© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 068/21 Zum Rückgriff auf die Generalklausel in § 28 Infektionsschutzgesetz nach Beendigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 2 Zum Rückgriff auf die Generalklausel in § 28 Infektionsschutzgesetz nach Beendigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 068/21 Abschluss der Arbeit: 23. Juli 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Einführung des § 28a Abs. 1 IfSG 5 3. Zur Frage der Sperrwirkung des § 28a Abs. 1 IfSG 6 3.1. Rechtsnatur des § 28a Abs. 1 IfSG 6 3.2. Exkurs: Sperrwirkung im Fall von infektionsschutzrechtlichen Standardmaßnahmen 8 3.3. Zur Diskussion über die Sperrwirkung der Regelbeispiele des § 28a Abs. 1 IfSG 9 3.4. Landesweite epidemische Lage nach § 28a Abs. 7 IfSG 14 4. Schlussbemerkung 14 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 4 1. Einleitung Am 11. Juni 2021 hat der Bundestag zum vierten Mal die Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite beschlossen und damit das Fortbestehen der Lage bis zum 30. September 2021 noch einmal bestätigt. Sie gilt als aufgehoben, sofern der Deutsche Bundestag nicht spätestens drei Monate nach der Feststellung das Fortbestehen erneut beschließt (vgl. § 5 Abs. 1 Infektionsschutzgesetz 1 (IfSG)). Die Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite hätte zum einen zur Folge, dass die auf Grundlage des § 5 Abs. 2 IfSG oder des § 5a Abs. 2 IfSG erlassenen Rechtsverordnungen oder Anordnungen grundsätzlich außer Kraft treten würden (vgl. § 5 Abs. 4 IfSG). Gleiches würde auch für Rechtsverordnungen nach § 36 Abs. 8 oder des Abs. 10 IfSG gelten (vgl. § 36 Abs. 12 IfSG). Zum anderen könnten Corona-Maßnahmen nicht mehr auf § 28a IfSG gestützt werden. Demgegenüber bliebe die Regelung des § 28 IfSG anwendbar. Um dann insbesondere im Fall von international auftretenden neuen Virusvarianten auch für die Zeit nach Ende der bis zum 30. September 2021 befristeten Lage bundeseinheitliche Maßnahmen ergreifen zu können, hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass die Geltung von Verordnungen zur Einreise aus Risikogebieten und zur Beförderung auf bis zu ein Jahr nach Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verlängert wird.2 Die FDP-Bundestagsfraktion fordert aktuell, wie auch teilweise in der juristischen Literatur3 vorgeschlagen , eine Neufassung von § 28a IfSG. Dieser solle nicht schematisch an das Vorliegen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite anknüpfen. Niedrigschwellige Maßnahmen wie 1 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20. Juli 2000, BGBl. I S. 1045, zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 28. Mai 2021, BGBl. I S. 1174. 2 Siehe den Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz vom 23. Juni 2021 zum Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts (BT-Drs. 19/28173), BT-Drs. 19/31118, sowie die entsprechende Beschlussempfehlung vom 22. Juni 2021, BT-Drs. 19/30938; siehe dazu BT-Plenarprotokoll 19/236 der 236. Sitzung vom 24. Juni 2021, S. 30715A-30715B; dazu Suliak, Corona-Reisebeschränkungen auch ohne epidemische Lage, Legal Tribune Online, 25. Juni 2021, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/hintergruende /h/bundestag-wiederaufnahme-stpo-freispruch-corona-epidemische-lage-verordnungen-ifsg-klimaschutzgesetz -vertragslaufzeiten-stalking-kindesmissbrauch/; Dieser und alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 23. Juli 2021. Breyton, Sonderbefugnisse für Spahn – auch ohne „epidemische Lage“, Welt am Sonntag, 20. Juni 2021, S. 1. 3 Vgl. insbesondere Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 15; ebenso Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drs. 19/26545), Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 17(14)288(3), S. 2 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 5 Hygienekonzepte, die Maskenpflicht oder Maßnahmen bei einem lokalen Ausbruchsgeschehen, die nicht tief in Grundrechte eingreifen, sollten bereits unterhalb der Schwelle einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite auf der Grundlage des § 28a IfSG angeordnet werden können .4 Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern nach Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite Corona-Maßnahmen, mangels Geltung der Regelung des § 28a IfSG, auf die allgemeine Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG gestützt werden können. 2. Zur Einführung des § 28a Abs. 1 IfSG Zu Beginn der Corona-Pandemie wurden zahlreiche Corona-Maßnahmen in den nach § 32 IfSG erlassenen Landesverordnungen auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG gestützt5: Die zuständige Behörde trifft hiernach „die notwendigen Schutzmaßnahmen […] soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. Die Generalklausel diente zunächst als Rechtsgrundlage für teils leichtere Grundrechtseingriffe, wie die Maskenpflicht, als auch für schwerwiegendere Grundrechtseingriffe, wie Betriebsschließungen, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen. Im Laufe der Corona-Pandemie wurde dieses Vorgehen, insbesondere im Hinblick auf den Vorbehalt des Gesetzes und das Bestimmtheitsgebot, verfassungsrechtlich stark kritisiert.6 Insbesondere um den verfassungsmäßigen Anforderungen des Parlamentsvorbehalts zu genügen, der beim Erlass von fortgesetzt erforderlichen eingriffsintensiven Maßnahmen gilt, war eine gesetzliche Präzisierung im Hinblick auf Dauer, Reichweite und Intensität dieser Maßnahmen angezeigt.7 Mit 4 Frankfurter Allgemeine Zeitung, FDP-Fraktion fordert geordneten Ausstieg aus Corona-Ausnahmezustand, 11. Juli 2021, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/fdp-fraktion-fordert-geordnetes-endeder -corona-sonderlage-17432028.html. 5 Siehe beispielsweise die Niedersächsische Corona-Verordnung vom 30. Oktober 2020: „Aufgrund des § 32 Satz 1 in Verbindung mit den §§ 28, 29 und 30 Abs. 1 Satz 2 des Infektionsschutzgesetzes […] wird verordnet […]“; ebenso die Nordrhein-Westfälische Coronaschutzverordnung vom 30. Oktober 2020: „Auf Grund der §§ 32, 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 […] verordnet das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales […]“; dazu Dreier, Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in der Corona-Pandemie, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2021, S. 229, hier S. 231. 6 Ausführlich zu der Kritik vor Einführung des § 28a IfSG siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages , Grundsatzfragen zu den §§ 28 ff. Infektionsschutzgesetz, Sachstand vom 26. Oktober 2020, WD 3 – 3000 – 243/20; siehe auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts, Ausarbeitung vom 4. November 2020, WD 3 – 3000 – 256/20; ebenfalls ausführlich siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Bestimmtheit und Vorbehalt des Gesetzes in Bezug auf die §§ 28, 28a und 32 Infektionsschutzgesetz, Sachstand vom 19. Mai 2021, WD 3 – 3000 – 060/21; siehe auch Buschmann, Die rechtsstaatlichen Schwächen des neuen § 28a Infektionsschutzgesetz als zentrale Eingriffsnorm zur Bekämpfung von Covid-19, in: Recht und Politik, Beiheft 7 (2021), S. 120-128. 7 Vgl. Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, S. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 6 Einführung des § 28a Abs. 1 IfSG durch das Dritte Bevölkerungsschutzgesetz8 wurden die Regelbeispiele in § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 und S. 2 IfSG speziell für die Corona-Pandemie klarstellend erweitert ,9 sowie, der Systematik des § 5 IfSG folgend, an die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch den Bundestag gebunden.10 Somit ist, ebenso wie für die Befugnisse des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) nach den §§ 5 Abs. 2 und 5a Abs. 2 IfSG sowie der Bundesregierung nach § 36 Abs. 8 und 10 IfSG,11 der Feststellungsbeschluss des Bundestages gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG Voraussetzung für die Anwendung des § 28a Abs. 1 IfSG.12 Eine solche zeitliche Einschränkung der in § 28a Abs. 1 IfSG aufgelisteten Maßnahmen bestand zuvor nicht, da die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG allgemeine Gültigkeit hat.13 3. Zur Frage der Sperrwirkung des § 28a Abs. 1 IfSG Ob und inwiefern auch nach Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite noch zu ergreifende Corona-Maßnahmen wieder auf die allgemeine Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG gestützt werden können, wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich gesehen. Dies betrifft die Frage nach dem Verhältnis des § 28a Abs. 1 IfSG zur Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG und dabei insbesondere, ob § 28a Abs. 1 IfSG gegenüber der Generalklausel eine sogenannte Sperrwirkung entfaltet. 3.1. Rechtsnatur des § 28a Abs. 1 IfSG Grundsätzlich orientiert sich die Struktur der infektionsschutzrechtlichen Bekämpfungsvorschriften der §§ 28 bis 32 IfSG an der aus dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht bekannten Sys- 8 Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020, BGBl. I, S. 2397. 9 Bei den von § 28a Abs. 1 IfSG umfassten Maßnahmen handelt es sich im Kern um eine Liste der vor dem Inkrafttreten des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes auf der Grundlage der Generalklausel in den Landesverordnungen erlassenen Maßnahmen, vgl. Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 106. 10 Vgl. Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, S. 31. 11 Ausführlich zu den Befugnissen des BMG und der Bundesregierung siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Staatsorganisation und § 5 Infektionsschutzgesetz, Ausarbeitung vom 2. April 2020, WD 3 – 3000 – 080/20; Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelungen des Infektionsschutzgesetzes , Neue Juristische Wochenschrift 2020, S. 1097, hier S. 1102 f. 12 Vgl. Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drs. 19/26545), Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 17(14)288(3). 13 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Bestimmtheit und Vorbehalt des Gesetzes in Bezug auf die §§ 28, 28a und 32 Infektionsschutzgesetz, Sachstand vom 19. Mai 2021, WD 3 – 3000 – 060/21, S. 5. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 7 tematik – einer weit gefassten Generalklausel (§ 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG) gefolgt von sogenannten Standardmaßnahmen (§§ 29 bis 31 IfSG) und einer Verordnungsgeneralklausel (§ 32 IfSG).14 Daneben enthalten § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 und S. 2 IfSG sogenannte Regelbeispiele, was gefahrenabwehrrechtlich eher untypisch ist.15 In § 28a Abs. 1 IfSG wurden diese Regelbeispiele klarstellend erweitert. Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung und dem eindeutigen Wortlaut in § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG („insbesondere “).16 Bei den in § 28a Abs. 1 IfSG genannten Maßnahmen handelt es sich daher gerade nicht um Standardmaßnahmen, sondern um Regelbeispiele,17 was vielfach kritisiert wurde.18 Gefordert wurde von den Kritikern die Schaffung eines grundsätzlich abschließenden Maßnahmenkatalogs in Form von Standardmaßnahmen, um die Befugnisse der Exekutive im Rahmen der Pandemiebekämpfung , insbesondere mit Blick auf den Parlamentsvorbehalt, hinreichend zu begrenzen .19 Standardmaßnahmen würden – im Gegensatz zur Aufzählung von Regelbeispielen – an 14 Dreier, Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in der Corona-Pandemie, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2021, S. 229, hier S. 231; Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 73 f. 15 Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 75a. 16 Vgl. Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 3. November 2020, BT-Drs. 19/23944, S. 31. 17 Dass es sich um Regelbeispiele handelt, ist in der juristischen Literatur, soweit ersichtlich, unstreitig, statt aller siehe Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, 75; vgl. dazu auch Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages , Bestimmtheit und Vorbehalt des Gesetzes in Bezug auf die §§ 28, 28a und 32 Infektionsschutzgesetz, Sachstand vom 19. Mai 2021, WD 3 – 3000 – 060/21, S. 5; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts, Ausarbeitung vom 4. November 2020, WD 3 – 3000 – 256/20, S. 4. 18 Vgl. dazu Boehme-Neßler, Das Parlament in der Pandemie, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2021, S. 243, hier S. 248; Gölzer/Fischer-Uebler/Schaub, Die ungenutzte Macht der Parlamente in der Covid-19-Pandemie, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2021, S. 928; Eibenstein, Die (vertane) Chance des § 28a IfSG, in: COVID-19 und Recht (COVuR) 2020, S. 856, hier S. 859; anders Greve, Infektionsschutzrecht in der Pandemielage – Der neue § 28 a IfSG, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 1786; auch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages hatten sich in einem Gutachten vom 19. Oktober 2020 für die Schaffung konkreter Ermächtigungsgrundlagen in Form von Standardmaßnahmen ausgesprochen, vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Empfehlenswerte Maßnahmen zur Stärkung des Bundestages gegenüber der Exekutive bei der Bewältigung der Corona-Pandemie, WD 3, 20. Oktober 2020, abrufbar unter https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw43-parlamentsbeteiligung-corona-800010. 19 Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Bestimmtheit und Vorbehalt des Gesetzes in Bezug auf die §§ 28, 28a und 32 Infektionsschutzgesetz, Sachstand vom 19. Mai 2021, WD 3 – 3000 – 060/21, S. 5 mwN. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 8 spezifische Tatbestandsvoraussetzungen geknüpfte, differenzierte Rechtsfolgen enthalten und somit selbstständige Ermächtigungstatbestände darstellen.20 Für Regelbeispiele habe man sich offenbar entschieden, weil sich noch nicht klar habe absehen lassen, welche Bekämpfungsmaßnahmen unter welchen Bedingungen erfolgreich sein würden. Man dürfe diesen Unterschied insofern nicht überbetonen.21 3.2. Exkurs: Sperrwirkung im Fall von infektionsschutzrechtlichen Standardmaßnahmen Standardmaßnahmen entfalten nach überwiegender Auffassung in der Literatur gegenüber der entsprechenden Generalklausel eine gewisse Sperrwirkung.22 Falle eine Maßnahme begrifflich unter eine Standardmaßnahme und liegen die materiellen Voraussetzungen nicht vor, so sei die Maßnahme unzulässig und könne nicht mehr auf die entsprechende Generalermächtigung gestützt werden.23 Für Maßnahmen, wie die Beobachtung nach § 29 IfSG, die Absonderung nach § 30 IfSG und das berufliche Tätigkeitsverbot nach § 31 IfSG, bei welchen es sich nach wohl überwiegender Ansicht um Standardmaßnahmen handelt,24 könne demzufolge nicht auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG zurückgegriffen werden.25 Ein Rückgriff auf die Generalklausel käme nur in Betracht, wenn sich die zu treffenden Schutzmaßnahmen wesensmäßig von den in den §§ 29 bis 31 IfSG tatbestandlich gesondert ausdifferenzierten Standardmaßnahmen unterscheiden würden.26 20 Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 103; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Bestimmtheit und Vorbehalt des Gesetzes in Bezug auf die §§ 28, 28a und 32 Infektionsschutzgesetz, Sachstand vom 19. Mai 2021, WD 3 – 3000 – 060/21, S. 4 f.; Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts, Ausarbeitung vom 4. November 2020, WD 3 – 3000 – 256/20, S. 4 21 So Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 75a. 22 Ausführlich dazu Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 103; siehe auch Greve, Infektionsschutzrecht in der Pandemielage – Der neue § 28 a IfSG, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 1786. 23 Möllers, Wörterbuch der Polizei, Standardmaßnahmen. 24 Vgl. Volkmann, Heraus aus dem Verordnungsregime, in: Neue Juristische Wochenschrift 2020, S. 3153, hier S. 3154; Dreier, Rechtsstaat, Föderalismus und Demokratie in der Corona-Pandemie, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV) 2021, S. 229, hier S. 231; Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28 Rn. 52; anders wohl Rixen, Gesundheitsschutz in der Coronavirus-Krise – Die (Neu-)Regelungen des Infektionsschutzgesetzes, in: Neue Juristische Wochenschrift 2020, S. 1097. 25 Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 103 am Beispiel des § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG. 26 Vgl. Johann/Gabriel, Beck'scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 6. Ed. 1.7.2021, § 28 Rn. 13; Huster /Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 75a, 103. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 9 Schwieriger zu beurteilen sei die Frage, ob Standardmaßnahmen eine über ihren spezifischen Anwendungsbereich hinausgehende Sperrwirkung entfalten. Vertreten wird insofern, dass die Sperrwirkung sich nicht nur auf Maßnahmen beziehe, die in den Anwendungsbereich einer konkreten Standardmaßnahme fallen, sondern auch auf ähnlich einschneidende Maßnahmen, sofern sie sich als wiederkehrend genutzte Instrumente und somit als typische Maßnahmen erwiesen.27 3.3. Zur Diskussion über die Sperrwirkung der Regelbeispiele des § 28a Abs. 1 IfSG Die Frage, ob und inwiefern auch die Regelbeispiele des § 28a Abs. 1 IfSG gegenüber § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG eine Sperrwirkung entfalten, wird uneinheitlich beantwortet.28 Sofern man von einer Sperrwirkung ausgeht, dürften zumindest Maßnahmen, die in den konkreten Anwendungsbereich eines der in § 28a Abs. 1 IfSG genannten Regelbeispiele fallen, wie etwa Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten sowie im öffentlichen Raum, nach Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht mehr unter die Generalklausel des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG subsumiert werden. Eine weitergehende Sperrwirkung würde sich auch auf solche Maßnahmen auswirken, die zwar in § 28a Abs. 1 IfSG nicht aufgelistet, ihrer Eingriffsschwere und -intensität nach jedoch mit den dort genannten vergleichbar sind, wie etwa ein Feuerwerksverbot im öffentlichen Raum,29 mit der Folge, dass ebenfalls nicht auf die Generalklausel zurückgegriffen werden könnte.30 Die überwiegende Literatur und Rechtsprechung lehnt jedenfalls für die in den Anwendungsbereich des § 28a Abs. 1 IfSG fallenden Maßnahmen einen Rückgriff auf 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG ab. 27 Ausführlich dazu Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 104; für eine weitergehende Sperrwirkung wohl Greve, Infektionsschutzrecht in der Pandemielage – Der neue § 28 a IfSG, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 1786. 28 Dazu bereits Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Aktuelle Änderungen des Infektionsschutzrechts , Ausarbeitung vom 4. November 2020, WD 3 – 3000 – 256/20, S. 5. 29 Vgl. Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Dezember 2020, Az. 1 S 4109/20; Sächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG), Beschluss vom 30. Dezember 2020, Az. 3 B 450/20, Rn. 6; OVG Bremen , Beschluss vom 30. Dezember 2020, Az .1 B 474/20, Rn. 20. 30 Zu dieser Differenzierung bei Standardmaßnahmen bereits oben; ausführlich Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 104. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 10 In der überwiegenden Rechtsprechung31 wird dies vor allem damit begründet, dass andernfalls die Regelbeispiele des § 28a Abs. 1 IfSG leer liefen.32 „Die normative Wirkung des § 28a IfSG kann nicht derart aufgespalten werden, dass seine Rechtsfolgen – nämlich die Ermächtigung zu besonders weitgehenden Grundrechtseingriffen – deklaratorisch wiederholten, was sich schon aus § 28 IfSG ergebe, wohingegen seine besonderen Tatbestandsvoraussetzungen für dieselben Maßnahmen auf der Grundlage des § 28 IfSG nicht gelten sollten. So wären alle Maßnahmen, die § 28a Abs. 1 IfSG ausdrücklich an die ‚Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag‘ bindet, nach dem Ende dieser besonderen Lage und ihrer Feststellung trotzdem weiter erlaubt, nur eben auf der Grundlage des weniger bestimmt gefassten § 28 Abs. 1 IfSG. In einer solchen Auslegung wäre die Regelung dieser tatbestandlichen Voraussetzung der Maßnahmen sinnentleert“.33 Die im Katalog der Regelbeispiele des § 28a Abs. 1 IfSG genannten Eingriffsbefugnisse seien für die von ihnen erfassten Lebenssachverhalte bei der Eindämmung der Corona-Pandemie als gegenüber der Generalklausel speziellere Befugnisse ausgestaltet und schlössen einen Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 IfSG in ihrem sachlichen Anwendungsbereich aus.34 Dies gelte umso mehr, je detaillierter ein Lebenssachverhalt durch ein Regelbeispiel ausgestaltet werde.35 Der Gesetzgeber habe § 28a in das IfSG eingefügt, um dem Gesetzesvorbehalt Rechnung zu tragen.36 Nur in dieser, den Rückgriff auf die Generalklausel ausschließenden Auslegung, sei die Verordnungsermächtigung des § 32 IfSG i. V. m. § 28a Abs. 1 IfSG mit höherrangigem Recht, insbesondere mit den Vorgaben des Art. 80 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (GG) und des Parlamentsvorbehalts vereinbar.37 „Die Durchlässigkeit des § 28a IfSG für Maßnahmen auf der Grundlage des § 28 IfSG kann nur gelten für solche Grundrechtseingriffe, die entweder hinter der Eingriffstiefe und -breite der im Katalog aufgeführten Maßnahmen zurückbleiben (Minus-Maßnahmen) oder an ungeschriebene, 31 Vgl. VGH München, Beschluss vom 19. Januar 2021, Az. 20 NE 21.76; Thüringer OVG, Beschluss vom 1. Februar 2021, Az. 3 N 852/20; Landesverfassungsgericht (LVerfG) Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. März 2021, Az. LVG 4/21; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 12. März 2021, Az. 5 Bs 33/21, 2 E 195/21; OVG Berlin- Brandenburg, Beschluss vom 5. Februar 2021, Az. OVG 11 S 10/21. Konkret entschieden wurde die Sperrwirkung des § 28a IfSG gegenüber der Generalklausel des § 28 IfSG soweit ersichtlich bislang nur für Nr. 9 des § 28a Abs. 1 IfSG (Verbot der Alkoholabgabe oder des Alkoholkonsums). 32 Vgl. VGH München, Beschluss vom 19. Januar 2021, Az. 20 NE 21.76. 33 LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. März 2021, Az. LVG 4/21. 34 Übereinstimmend siehe Fn. 31. 35 Vgl. VGH München, Beschluss vom 19. Januar 2021, Az. 20 NE 21.76. 36 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 5. Februar 2021, Az. OVG 11 S 10/21. 37 Hamburgisches OVG, Beschluss vom 12. März 2021, Az. 5 Bs 33/21, 2 E 195/21. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 11 gleichwertig qualifizierte Tatbestände gebunden sind.“38 Eine über die in § 28a Abs. 1 IfSG genannten Maßnahmen hinausgehende Sperrwirkung scheint die überwiegende Rechtsprechung abzulehnen.39 Ähnlich wie die Rechtsprechung spricht sich auch die herrschende Meinung in der Literatur für eine grundsätzliche Sperrwirkung des § 28a Abs. 1 IfSG aus40. Ob und inwiefern ein Rückgriff auf § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG möglich bleiben soll, wenn die zuständige Behörde eine über die Regelbeispiele hinausgehende Maßnahme zu ergreifen beabsichtige, ist jedoch bislang offenbar nicht abschließend geklärt.41 Klafki kritisierte bereits in ihrer Stellungnahme als Einzelsachverständige bei der Öffentlichen Anhörung zum Entwurf des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes, dass das Verhältnis zwischen § 28a E-IfSG und § 28 IfSG im derzeitigen Entwurf nicht klar geregelt sei. Es bedürfe einer sorgsameren Auseinandersetzung mit der Frage, welche Maßnahmen nur als Spezialbefugnisse im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite zulässig seien und welche Maßnahmen – nach den derzeitigen Erfahrungen – allgemein in den Abschnitt zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten aufgenommen werden sollten.42 Kießling, ebenfalls Einzelsachverständige bei der Anhörung, argumentierte dementgegen wie folgt: „Hebt der Bundestag die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite gem. § 5 Abs. 1 auf […], die Voraussetzung für die Anwendung des § 28a ist, können die in § 28a Abs. 1 aufgeführten Schutzmaßnahmen nicht auf § 28 gestützt werden […]. Eine solche Heranziehung der einfachen Generalklausel würde das System der §§ 28, 28a unterlaufen und die Vorgaben des Parlamentsvorbehalts bzw. der Wesentlichkeitstheorie ad absurdum führen. Eine Her- 38 LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. März 2021, Az. LVG 4/21. 39 Beispielsweise für die Regelung eines Feuerwerksverbots im öffentlichen Raum vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Dezember 2020, Az. 1 S 4109/20; Sächsisches OVG, Beschluss vom 30. Dezember 2020, Az. 3 B 450/20, Rn. 6; OVG Bremen, Beschluss vom 30. Dezember 2020, Az. 1 B 474/20, Rn. 20. 40 Vgl. Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 103; Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28 Rn. 12, 46, 55, 62 bis 66, § 28a Rn. 94; Schmidt/Lindner, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Auflage 2021, § 18 Öffentliches Recht, Rn. 53; Sangs, Das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite und Gesetzgebung während der Pandemie, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 1780; Johann/Gabriel, Beck'scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 6. Ed. 1.7.2021, § 28a Rn. 3a. 41 Johann/Gabriel, Beck'scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 6. Ed. 1. Juli 2021, § 28a Rn. 3a; vgl. auch Eibenstein, Die (vertane) Chance des § 28a IfSG, in: COVID-19 und Recht (COVuR) 2020, S. 856. 42 Klafki, Stellungnahme als Einzelsachverständige zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BT-Drs. 19/23944) zur öffentlichen Anhörung am 12. November 2020, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)246(9). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 12 anziehung der Generalklausel sollte durch die Schaffung des § 28a gerade ausgeschlossen werden .“43 Durch die Einschränkung des § 28a Abs. 1 IfSG „für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ würde klargestellt, dass die aufgezählten Schutzmaßnahmen nur im Rahmen dieser Lage ergriffen werden könnten. Dadurch würde § 28a IfSG, ebenso wie die §§ 30 und 31 IfSG, in ihrem Anwendungsbereich zu einer lex specialis gegenüber § 28 Abs. 1 IfSG.44 Der Rückgriff auf die Generalklausel stehe daher grundsätzlich nur für solche Maßnahmen offen, die sich hinreichend von den tatbestandlich gesondert ausdifferenzierten Maßnahmen unterscheiden würden.45 Der Anwendungsbereich des § 28 Abs. 1 IfSG könne im Rahmen der Corona-Pandemie folglich nur sehr klein sein.46 Dort, wo grundsätzlich ein Regelbeispiel des § 28a Abs. 1 IfSG einschlägig sein könnte, eine Schutzmaßnahme aber nicht vollständig unter den dort verwendeten Begriff zu subsumieren sei, müsse geprüft werden, ob die Formulierung ähnliche Schutzmaßnahmen ausschließen solle, was dann wiederum dazu führe, dass eine Heranziehung des § 28 Abs. 1 IfSG nicht möglich sei.47 Maßgeblich sei zudem die Intensität des Grundrechtseingriffs: Je grundrechtsintensiver eine Maßnahme, desto restriktiver solle man den Katalog des § 28a Abs. 1 IfSG verstehen und desto eher sei die Sperrwirkung zu beachten.48 Nicht auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 IfSG gestützt werden könnten nach Ansicht von Kießling zudem Maßnahmen, die intensivere Grundrechtseingriffe als die in § 28a Abs. 1 IfSG genannten Maßnahmen darstellten. „Für solche Maßnahmen gebieten es Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz, dass der Gesetzgeber sie mit ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen selbst regelt.“49 Übrig blieben deswegen allein Maßnahmen, die nur leichte bis mittelschwere Grundrechtseingriffe darstellen.50 Etwas anderes könne nur gelten, wenn – wie zu Beginn der 43 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28 Rn. 66; in diese Richtung ebenfalls Schmidt/Lindner, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Auflage 2021, § 18 Öffentliches Recht, Rn. 53. 44 Sangs, Das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite und Gesetzgebung während der Pandemie, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 1780. 45 Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 103 setzt insofern die Regelbeispiele des § 28a Abs. 1 IfSG mit den infektionsschutzrechtlichen Standardmaßnahmen gleich. 46 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28 Rn. 55. 47 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 94, die Frage stelle sich etwa für die 15 km-Radius- Regelung. 48 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 94, im Ergebnis für eine Sperrwirkung des § 28a hinsichtlich der 15 km-Radius-Regelung. 49 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28 Rn. 62: „Eine Abriegelung von Städten mit hohen Infektionszahlen , wie es in Sachsen im Dezember 2020 kurz überlegt worden sei, könnte deswegen nicht auf § 28 Abs. 1 gestützt werden“. 50 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28 Rn. 63 ff. mit Beispielen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 13 Corona-Pandemie – gänzlich unerwartete Umstände einträten, die es erforderlich machten, ähnlich schwerwiegende Maßnahmen zur Abwendung ganz erheblicher Gefahren zu ergreifen, bevor der Gesetzgeber in der Lage sei, sie erneut zu typisieren.51 Vor dem Hintergrund der bereits erläuterten Unterscheidung zwischen Regelbeispielen und Standardmaßnahmen wird aus rechtssystematischen Gründen vertreten, der Rückgriff auf § 28 Abs. 1 sei grundsätzlich möglich, weil in § 28a Abs. 1 IfSG mit den nicht abschließenden Regelbeispielen lediglich konkretisiert werde, welche Maßnahmen unter anderem als „notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2“ angesehen werden können.52 Die in § 28a IfSG genannten Regelbeispiele seien an die Ermächtigungsgrundlage in § 28 Abs. 1 IfSG gebunden und stünden hierzu in einem wechselbezüglichen Verhältnis. Dies unterscheide §§ 28, 28a IfSG von der aus dem allgemeinen Polizei- und Sicherheitsrecht bekannten Regelungssystematik der (grundsätzlich spezielleren und deshalb abschließenden) Standardmaßnahmen.53 Vertreten wird auch, dass zudem Zweifel angebracht seien, ob eine Sperrwirkung der Maßnahmen des § 28a Abs. 1 IfSG nach Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite sachgemäß sei. Auch wenn es kein dynamisches Ausbruchsgeschehen mehr gebe und der Deutsche Bundestag die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite deshalb aufheben würde, könne es immer wieder zum Aufflackern von Infektionsherden kommen, die dann aber nicht mehr mit den in § 28a Abs. 1 IfSG genannten Schutzmaßnahmen bekämpft werden könnten.54 Zudem erscheine es abwegig, dass selbst wenig intensive Grundrechtseingriffe wie die Maskenpflicht nach § 28a Abs. 1 Nr. 2 IfSG nicht auf Grundlage der Generalklausel angeordnet werden könnten, wenn keine epidemische Lage von nationaler Tragweite bestehe.55 51 Huster/Kingreen/Poscher, Handbuch Infektionsschutzrecht, 1. Auflage 2021, Kapitel 4: Das Infektionsschutzgesetz als Gefahrenabwehrrecht, Rn. 75. 52 Johann/Gabriel, Beck'scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 6. Ed. 1. Juli 2021, § 28a Rn. 3a; vgl. dazu, wenn im Ergebnis auch eher kritisch, Klafki, Stellungnahme als Einzelsachverständige zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BT-Drs. 19/23944) zur öffentlichen Anhörung am 12. November 2020, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit , Ausschussdrucksache 19(14)246(9). 53 Vgl. Johann/Gabriel, Beck'scher Online-Kommentar Infektionsschutzrecht, 6. Ed. 1. Juli 2021, § 28a Rn. 3a, nunmehr eine Sperrwirkung bejahend, vgl. § 28a Rn. 7 (anders noch in 3. Ed. 1. Januar 2021, § 28a Rn. 7). 54 Vgl. Sangs, Das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite und Gesetzgebung während der Pandemie, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2020, S. 1780; ebenfalls in diese Richtung Leisner-Egensperger, Schriftliche Stellungnahme, Öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen BT-Drs. 19/26545 für die Anhörung am 22. Februar 2021, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 19(14)288(9); vgl. auch Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drs. 19/26545), Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 17(14)288(3). 55 Vgl. Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 14 3.4. Landesweite epidemische Lage nach § 28a Abs. 7 IfSG Für den Fall eines nach dem Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite in einem Bundesland fortbestehenden Infektionsgeschehens trifft § 28a Abs. 7 IfSG die klare Regelung, dass § 28a Abs. 1 bis 6 IfSG weiterhin angewendet werden können. Den Ländern soll damit bei Ausbruch oder Fortbestehen eines regionalen Infektionsgeschehens ermöglicht werden, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um das Infektionsgeschehen einzudämmen und damit auch ein Übergreifen auf andere Länder zu verhindern.56 Dies dürfte ein weiteres Argument für die grundsätzliche Sperrwirkung des § 28a Abs. 1 IfSG gegenüber § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG sein: Wäre bei den in § 28a IfSG genannten Maßnahmen ein Rückgriff auf die Generalklausel ohne weiteres möglich, hätte es der Regelung des § 28a Abs. 7 IfSG nicht bedurft. 4. Schlussbemerkung Sowohl die herrschende Rechtsprechung als auch die überwiegende Literatur bejahen eine Sperrwirkung des § 28a Abs. 1 IfSG zumindest für die dort genannten Maßnahmen. Demnach dürften nach Beendigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite die in § 28a Abs. 1 IfSG aufgelisteten Maßnahmen nicht unter Rückgriff auf die Generalklausel angewendet werden. Diese Auslegung des Gesetzes entspricht zudem der Zielsetzung des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes, wonach mit der Einführung des § 28a IfSG eine verfassungsrechtlich hinreichend bestimmte und insbesondere dem Parlamentsvorbehalt genügende Rechtsgrundlage geschaffen werden sollte. Daneben sprechen gewichtige Argumente dafür, auch vergleichbare und ähnlich intensive Maßnahmen , wie die in § 28a Abs. 1 IfSG genannten als von der Sperrwirkung erfasst anzusehen, sofern diese nicht aufgrund eines unvorhergesehenen Pandemiegeschehens erforderlich würden.57 Mit Blick auf die mögliche weitere Entwicklung des Infektionsgeschehens könnte diese eher rechtsdogmatische Beurteilung der Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 IfSG in der praktischen Umsetzung aber auch zu unsachgemäßen Ergebnissen führen. So könnte es sich etwa als notwendig erweisen, gewisse Reise- oder Kontaktbeschränkungen auch noch aufrecht zu erhalten , wenn die Tatbestandsvoraussetzungen einer epidemischen Lage nicht mehr vorliegen.58 Eine Möglichkeit, dem vorzubeugen bzw. entgegenzutreten, bestünde zwar darin, dass der Deutsche Bundestag die epidemische Lage von nationaler Tragweite gem. § 5 Abs. 1 S. 1 IfSG so lange aufrechterhielte , bis auch Maßnahmen, wie etwa eine Maskenpflicht, nicht mehr für notwendig gehalten werden.59 Dies würde jedoch die Bedeutung des § 5 Abs. 1 IfSG aushebeln und dann viele 56 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BT-Drs. 19/23944) vom 16. November 2021, BT-Drs. 19/24334, S. 75. 57 Anders jedoch die wohl überwiegende Rechtsprechung, s. o., Gliederungspunkt 3.3. 58 Vgl. Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drs. 19/26545), Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 17(14)288(3), S. 2 f. 59 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 15. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 068/21 Seite 15 Anwendungsbereiche eröffnen, die der dann tatsächlich bestehenden Lage nicht gerecht würden .60 Eine angemessene Lösung dieses Problems könne, so Kießling, nur darin liegen, die bestehenden Lücken durch eine andere Struktur des § 28a IfSG zu schließen und nicht alle Maßnahmen von der Feststellung der epidemischen Lage abhängig zu machen.61 Von Kingreen wird vorgeschlagen , Normen wie § 28a IfSG, die so unbestimmt seien, dass es derzeit noch eines kompensatorischen Feststellungsbeschlusses bedürfe, hinreichend zu konkretisieren. Würde man demnach § 28a IfSG konkreter fassen, indem man etwa den Erlass der Eindämmungsverordnungen durch normierte Stufenpläne an feste Zielmarken knüpfe und damit klare Perspektiven für die betroffenen Grundrechtsträger schaffe, müsse diese Vorschrift gar nicht mehr den Feststellungsbeschluss des Bundestages voraussetzen.62 *** 60 Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 15. 61 Möglich wäre es auch, nur die landesweite Ergreifung von Maßnahmen durch Rechtsverordnungen gem. § 32 IfSG mit der Feststellung der epidemischen Lage zu verknüpfen, vgl. Kießling, Infektionsschutzgesetz, 2. Auflage 2021, § 28a Rn. 15. 62 Vgl. Kingreen, Stellungnahme als geladener Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drs. 19/26545), Deutscher Bundestag, Ausschuss für Gesundheit, Ausschussdrucksache 17(14)288(3), S. 2 f.