WD 9 - 3000 – 060/21 (10. Mai 2021) © 2021 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Die familienpolitische Staatstätigkeit ist als Teil der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung seit Mitte des 20. Jahrhunderts Gegenstand sozialwissenschaftlicher Betrachtungen. Während sich die Begründer dieser Disziplin vor allem für Regimetypen, sozialstaatliche Traditionen und Pfadabhängigkeiten interessierten,1 sind ab der Jahrtausendwende die Entwicklung und Transformation von Familienpolitiken in den Fokus der Sozialforschung gerückt.2 Wie Ferragina und Seeleib-Kaiser in einer quantitativen Studie aus dem Jahre 20153 zeigen, sind die Familienpolitiken aller OECD-Staaten in den drei Jahrzehnten von 1980 bis 2009 einem gemeinsamen Trend gefolgt: In allen Industriestaaten sind ein (teils deutlicher) Zuwachs der staatlichen Ausgaben für familienpolitische Leistungen, eine Ausweitung der Gruppe der Leistungsempfänger und eine Stärkung der sozialen Infrastruktur für Familien zu beobachten. Für Deutschland kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die familienbezogenen Leistungen von den 1980er bis in die späten 2000er Jahre nicht nur ausgebaut wurden, sondern dass sich ein grundlegender familienpolitischer Paradigmenwechsel vollzogen habe: Deutschland habe sich 1 Siehe hierzu u. a. Titmuss, R. (1975). Social Policy: An Introduction. Pantheon Books; Esping-Andersen, G. (1990) Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton University Press; Ferrera, M. (1996). The 'Southern Model ' of Welfare in Social Europe. Journal of European Social Policy. 2 Siehe hierzu u. a. Crouch, C. (2009). Privatised Keynesianism: An Unacknowledged Policy Regime. The British Journal of Politics and International Relations, 11(3), S. 382–399; Ferragina, E. und Seeleib-Kaiser, M. (2015). Determinants of a Silent (R)evolution: Understanding the Expansion of Family Policy in Rich OECD Countries. Social Politics: International Studies in Gender, State & Society, Volume 22, Issue 1, Spring 2015, S. 1–37; Chevalier , T. (2020). Growth Strategies and Youth Welfare Citizenship: Youth and Skill Policies, in: Hassel, A. und Palier, B. (Hrsg.). Growth and Welfare in Advanced Capitalist Economies: How Have Growth Regimes Evolved? Oxford University Press. 3 Ferragina, E. und Seeleib-Kaiser, M. (2015). Determinants of a Silent (R)evolution: Understanding the Expansion of Family Policy in Rich OECD Countries. Social Politics: International Studies in Gender, State & Society, Volume 22, Issue 1, Spring 2015, S. 1–37. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 von einer „christdemokratischen“ hin zu einer „sozialdemokratischen“ Familienpolitik entwickelt .4 Das bedeutet, dass Eltern in Deutschland im Vergleich zu den 1980er Jahren heute deutlich weniger auf die finanzielle Unterstützung durch die Familie und auf Einkommen aus Erwerbsarbeit angewiesen sind, um ihre Kinder zu finanzieren. An die Stelle von intergenerationellen Transfers und dem (männlichen) Alleinverdiener-Modell sind universelle familienpolitische Leistungen getreten , die es jungen Eltern erlauben, Beruf und Familie besser zu vereinbaren und finanziell unabhängig zu sein. Der Ausbau der Kinderbetreuung und die Ausweitung der Elternzeit haben entscheidend zu diesem Wandel beigetragen, wie Ferragina und Seeleib-Kaiser zeigen. Auftragsgemäß stellen wir im Folgenden die Entwicklung ausgewählter familienpolitischer Maßnahmen anhand von Kennzahlen zur (finanziellen) Unterstützung von Müttern und Familien in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1960 bis 2015 dar (Auswahl): 1. Kindergeld (für das erste, zweite und ab dem dritten Kind) 1960 bis 2008 (in D-Mark pro Monat, ab 2002: in Euro) Jahr 1. Kind 2. Kind ab 3. Kind 1960 0,0 0,0 30,0 1961 0,0 0,0 40,0 1962 0,0 0,0 40,0 1963 0,0 0,0 40,0 1964 0,0 25,0 40,0 1965 0,0 25,0 40,0 1966 0,0 25,0 40,0 1967 0,0 25,0 50,0 1968 0,0 25,0 50,0 1969 0,0 25,0 50,0 1970 0,0 25,0 50,0 1971 0,0 25,0 50,0 1972 0,0 25,0 60,0 1973 0,0 25,0 60,0 1974 0,0 25,0 120,0 1975 50,0 70,0 120,0 4 Die Begriffe „christdemokratisch“ und „sozialdemokratisch“ haben hier nicht dieselbe Bedeutung wie im parteipolitischen Kontext. Esping-Andersen nutzt diese Attribute, um in seinem Standardwerk zur Wohlfahrtsregime- Forschung „Three Worlds of Welfare Capitalism“ (1990) das Sozialmodell der „christdemokratischen“ kontinentaleuropäischen Staaten (v. a. Deutschland, Frankreich und Österreich) vom skandinavischen Wohlfahrtsstaat (Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland) zu unterscheiden. Die dritte Gruppe in Esping-Andersens Typologie bilden die „liberalen“ Wohlfahrtsstaaten (z. B. USA und Großbritannien). Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 1976 50,0 70,0 120,0 1977 50,0 70,0 120,0 1978 50,0 70,0 120,0 1979 50,0 70,0 120,0 1980 50,0 70,0 120,0 1981 50,0 70,0 120,0 1982 50,0 70,0 120,0 1983 50,0 100,0 220,0 1984 50,0 100,0 220,0 1985 50,0 100,0 220,0 1986 50,0 100,0 220,0 1987 50,0 100,0 220,0 1988 50,0 100,0 220,0 1989 50,0 100,0 220,0 1990 50,0 130,0 220,0 1991 50,0 130,0 220,0 1992 70,0 130,0 220,0 1993 70,0 130,0 220,0 1994 70,0 130,0 220,0 1995 70,0 130,0 220,0 1996 145,0 175,0 260,0 1997 220,0 220,0 300,0 1998 220,0 220,0 300,0 1999 250,0 250,0 300,0 2000 270,0 270,0 300,0 2001 270,0 270,0 300,0 ab 2002: Angaben in Euro 2002 154,0 154,0 154,0 2003 154,0 154,0 154,0 2004 154,0 154,0 154,0 2005 154,0 154,0 154,0 2006 154,0 154,0 154,0 2007 154,0 154,0 154,0 2008 154,0 154,0 154,0 Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 4 2. Maximale Bezugsdauer des Mutterschaftsgelds 1960 bis 2010 (in Wochen) Jahr Dauer 1960 12 1961 12 1962 12 1963 12 1964 12 1965 12 1966 12 1967 12 1968 12 1969 12 1970 14 1971 14 1972 14 1973 14 1974 14 1975 14 1976 14 1977 14 1978 14 1979 14 1980 14 1981 14 1982 14 1983 14 1984 14 1985 14 1986 14 1987 14 1988 14 1989 14 1990 14 1991 14 1992 14 1993 14 1994 14 1995 14 1996 14 Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 5 1997 14 1998 14 1999 14 2000 14 2001 14 2002 14 2003 14 2004 14 2005 14 2006 14 2007 14 2008 14 2010 14 3. Maximale Dauer der Elternzeit 1960 bis 2010 (in Wochen) Jahr Dauer 1960 0 1961 0 1962 0 1963 0 1964 0 1965 0 1966 0 1967 0 1968 0 1969 0 1970 0 1971 0 1972 0 1973 0 1974 0 1975 0 1976 0 1977 0 1978 0 1979 0 1980 0 1981 0 1982 0 Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 6 1983 0 1984 0 1985 0 1986 43 1987 43 1988 52 1989 65 1990 78 1991 78 1992 156 1993 156 1994 156 1995 156 1996 156 1997 156 1998 156 1999 156 2000 156 2001 156 2002 156 2003 156 2004 156 2005 156 2006 156 2007 156 2008 156 2010 156 4. Durchschnittlicher Elterngeldbezug über die maximale Elternzeit hinweg 1960 bis 2010 (in Prozent des weiblichen Erwerbslohns im produzierenden Gewerbe) Jahr Prozentualer Ersatz 1960 0,0 1961 0,0 1962 0,0 1963 0,0 1964 0,0 Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 7 1965 0,0 1966 0,0 1967 0,0 1968 0,0 1969 0,0 1970 0,0 1971 0,0 1972 0,0 1973 0,0 1974 0,0 1975 0,0 1976 0,0 1977 0,0 1978 0,0 1979 0,0 1980 0,0 1981 0,0 1982 0,0 1983 0,0 1984 0,0 1985 0,0 1986 25,0 1987 25,0 1988 25,0 1989 24,0 1990 23,0 1991 22,0 1992 21,0 1993 20,0 1994 20,0 1995 19,0 1996 12,0 1997 11,8 1998 11,5 1999 11,3 2000 11,1 2001 10,8 2002 10,6 2003 10,3 2004 10,1 2005 10,0 Kurzinformation Zur zeithistorischen Entwicklung familienpolitischer Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 8 2006 9,9 2007 22,3 2008 22,3 2010 22,3 5. Staatliche Ausgaben für familienbezogene Leistungen 2001 bis 2015 (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts) Jahr Prozent des BIP 2001 2,9 2002 3,1 2003 2,9 2004 2,6 2005 3 2006 3 2007 3 2008 3 2009 3 2010 3 2011 3 2012 3 2013 3 2014 3 2015 3,1 Quellen: 1.-4.: Gauthier, A.H. (2010). Comparative Family Policy Database, Version 3 [computer file]. Netherlands Interdisciplinary Demographic Institute and Max Planck Institute for Demographic Research (distributors). Retrieved from www.demogr.mpg.de. 5.: OECD, Family Database, 2021. ***