenso wie nach dieser Rechtsprechung die bestehende Organisation der Versicherungsträger keinem verfassungsrechtlichen Änderungsverbot unterliege, könne dem Grundgesetz umgekehrt ein Gebot entnommen werden, die Organisationsstruktur in einem bestimmten Sinne, etwa in Richtung auf eine Einheitsversicherung, zu ändern oder sie durch einen obligatorischen Finanzausgleich zu ergänzen86. Die Vorschriften über den Aufbau der gesetzlichen Krankenversicherung seien, soweit sie sich auf die Höhe der Beitragssätze auswirkten, auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar87. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verbiete, wesentlich Gleiches ohne zureichende sachliche Gründe ungleich und wesentliches Ungleiches ohne solche Gründe gleich zu behandeln; damit enthalte Art. 3 Abs. 1 GG über ein Willkürverbot hinaus die an Gesetzgebung und Rechtsprechung gerichtete Verpflichtung, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten nicht anders („ungleich“) zu behandeln, falls zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestünden, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigten88. Welche Elemente des zu regelnden Sachverhalts dabei so bedeutsam seien, dass ihrer Gleichheit oder Verschiedenheit bei der Ausgestaltung der Regelung Rechnung getragen werden müsse, habe grundsätzlich der Gesetzgeber zu entscheiden, sofern nicht schon die Verfassung selbst Wertungen enthalte, die dann auch den Gesetzgeber binden würden. Im Übrigen könne nur die Einhaltung bestimmter äußerster Grenzen überprüft und ihre Überschreitung beanstandet werden. Der Gesetzgeber habe demnach weitgehende Gestaltungsfreiheit89. Dieser Freiraum könne sich allerdings dadurch verengen, dass das Gesetz – wie in der gesetzlichen Krankenversicherung - mehrere Strukturprinzipien nebeneinander verwende. Ein derartiges System bedürfe wegen der Fülle von – häufig rein zufälligen – Überschneidungen, zu deren Erklärung auf jeweils andere Kriterien zurückgegriffen werden müsse, eher als ein homogen gegliedertes System eines Ausgleichs. Das gelte besonders für Unterschiede in den Beitragssätzen der Kassen, jedenfalls wenn die Sätze erheblich von einander abwichen, die Versicherten jedoch in vieler Hinsicht Gemeinsamkeiten aufwiesen, und zwar gerade solche versicherungsrechtlich be- 85 BSGE 58, 134 (141) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 86 BSGE 58, 134 (141) 87 BSGE 58, 134 (141) 88 BSGE 58, 134 (142) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 89 BSGE 58, 134 (142) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 22 deutsamer Art (etwa in der Höhe des Grundlohns90 oder in örtlicher oder beruflicher Beziehung )91. Ein Ausgleich könne hier allerdings nicht schon mit der Begründung gefordert werden, der Gleichheitssatz sei, wie im Steuerrecht strikt anzuwenden, so dass die Beitragspflichtigen auch hier alleinnach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit, d. h. im Wesentlichen nach ihrem Grundlohn und damit relativ gleichmäßig, zur Finanzierung der Lasten der Gemeinschaft heranzuziehen seien. Abgesehen davon, dass innerhalb der bestehenden Versichertengemeinschaften durchaus nach diesem Prinzip verfahren werde, sei der Beitrag eine Abgabe eigener Art, in der sich – anders als in der Steuer – auch der Umfang des versicherten Risikos niederschlage92. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass der Grundlohn nicht der einzige Faktor sei, der den Beitragssatz beeinflusse. Soweit ferner ein Finanzausgleich unter Hinweis auf das Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG gefordert werde, würde dieser bei den ausgleichsberechtigten Kassen nicht nur deren leistungsschwache Mitglieder, sondern auch die leistungsstarken begünstigen und bei den ausgleichspflichtigen Kassen außer den leistungsstarken zugleich die leistungsschwachen Mitglieder belasten. Es würden mithin neben bestimmten Wirkungen, die im Sinne des Sozialstaatsprinzips positiv zu werten wären, auch negative eintreten; das wesentliche Ergebnis wäre deshalb weniger eine soziale „Umverteilung“ als vielmehr eine breitere Streuung des Risikos93. Die vom Bundessozialgericht zu prüfenden Regelungen führten – so der 12. Senat in seinem Urteil vom 22. Mai 1985 – dazu, dass Mitglieder verschiedener Krankenkassen – trotz gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, die in gleich hohen Grundlöhnen ihren Ausdruck finde – unterschiedlich mit Beiträgen belastet würden94. Ungleiche Beitragssätze seien indessen die – notwendige - Folge eines gegliederten, d. h. dezentralen Aufbaus der gesetzlichen Krankenversicherung, die von allen Zweigen der Sozialversicherung am stärksten gegliedert sei. Dies gelte sowohl für die Zahl der Versicherungsträger als auch für die Gliederungsmerkmale je nach Kassenart in Bezirk , Berufsgruppen, Betriebe und Wirtschaftszweige. Die dadurch bedingten besonderen Verhältnisse bei den einzelnen Versicherungsträgern hätten dazu geführt, dass die Beitragssätze von Kasse zu Kasse verschieden seien. Wollte man Beitragssatzunterschiede vermeiden, müsste – so das Bundessozialgericht – der Aufbau der gesetzlichen Krankenversicherung grundlegend – in Richtung auf eine Einheitsversicherung – geändert werden. Ob dies wünschenswert sei, ob insbesondere die Vorzüge einer Einheitsversicherung deren Nachteile überwögen, habe in erster Linie der Gesetzgeber zu entscheiden. Dieser brauche aber bei seiner Entscheidung nicht allein oder vorrangig die Herstellung von Beitragssatzgleichheit zum Ziel zu haben, sondern könne im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit auch anderen sachlichen Erwägungen Raum geben und ihnen 90 An die Stelle des „Grundlohns“ im Sinne des damals noch maßgeblichen § 385 RVO sind unter der Geltung des SGB V die „beitragspflichtigen Einnahmen“ im Sinne der §§ 223, 226 ff SGB V getreten 91 BSGE 58, 134 (142) 92 BSGE 58, 134 (142) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 93 BSGE 58, 134 (142f) 94 Vgl. hierzu im Einzelnen BSGE 58, 134 (143f) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 23 damit die Einheit der Versicherung und die Gleichheit der Beitragssätze bis zu einem gewissen Grade „opfern“. Der Gesetzgeber habe die Gründe für und gegen einen zentralen oder einen dezentralen Aufbau wiederholt gegeneinander abgewogen, so anlässlich der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1883, vor der Verabschiedung der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Jahre 1911 und bei der Aufbaugesetzgebung im Jahre 1934. Dabei habe er sich aus jedenfalls vertretbaren Gründen für eine dezentrale Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung entschieden, um die Versicherten in möglichst homogenen Versichertengemeinschaften zusammenzuschließen. Ihnen sollte insbesondere für die häufigen und oft rasche Hilfe erfordernden Versicherungsfälle der Krankenversicherung ein versichertennahes und leistungsfähiges System mit Selbstverwaltung zur Verfügung stehen, das gleichzeitig einer übermäßigen oder gar missbräuchlichen Inanspruchnahme von Leistungen vorbeuge. Diese Gründe hätten auch heute noch Gewicht95. Auf der anderen Seite sei – so das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1985 – nicht zu verkennen, dass die gesetzliche Krankenversicherung trotz ihres dezentralen Aufbaus ein einheitliches System darstelle. Versicherungspflicht und Versicherungsberechtigung seien bundeseinheitlich geregelt, die Versicherten seien mit nur geringen Wahlmöglichkeiten bestimmten Kassen zugeordnet96. Die Ansprüche auf Leistungen seien heute im Wesentlichen gleich; Mehrleistungen hätten nur noch geringe Bedeutung. Auf viele kostenwirksame Vorgänge hätten die einzelnen Krankenkassen keinen oder keinen entscheidenden Einfluss mehr. Habe der Gesetzgeber in dieser Weise die Rahmenbedingungen für die gesetzliche Krankenversicherung selbst geregelt , so sei dadurch der Spielraum, der der Selbstverwaltung der Krankenkassen für eigenverantwortliche Entscheidungen verbleibe, entsprechend eingeengt. Das könne für die Finanzierung der Leistungen, insbesondere was die Festsetzung unterschiedlicher Beitragssätze betreffe, nicht ohne Auswirkung bleiben. Auch wenn solche Unterschiede, solange an dem System der gegliederten Krankenversicherung aus den angeführten Gründen festgehalten werde, grundsätzlich als systembedingt hingenommen werden müssten, sei damit die Frage, welches Ausmaß die Unterschiede erreichen dürften, allerdings noch nicht beantwortet. Der Gesetzgeber sei sich auch seiner Mitverantwortung dafür, dass die Spanne zwischen den Beitragssätzen der einzelnen Krankenkassen nicht zu groß werde, zunehmend bewusst geworden. Er habe auf verschiedenen Wegen versucht, die Folgen, die sich aus der dezentralen Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung für die Beitragssätze ergäben, zu mildern und die Solidarität innerhalb der bestehenden Versichertengemeinschaften durch eine Solidarität unter ihnen zu ergänzen97. Die wesentlichen Strukturelemente der gesetzlichen Krankenversicherung müssen sich nach Auffassung des Bundessozialgerichts auch dann bewähren, wenn es gilt, zu großen Beitragssatzunterschieden entgegenzuwirken . Dafür gebe es – trotz der weitgehenden Vereinheitlichung des Leistungsrechts und anderer, die Selbstverwaltung der Kassen einschränkender gesetzlicher Regelungen – für die 95 BSGE 58, 134 (144) mit Schrifttumsnachweisen zu den Vorzügen und Nachteilen einer zentralen oder dezentralen Struktur der gesetzlichen Krankenversicherung aus finanzwissenschaftlicher und aus sozialpolitischer Sicht 96 Zu dem den Versicherten mit dem Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz) vom 21. Dezember 1992 (BGBl. I S. 2266) ab dem Jahr 1996 gewährten Recht, zwischen den verschiedenen Trägern der Krankenversicherung nach Maßgabe der §§ 173 ff SGB V zu wählen, vgl. näher oben zu Gliederungspunkt 3.1. 97 BSGE 58, 134 (144f) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 24 Krankenkassen und ihre Verbände eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten, seit dem Jahre 1977 auch solche des Finanzausgleichs. Dass hiervon ein verantwortungsbewusster Gebrauch gemacht werde, diene dem Erhalt und Ausbau wesentlicher Merkmale der gesetzlichen Krankenversicherung , namentlich den Grundsätzen der Dezentralisation und der Selbstverwaltung, denen erhöhte Bedeutung zukomme98. Im Übrigen dürfe der Gesetzgeber bei der gebotenen langfristigen Betrachtung , die besonders für Ausgleichsregelungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung angemessen sei, die Wirkung seiner bisher getroffenen Vorkehrungen abwarten. Unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung, der vielfältigen Ursachen für die Beitragssatzunterschiede und ihrer verschiedenen Ausgleichsbedürftigkeit könnten ungleiche Beitragsbelastungen für vergleichbare Versicherte verschiedener Kassen jedenfalls nicht als schlechterdings unzumutbar bezeichnet werden, auch wenn sie vorübergehend einen erheblichen Umfang erreichten 99. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass die individuelle Beitragssatzfestsetzung der Krankenkassen , die nach der bis zum 31. Dezember 2008 maßgeblichen Rechtslage Ausdruck der Beitragssatzautonomie bzw. der Finanzhoheit der einzelnen Krankenkassen war, und die daraus resultierende unterschiedliche Beitragsbelastung der Versicherten trotz gleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und gleich hoher beitragspflichtiger Einnahmen vom Bundessozialgericht als mit dem Grundgesetz vereinbar angesehen worden ist. 4.2. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 8. Februar 1994 Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde des AOK-Mitglieds gegen das vorgenannte Urteil des Bundessozialgerichts vom 25. Mai 1985 mit Beschluss vom 8. Februar 1994100 zurückgewiesen und sich im Rahmen dieses grundlegenden Beschlusses eingehend mit den verfassungsrechtlichen Grenzen unterschiedlicher Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung befasst101. Der Beschwerdeführer rügte die Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. Als Pflichtmitglied der AOK könne er sich den überhöhten Beitragszahlungen nicht entziehen. Zahlreichen anderen Arbeitnehmern stehe dagegen der Zugang zu anderen Krankenkassen offen, die infolge ihrer besonderen Struktur günstigere Beitragssätze festlegen könnten. Die gesetzliche Regelung führe dazu, dass Versicherte trotz gleichen Einkommens, Familienstandes, Wohnortes, Arbeitsplatzes und gleicher Leistungen der Krankenkassen Beiträge unterschiedlicher Höhe aufwenden müssten, weil sie Krankenkassen angehörten, die eine ungünstigere Mitgliederstruktur aufwiesen . Die Zuweisung zu den verschiedenen Krankenkassen und die Öffnung des Zugangs zu den 98 BSGE 58, 134 (150) unter Bezugnahme auf den Bericht der Bundesregierung zu Fragen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung in BT-Drs. 7/4244, S. 5f unter Gliederungspunkt 2.1. und Hendler, Selbstverwaltung als Organisationsprinzip, 1984, S. 345 ff 99 BSGE 58, 134 (150) 100 1 BvR 1237/85 – BVerfGE 89, 365 ff = SozR 3 – 2200 § 385 RVO Nr. 4 = NZS 1994, 364 ff 101 In seiner Entscheidung weist das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich darauf hin, der Beschwerdeführer habe mit seiner Verfassungsbeschwerde erreicht, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen für unterschiedliche Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung „geklärt“ worden seien (BVerfGE,89, 365 (381). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 25 Ersatzkassen erfolge nach Maßstäben, die nicht an das Einkommen oder die Risikostruktur des jeweiligen Versicherten anknüpften, sondern sich an Verwaltungsgrenzen, dem jeweiligen Arbeitgeber oder historischen Zufälligkeiten ausrichteten. Die Solidarität der Mitglieder der Ortskrankenkassen als der in örtlicher Gemeinschaft lebenden Versicherten sei durch parallele Innungs - und Betriebskrankenkassen sowie die Möglichkeit des Beitritts zu Ersatzkassen aufgebrochen . Die Krankenkassen erfassten keine homogenen Gruppen von Versicherten, sondern erstreckten sich auf Personen mit unterschiedlicher Risiko-und Einkommensstruktur. Die Beitragssatzunterschiede ließen sich aus der Autonomie der einzelnen Krankenkassen nicht rechtfertigen . Der Gesetzgeber müsse ein wirksames Instrument des Ausgleichs bereitstellen. Andernfalls seien die Regelungen über die zwangsweise Zuteilung der Pflichtversicherten zu einer bestimmten Kasse sowie über den Ausschluss und die Beschränkung der Möglichkeit, eine Ersatzkassenmitgliedschaft zu wählen, mangels hinreichender sachlicher Gründe nicht mit dem Grundgesetz vereinbar102. In seinem Beschluss vom 8. Februar 1994 führte das Bundesverfassungsgericht zur Begründung seiner Zurückweisungsentscheidung aus, der Beschwerdeführer wende sich nicht gegen die Krankenversicherungspflicht als solche und auch nicht primär gegen die gesetzliche Zuweisung zu einer Ortskrankenkasse, sondern gegen die ihn als Mitglied dieser Ortskrankenkasse im Vergleich zu Versicherungspflichtigen anderer Kassen treffende höhere Beitragsbelastung. Hierfür sei Prüfungsmaßstab nicht Art. 2 Abs. 1 GG, sondern der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG103. Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ergäben sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichten. Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern solle, unterliege der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung104. Als Vergleichsgruppen seien im vorliegenden Fall die Versicherten zu betrachten, die verschiedenen Krankenkassen angehörten und bei gleichem Einkommen und im Wesentlichen gleichen Leistungen der Kasse unterschiedlich hohe Leistungsbeträge zu erbringen hätten. Danach sei weder eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit geboten noch eine bloße Willkürkontrolle ausreichend , da es um eine Ungleichbehandlung von Personengruppen gehe, die nicht an personengebundene Merkmale anknüpfe, sondern an den Sachverhalt der Zugehörigkeit zu einer be- 102 BVerfGE 89, 365, (371f) 103 BVerfGE 89, 365 (375) 104 BVerfGE 89, 365 (375) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; zu dieser sog. „neuen Formel“ vgl. Katzenstein, in: Die Sozialgerichtsbarkeit, 1988, 177 (180f); Umbach/Clemens, in: VSSR 1992, 265 (277f); Bieback, in: Die Sozialgerichtsbarkeit, 1989, 46 (46f) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 26 stimmten Krankenkasse. Den Besonderheiten des geregelten Lebens- und Sachbereichs komme deshalb erhebliche Bedeutung für die Frage zu, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt sei105. Das Bundesverfassungsgericht geht angesichts dessen einerseits davon aus, dass es sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers hinzunehmen habe, solange dessen Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar seien. Andererseits sieht es dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers dort engere Grenzen gezogen, wo eine Ungleichbehandlung Auswirkungen auf grundrechtlich gesicherte Freiheiten hat. Dieser Gesichtspunkt sei angesichts der Zwangsmitgliedschaft der Versicherten in einem öffentlichrechtlichen Verband, die deren allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG einschränkten , von Bedeutung. Dies gelte besonders für diejenigen Versicherten, die wie der Beschwerdeführer nicht zwischen verschiedenen Krankenkassen wählen könnten, sondern einer bestimmten Kasse zugewiesen seien106. Die mit der Verfassungsbeschwerde als verfassungswidrig gerügte Ungleichbehandlung sei ursächlich bedingt durch den gegliederten, dezentralen Aufbau der gesetzlichen Krankenversicherung . Es liege jedoch in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, sich für ein solches, nach Kassenarten gegliedertes, durch Selbstverwaltung und Eigenständigkeit der einzelnen Krankenversicherungsträger gekennzeichnetes System zu entscheiden. Bei der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung habe der Gesetzgeber an die historisch gewachsene Struktur angeknüpft. Dass er daran im Wesentlichen festgehalten habe, sei nicht sachwidrig. Für die Aufrechterhaltung organisatorisch verselbständigter, überwiegend regional gegliederter Einheiten spreche deren größere Flexibilität. Eine Krankenkasse mit regional begrenztem Einzugsgebiet weise insbesondere ein höheres Maß an Bürgernähe auf als ein landes- oder bundesweit tätiger Krankenversicherungsträger . Darüber hinaus habe der Gesetzgeber davon ausgehen dürfen, dass regional begrenzte Kassen sparsamer wirtschaften als große überregionale Einheiten107. Eine den Gesetzgeber von Verfassungs wegen treffende Pflicht zur Errichtung einer Einheitskrankenversicherung bestehe demgegenüber nicht. Der Gesetzgeber sei zwar nicht gehindert, sämtliche Versicherungsträger eines Zweiges der Sozialversicherung zu einer bundesunmittelbaren Körperschaft zusammenzufassen. Es sei jedoch nicht zu beanstanden, wenn er an den gewachsenen , überkommenen Strukturen festhalte. Insbesondere ergebe sich aus dem Grundgesetz kein Auftrag für den Gesetzgeber, eine solche Zentralisierung anzustreben oder zu verwirklichen. Das Grundgesetz schreibe die Organisation der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Krankenversicherung nicht vor. Aus Art. 74 Nr. 12 GG und Art. 87 Abs. 2 GG ergebe sich weder ein Änderungsverbot noch ein bestimmtes Gestaltungsgebot. Ebenso lasse sich aus dem Sozialstaatsgebot weder ein Anspruch des Einzelnen auf ein in bestimmter Weise ausgestaltetes Sozialversicherungssystem noch ein Bestandsschutz der einzelnen Krankenkassen herleiten108. 105 BVerfGE 89, 365 (375f) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 106 BVerfGE 89, 365 (376) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 107 BVerfGE 89, 365 (376f) 108 BVerfGE 89, 365 (377) mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 27 Auch wenn danach der gegliederte Aufbau der gesetzlichen Krankenversicherung als solcher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, so vermöge dieser Umstand das Bestehen von Beitragssatzunterschieden zwischen den einzelnen Krankenkassen aber nur im Grundsatz zu rechtfertigen . Da Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen müssten, damit die Ungleichbehandlung vor Art. 3 Abs. 1 GG Bestand haben könne, seien Beitragssatzunterschiede dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn sie ein unangemessenes Ausmaß erreichten. Dies gelte jedenfalls so lange, als sich der Einzelne dieser ungleichen Belastung nicht durch die Wahl einer anderen Krankenkasse entziehen könne109. Gemessen an diesen Maßstäben seien die zum Teil erheblichen Unterschiede in den Beitragssätzen in der Vergangenheit verfassungsrechtlich bedenklich gewesen. Gleichwohl sei Art. 3 Abs. 1 GG jedoch nicht verletzt, weil dem Gesetzgeber genügend Zeit für eine Korrektur eingeräumt werden müsse und er bereits hinreichende Schritte unternommen habe, um die Unterschiede zu verringern110. In seinem Beschluss vom 8. Februar 1994 führt das Bundesverfassungsgericht hierzu aus, bei der Beurteilung der unterschiedlichen Beitragsbelastung je nach Art der Krankenkasse , Wohnort und Beruf des Versicherten sei zu berücksichtigen, dass bei der gesetzlichen Krankenversicherung anders als bei der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Höhe der geleisteten Beiträge und der Höhe der gewährten Leistungen nicht bestehe. In der gesetzlichen Krankenversicherung richte sich die Beitragshöhe zwar ebenfalls nach einem als Beitragssatz gekennzeichneten Prozentsatz des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts. Diese Leistungen bestimmten sich hier aber vor allem nach dem Maß der notwendigen Krankenbehandlung. Demgegenüber machten die lohnbezogenen Leistungen seit Inkrafttreten des Lohnfortzahlungsgesetzes vom 27. Juli 1969 nur noch einen geringen Teil der Kostenaufwendungen der Krankenversicherung aus. Die fehlende Äquivalenz von Beitrag und Leistung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung bringe Unterschiede in den Beitragssätzen verschiedener Krankenkassen zwangsläufig mit sich. Daher sei der Gesetzgeber nicht gehalten, die Unterschiede völlig einzuebnen oder dies auch nur als Ziel anzustreben111. Zwischen den einzelnen Krankenkassen hätten zwar ursprünglich auch erhebliche Unterschiede in den Leistungen bestanden. Im Laufe der Zeit seien aber immer mehr Leistungen der Krankenkassen zu gesetzlichen Regelleistungen erklärt und die Möglichkeiten der einzelnen Krankenkassen zu satzungsgemäßen Mehr- und Ermessensleistungen verringert worden, mit der Folge, dass sich bereits in dem für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraum das Leistungsangebot der Krankenkassen nur noch in Randbereichen unterschieden habe. Unterschiede in den Leistungen der Krankenkassen könnten wegen ihres geringen Ausmaßes verschieden hohe Beitragssätze kaum noch rechtfertigen. Der Vergleich der Beitragssätze könne sich daher auch nicht am Durchschnitt der einzelnen Kassenart ausrichten, sondern müsse die Gesamtheit der gesetzlichen Krankenkassen in den Blick nehmen 112. 109 BVerfGE 89, 365 (377f) mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 110 BVerfGE 89, 365 (378) 111 BVerfGE 89, 365 (378) 112 BVerfGE 89, 365 (379) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 28 Je stärker sich im Laufe der Zeit die Leistungen der Krankenkassen angenähert hätten, desto mehr sei die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Beitragssatzunterschiede zu begrenzen, gewachsen. Der Gesetzgeber sei jedoch dieser Verpflichtung in dem ihm zuzubilligenden zeitlichen Rahmen und der ihm zustehenden Freiheit in der Wahl der Mittel hinreichend nachgekommen. Dem Gesetzgeber gebühre bei der Neuregelung eines komplexen Sachverhalts ein zeitlicher Anpassungsspielraum . Es müsse ihm grundsätzlich erlaubt sein, eine derartige Neuregelung in mehreren Stufen zu verwirklichen, um den Regelungsaufwand und die organisatorischen und finanziellen Folgen jeweils zu begrenzen und zunächst in einem Teilbereich Erfahrungen zu sammeln, die bei den weiteren Schritten berücksichtigt werden könnten. Um einen solchen komplexen Regelungsgegenstand handele es sich hier. Der Gesetzgeber habe bei der Einschätzung der jeweiligen Lage und der künftigen Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung eine Fülle von Faktoren, darunter auch die Zunahme des Anteils der Angestellten und die entsprechende Abnahme des Anteils der Arbeiter am Gesamtbestand der Versicherten sowie den steigenden Anteil von Rentnern infolge Frühverrentung und steigender Lebenserwartung, in Betracht ziehen müssen. Deshalb sei es, wenn er an dem gegliederten System der Krankenversicherung habe festhalten wollen , nicht sachwidrig gewesen, dass er zunächst nach Abhilfe im Binnensystem der einzelnen Kassenarten gesucht habe und Finanzausgleiche auf freiwilliger Basis habe ermöglichen wollen 113. Bereits das Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz vom 28. Dezember 1976 habe die Vereinigung von Krankenkassen zu größeren und leistungsfähigeren Einheiten gefördert. Mit dem Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vom 27. Juni 1977 seien zusätzliche Ausgleichsregelungen in Kraft getreten. Darüber hinaus sei in der Krankenversicherung der Rentner ein obligatorischer Finanzausgleich aller Krankenkassen unter Einbeziehung der Ersatzkassen eingeführt worden. Dass diese Regelungen, die eine Verminderung der Beitragssätze und damit eine Entlastung der Krankenversicherungsträger bewirken sollten, die in den Gesetzgebungsverfahren geäußerten Prognosen und die in sie gesetzten Hoffnungen kaum erfüllt hätten, gereiche angesichts der geschilderten Schwierigkeiten dem Gesetzgeber nicht zum Vorwurf. Es handele sich um erste Schritte des Gesetzgebers zur Milderung der Beitragssatzunterschiede in der Zeit vor dem Ausgangsverfahren. Auch in der Folgezeit habe der Gesetzgeber dieses Ziel nicht aus den Augen verloren. Nach dem Gesundheits- Reformgesetz vom 20. Dezember 1988 lasse die Einführung eines umfassenden Risikostrukturausgleichs unter den Krankenkassen durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 ab dem Jahre 1994 eine weitere Verringerung der Beitragssatzunterschiede erwarten. Außerdem sei damit zu rechnen, dass das verfassungsrechtliche Problem ungleicher Beitragssätze durch die Einführung der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Krankenkassen ab dem 1. Januar 1996 zusätzlich entschärft werde.114. 113 BVerfGE 89, 365 (379f) 114 BVerfGE 89, 365 (380f); zu den Änderungen durch das Gesundheitsstrukturgesetz vom 21. Dezember 1992 vgl. näher oben zu Gliederungspunkt 3.1. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 29 5. Der aktuelle Diskussionsstand zur Wiederherstellung der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen Die Forderung, die volle Beitragssatzautonomie der Krankenkassen wieder herzustellen und dadurch die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung zu stärken, wird in der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion vor allem von den Ersatzkassen und den Innungskrankenkassen und zum Teil auch von den Betriebskrankenkassen erhoben115. Darüber hinaus liegt eine vom IGES Institut im Auftrag der DAK-Gesundheit erarbeitete wissenschaftliche Studie vor, die zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Wiederherstellung der Beitragssatzautonomie unter den inzwischen geänderten Rahmenbedingungen möglich und wünschenswert ist116. 5.1. Argumente der Krankenkassen für eine Rückkehr zu vollen Beitragssatzautonomie 5.1.1. Ersatzkassen Die Wiederherstellung der vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen – auch mit dem Ziel, die Selbstverwaltung in der GKV zu stärken – wird besonders nachdrücklich von den Ersatzkassen befürwortet, die für diesen Systemwechsel bei der Festlegung des Beitragssatzes insbesondere folgende Gründe geltend machen: Das Fundament der gesetzlichen Krankenversicherung sei eine verlässliche Finanzierung. Seit Jahren stiegen die Ausgaben in der GKV jedoch stärker als die Einnahmen. Dies führe immer wieder zu kurzfristigen Kostendämpfungsgesetzen und Strukturreformen. Die gegenwärtigen Überschüsse seien nur kurzfristigen politischen Interventionen zur Abwendung der Konsequenzen aus der Finanzmarktkrise auf die Finanzen der GKV zu verdanken; an den strukturellen Defiziten ändere sich dadurch nichts. Zielsetzung müsse sein, eine nachhaltige Finanzierung zu gewährleisten , bei der die Ausgabenentwicklung in der GKV im Einklang mit den Einnahmen der Krankenkassen stehe117. Um dieses Ziel zu erreichen und den Krankenkassen wieder mehr finanziellen Gestaltungsspielraum für innovative Versorgungsangebote zu eröffnen, sei es von zentraler Bedeutung, zur vollständigen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen zurückzukehren und die Festlegung des Beitragssatzes damit wieder der Selbstverwaltung in der GKV zu überlassen118. Mit Hilfe eines kassenindividuellen einkommensabhängigen Beitragssatzes könne die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen feiner justiert werden. Diskussionen um Rücklagen und Fondsüberschüsse seien dann überflüssig, weil die Beitragserhebung passgenauer und bedarfsgerechter erfolgen 115 Vgl. hierzu im Einzelnen nachfolgend zu den Gliederungspunkten 5.1.1. bis 5.1.3. 116 Vgl. hierzu nachfolgend zu dem Gliederungspunkt 5.2. 117 Verband der Ersatzkassen e. V., Gesundheitspolitische Positionen der Ersatzkassen 2013, Berlin 2013, S. 28 118 Verband der Ersatzkassen e. V. (Hrsg), Gesundheitspolitische Positionen der Ersatzkassen 2013, Berlin 2013, S. 29; so auch der Verbandsvorsitzende des vdek Zahn, in: ersatzkasse report, September 2013, S. 3 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 30 könne119. Die Wiedereinführung der Beitragssatzautonomie für die Krankenkassen könne ohne großen Aufwand und auch unter Berücksichtigung des Gesundheitsfonds umgesetzt werden120. Eine Rückkehr zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen sei gegenüber dem derzeit geltenden System mit vielfältigen Vorteilen verbunden. Die Kassen könnten den Beitragssatz auch unterjährig anpassen und damit schneller reagieren als der Staat. Ausgaben- und Einnahmeseite gehörten in eine Hand. Der Selbstverwaltung sei es bislang immer gelungen, hier einen vernünftigen Ausgleich herzustellen. Bei der Festlegung der kassenindividuellen Beitragssätze habe sie in der Vergangenheit stets abgewogen zwischen dem berechtigten Wunsch der Versicherten nach einer umfassenden, qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung und der ebenfalls begründeten Erwartung der Beitragszahler, dass dies möglichst wirtschaftlich erfolgen soll. Diese große Verantwortung sei im Jahr 2009 mit dem Gesundheitsfonds auf die Bundesregierung übergegangen. Der Gesetzgeber habe sich dadurch von einem wesentlichen Grundsatz der Bismarckschen Sozialpolitik verabschiedet, indem er die Beitragsautonomie der Selbstverwaltung aufgehoben habe121. Da sich der kassenindividuelle Beitragssatz stärker am tatsächlichen Finanzbedarf orientiere, bestehe auch nicht die Gefahr, dass bei den Krankenkassen als Folge überhöhter Beitragssätze hohe Überschüsse wie in den zurückliegenden wirtschaftlich starken Jahren aufgebaut würden. Die gesamtwirtschaftliche Situation sei zuletzt deutlich besser als erwartet gewesen, so dass der staatlich festgesetzte Beitragssatz von 15,5 Prozent daran gemessen zu hoch gewesen sei. Er habe den Versicherten und Arbeitgebern deshalb mehr Geld genommen, als für die Versorgung notwendig gewesen wäre. Hätten die Krankenkassen wie früher den Beitragssatz selbst bestimmen können, sei er dies vermeidbar gewesen. Aufgrund des bisherigen Systems hätten sich Rücklagen aufgebaut, die die Politik veranlasst hätten, den Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen zu kürzen122. Zudem werde mit der Wiederherstellung der Beitragssatzautonomie ein fairer Wettbewerb zwischen den Krankenkassen ermöglicht. Von dem derzeitigen pauschalen Zusatzbeitrag gehe demgegenüber ein ungesunder Wettbewerb aus. Die Erfahrungen aus den Jahren 2011 und 2012 zeigten , dass die Erhebung auch kleinster Zusatzbeiträge zu Überreaktionen bei den Versicherten führe. Teilweise hätten die Zusatzbeiträge eine Abwanderungsspirale in Gang gesetzt, die zu einer mitunter existenzgefährdenden Verschlechterung der Wettbewerbsposition einzelner Kassen geführt habe, obwohl die betroffenen Krankenkassen weder aufgrund ihrer Organisation noch ihrer Struktur Leistungen unwirtschaftlich erbracht hätten. Von dem pauschalen Zusatzbeitrag nach derzeitigem Recht gehe kein angemessenes Preissignal für wirtschaftliche Leistungserbringung aus. Stattdessen komme es zu sehr starken Mitgliederfluktuationen ohne Effizienzgewinne 119 vdek - Verband der Ersatzkassen e. V., Gesundheitspolitische Positionen der Ersatzkassen 2013, Berlin 2013, S. 29 120 So die Vorstandsvorsitzende des vdek UlrikeElsner, in: Welt der Krankenversicherung, Zeitschrift, 2013, S. 274 121 So der Vorsitzende des vdek Christian Zahn, in: ersatzkasse report, Zeitschrift, September 2013, S. 3 sowie in: Die Ersatzkasse, Zeitschrift,2008, S. 468 (468) 122 So der Vorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen Christian Zahn, in: ersatzkasse report, September 2013, S. 3 sowie der Abteilungsleiter Politik/Selbstverwaltung beim vdk Meyers-Middendorf, in: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 31 für das Gesamtsystem, die im Interesse eines stabilen Finanzierungssystems korrigiert werden müssten. Auch habe die negative Begleitdiskussion seitens der Politik dazu geführt, dass das System der Zusatzbeiträge in der Bevölkerung keine Akzeptanz gefunden habe. Eine autonome Beitragssatzgestaltung durch die Krankenkassen stelle sicher, dass die Reaktionen am Markt wieder auf ein gesundes und angemessenes Maß zurückgeführt würden. In der derzeitigen Finanzierungssystematik seien bei zunehmenden Zusatzbeiträgen zudem wachsende Steuermittel für einen Sozialausgleich notwendig. Die Bereitstellung von Steuermitteln habe sich in der Vergangenheit aber wiederholt als unsicher erwiesen. Auch angesichts des EU-Fiskalpaketes und der damit einhergehenden deutlichen Begrenzung der Neuverschuldung, die ab dem Jahr 2016 zu einem ausgeglichenen Bundeshaushalt zwingen würden, werde es immer schwieriger, zusätzliche Steuermittel für einen Sozialausgleich im Gesundheitswesen zur Verfügung zu stellen. Kassenindividuelle Beitragssätze machten demgegenüber den in der derzeitigen Finanzierungssystematik vorgesehenen aufwendigen Sozialausgleich aus Steuermitteln überflüssig und verhinderten unnötige Bürokratie123. Die Ersatzkassen sprechen sich darüber hinaus dafür aus, das Selbstverwaltungsprinzip zu stärken . Im Rahmen der sozialen Selbstverwaltung werde sichergestellt, dass die Versicherten und Beitragszahler an den Entscheidungen der Krankenkassen und ihrer Organisationen beteiligt seien . Die Mitwirkung der Betroffenen sei durch die Sozialwahlen demokratisch legitimiert und sichere praxisgerechte, ökonomisch vertretbare und gesellschaftlich akzeptierte Entscheidungen. Um diese wichtigen Funktionen auch in Zukunft erfüllen zu können, dürfe der Handlungsspielraum der Selbstverwaltung nicht weiter eingeschränkt werden. Stattdessen sei es erforderlich, ihren Verantwortungsbereich auszubauen, indem z. B. die Beitragssätze der Krankenkassen wieder selbstständig und kassenindividuell durch ihre Verwaltungsräte festgesetzt werden könnten. Die Beitragszahler würden dadurch in die Lage versetzt, die durch sie erbrachte Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen bedarfsgerechter und effizienter zu gestalten, als dies derzeit durch die zentrale, staatliche Festsetzung möglich sei124. 5.1.2. Innungskrankenkassen Auch die Innungskrankenkassen125 fordern, den GKV-Einheitsbetrag abzuschaffen und die volle Beitragssatzautonomie der Krankenkassen wiederherzustellen126. Gleiche Beitragssätze verschlei- 123 So die Vorstandsvorsitzende des vdek Elsner, in: Welt der Krankenversicherung, Zeitschrift, 2013, S. 274 sowie Baumann, in: ersatzkasse Magazin 2013, Nr. 11/12 S. 10f und Meyers-Middendorf (Abteilungsleiter Politik /Selbstverwaltung beim vdek), in: ersatzkasse Magazin 2013, Nr. 7/8, S. 27 ff 124 Verband der Ersatzkassen e. V. (Hrsg.), Positionierung der Ersatzkassen zur Reform der sozialen Selbstverwaltung und der Sozialwahlen, Berlin 2013, S. 7 125 Als Krankenversicherung für das Handwerk sind die Innungskrankenkassen (IKK) die einzigen branchenbezogenen Krankenkassen in Deutschland, denen mehr als 5 Mio. Versicherte angehören. Die Innungskrankenkassen weisen starke Ähnlichkeiten mit den Betriebskrankenkassen auf, vgl. hierzu näher Brall, in: Sodan, Handbuch des Krankenversicherungsrechts, § 32 Rn. 25 ff. 126 IKK e. V., Anforderungen an eine nachhaltige Gesundheitspolitik – Positionen des IKK e. V. zum Wahljahr 2013, Berlin, September 2012 S. 7 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 32 erten den Wettbewerb127. Der von der Politik forcierte Preiswettbewerb über die Zusatzbeiträge ist aus Sicht der Innungskrankenkassen gescheitert128. Das aktuelle Finanzierungssystem mit dem Zusatzbeitrag sei versicherten- und leistungsfeindlich. Zukünftige Ausgabensteigerungen gingen nur zu Lasten der Versicherten. Darüber hinaus habe dies zu einer „Zusatzbeitrags-Vermeidungsstrategie “ der Kassen zu Lasten von Leistungen geführt129. Die Wiedereinführung der vollständigen Beitragssatzautonomie sei auch ein erster Schritt zur Stärkung des Prinzips der Selbstverwaltung in der GKV130. Das System der sozialen Selbstverwaltung in Deutschland habe sich bewährt und sei zum Organisationsvorbild für andere Länder geworden. Die Selbstverwaltung sei ein Garant für Bürgernähe und demokratische Entscheidungsfindung. Der zunehmende Staatseinfluss führe jedoch tendenziell zur Einschränkung der Gestaltungsräume der Selbstverwaltung131. 5.1.3. Betriebskrankenkassen Auch auf Seiten der Betriebskrankenkassen wird zum Teil - so etwa von den beiden Vorständen der Siemens-Betriebskrankenkasse in München132 - die Forderung erhoben, die soziale Selbstverwaltung in der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Rückkehr zur vollen Beitragssatzautonomie der Krankenkassen zu stärken. Die bei der Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung als eines der grundlegenden Prinzipien verankerte Selbstverwaltung sei – unabhängig von den historischen und politischen Motiven – auch heute noch ein wesentlicher Gestaltungsgrundsatz, der aktueller denn je sei und bei dem es darum gehe, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Auch die Selbstverwaltung sei nichts anderes als die Aktivierung der Bürgergesellschaft, um Menschen bei der Gestaltung der sozialen Krankenversicherung mitzunehmen, ihren Input zu fördern und zu nutzen. Aufgrund ihrer direkten Verankerung bei Versicherten und Arbeitgebern übernehme die soziale Selbstverwaltung Verantwortung für die Versichertengemeinschaft und könne dabei schnell und flexibel agieren. Bestes Beispiel hierfür sei die Beitragssatzautonomie, die es den Selbstverwaltern in der Vergangenheit ermöglicht habe, die Beitragssätze je nach Haushalts- und Wettbewerbssituation der Krankenkasse anzupassen. Demgegenüber werde die Änderung des einheitlichen Beitragssatzes 127 IKK e. V., Anforderungen an eine nachhaltige Gesundheitspolitik – Positionen des IKK e. V. zum Wahljahr 2013, Berlin, September 2012 S. 6 128 IKK e. V.: Statt Prämienzahlungen – Rückkehr zur Beitragssatzautonomie und mehr Wettbewerb, Innungskrankenkassen positionieren sich als erste Kassenart zur Bundestagswahl 2013, Pressemitteilung, Berlin, 6. September 2012, S. 1 129 IKK e. V., Anforderungen an eine nachhaltige Gesundheitspolitik – Positionen des IKK e. V. zum Wahljahr 2013, Berlin, September 2012 S. 6 130 IKK e. V., Anforderungen an eine nachhaltige Gesundheitspolitik – Positionen des IKK e. V. zum Wahljahr 2013, Berlin, September 2012 S. 25 131 IKK e. V., Anforderungen an eine nachhaltige Gesundheitspolitik – Positionen des IKK e. V. zum Wahljahr 2013, Berlin, September 2012 S. 24 132 Demmler/Unterhuber, Feigenblatt Selbstverwaltung? Ohne Gestaltungsfreiheit kein Qualitätswettbewerb – mehr Entscheidungsspielraum für die Selbstverwaltung, in: Welt der Krankenversicherung, Zeitschrift, 2013, S. 302 ff Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 33 heute von der Bundespolitik diskutiert. Die Entscheidungsfindung berücksichtige dabei immer weniger die einzelwirtschaftliche Kassensituation, sondern bediene zum Teil ganz andere Motive 133. Hinzu komme, dass die Änderung des Beitragssatzes einer Änderung des entsprechenden Gesetzes bedürfe, mit allen zeitlichen und formalen Implikationen. Demgegenüber habe man nach der bis Ende 2008 geltenden Rechtslage mit einem schlichten Beschluss des Verwaltungsrates zeitnah reagieren können. Die Selbstverwaltung sei im kulturellen Kontext der Bundesrepublik ein wichtiges Gestaltungselement und habe auch im Vergleich mit sozialen Sicherungssystemen anderer Länder im Hinblick auf Akzeptanz, Anpassungsfähigkeit und Effizienz des Systems gut funktioniert. Es trage durch das Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zum sozialen Frieden und damit zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland bei134. Im Zuge der gesundheitspolitischen Reformen in den letzten Jahren habe der Gesetzgeber durch staatliche Regulierungsaktivitäten die Rechte der Selbstverwaltung jedoch nach und nach beschnitten und dadurch den Handlungsspielraum der Selbstverwaltung eingeengt. Besonders gravierend sei hier der Verlust der Kompetenz zur Festsetzung der Beitragssätze, bei dem es sich um einen massiven Eingriff in die Finanzhoheit der sozialen Selbstverwaltung handele. Auch die in diesem Zusammenhang häufig angeführte Befugnis zur Erhebung eines krankenkassenindividuellen Zusatzbeitrags und die Möglichkeit der Krankenkassen, unter bestimmten Voraussetzungen an ihre Mitglieder Prämien auszuzahlen, ändere nichts daran, dass hier ein maßgeblicher Einschnitt stattgefunden habe135. Seit Einführung des einheitlichen Beitragssatzes fehle für die gesetzliche Krankenversicherung eine entscheidende Gestaltungsgröße. Ein echter Preiswettbewerb finde nicht statt. Zusatzbeiträge würden von den Versicherten zwar häufig mit einem Kassenwechsel „bestraft“, seien aber nicht Ausdruck von Qualität und Wirtschaftlichkeit, sondern eher ein zufälliges Ergebnis der historischen Finanzausstattung und der regionalen Versorgungsschwerpunkte. Der Wettbewerb um die bessere Qualität in der Versorgung und in den Leistungsangeboten sei mit Blick auf den einheitlichen Beitragssatz und den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) zum Erliegen gekommen. Stattdessen werde im Hinblick auf den Morbi-RSA viel Geld in die Optimierung von Datenmeldungen und Rightcoding bzw. Upcoding investiert, Gelder, die für die Versorgung der Patienten sinnvoller verwendet werden könnten. Vor diesem Hintergrund gewinne in der gesundheitspolitischen Diskussion die Forderung, die Beitragssatzautonomie wieder in die Verantwortung der Selbstverwaltung zu legen, zunehmend an Unterstützung136. Die beiden Vorstände der Siemens-Betriebskrankenkasse gelangen angesichts der von ihnen auch im Übrigen konstatierten zunehmenden Einengung der Rechte der Selbstverwaltung zu der Einschätzung , diese Beschneidung führe zu einer Aufgabenverlagerung hin zum Staat und es komme zu einer zentralen und damit uniformen Steuerung der gesetzlichen Krankenversicherung. Dies 133 Demmler/Unterhuber, in: Welt der Krankenversicherung, 2013, S. 302 (302) unter Hinweis auf die aktuelle Diskussion zur Beitragssatzänderung in der gesetzlichen Rentenversicherung 134 Demmler/Unterhuber, in: Welt der Krankenversicherung, 2013, S. 302 (302) 135 Demmler/Unterhuber, in: Welt der Krankenversicherung, 2013, S. 302 (302) 136 Demmler/Unterhuber, in: Welt der Krankenversicherung, 2013, S. 302 (302f) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 072/14 Seite 34 wiederum habe den Verlust von Vielfalt, Wettbewerb und Innovation zur Folge. Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen werde auf diese Weise langfristig auf das Thema Zusatzbeitrag bzw. Prämie reduziert. Einer Kasse erscheine ein Qualitätswettbewerb vor diesem Hintergrund als nicht mehr erstrebenswert137. 5.2. Die vom IGES Institut im Auftrag der DAK-Gesundheit vorgelegte Studie „Beitragssatzautonomie der Krankenkassen - Eine Machbarkeitsstudie“ vom Oktober 2013 Abschließend ist noch auf eine vom IGES Institut im Auftrag der DAK-Gesundheit erarbeitete Studie unter dem Titel „Beitragssatzautonomie der Krankenkassen – Eine Machbarkeitsanalyse“ hinzuweisen138, die im Oktober 2013 veröffentlicht wurde und zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Wiederherstellung der Beitragssatzautonomie unter den inzwischen veränderten Rahmenbedingungen nicht nur möglich ist, sondern auch einen Beitragswettbewerb mit größerer Funktionsfähigkeit erwarten lasse. Vor allem aber knüpfe sich an eine Rückkehr zur Beitragssatzautonomie die Erwartung, dass sich der Beitragswettbewerb – im Vergleich zum bisherigen „Zusatzbeitragsvermeidungswettbewerb “ – zukünftig ausgewogener und um fassender im Sinne eines Preis-Qualitäts-Wettbewerbs gestalte. Eine Rückkehr zur Beitragssatzautonomie stelle vor diesem Hintergrund eine Option dar, die anstehenden Gestaltungsaufgaben eines langfristig nachhaltigen Finanzierungssystems in der Krankenversicherung zu lösen, ohne dass in der hierfür benötigten Zeit der Beitragswettbewerb zum Erliegen komme139. 6. Literaturverzeichnis Baumann, Manfred, Mehr als nur an den Schrauben drehen – Finanzlage der GKV, in: ersatzkasse magazin 2013, Nr. 11/12, S. 10-11 Bieback, Karl-Jürgen, Gleichbehandlungsgrundsatz und Sozialrecht, in: Die Sozialgerichtsbarkeit (SGb), Zeitschrift, 1989, S. 46-53 Demmler, Gertrud/Unterhuber, Hans, Feigenblatt Selbstverwaltung? Ohne Gestaltungsfreiheit kein Qualitätswettbewerb – mehr Entscheidungsspielraum für die Selbstverwaltung, in: Welt der Krankenversicherung, 2013, S. 302-304 Elsner, Ulrike, Zurück zur Beitragsautonomie! 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