© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 047/21 Zur Kompetenzfrage von Bund und Ländern in der Rechtsetzung beim Infektionsschutz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 047/21 Seite 2 Zur Kompetenzfrage von Bund und Ländern in der Rechtsetzung beim Infektionsschutz Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 047/21 Abschluss der Arbeit: 19. April 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 047/21 Seite 3 1. Einleitung Im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie sieht sich Deutschland derzeit erneut einem Ansteigen der 7-Tage-Inzidenz und einer zunehmenden Belastung des Gesundheitssystems konfrontiert. Um dem entgegenzuwirken, plant der Gesetzgeber mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (IfSG-E)1 die Einführung einer in der Entwurfsbegründung so bezeichneten „Notbremse“ in § 28b IfSG-E, aufgrund derer in Landkreisen, in denen an drei aufeinanderfolgenden Tagen eine 7-Tages-Inzidenz von 100 überschritten wird, automatisch verschärfte Maßnahmen greifen sollen. Am 18. April 2021 war dies nach Angaben des Robert Koch-Instituts in 361 von 412 deutschen Landkreisen der Fall.2 Gefragt ist, ob die Länder nach dem vorliegenden Entwurf eines geänderten Infektionsschutzgesetzes bei Inzidenzen über 100 zusätzlich eigene Maßnahmen beschließen können. 2. Infektionsschutzrechtliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes Auf dem Gebiet des Infektionsschutzes steht die (konkurrierende) Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 Grundgesetz (GG) dem Bund zu.3 Nach Art. 72 Abs. 1 GG haben im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat. In dem Umfang, in dem der Bundesgesetzgeber tätig geworden ist, tritt eine Sperrwirkung für eine gesetzgeberische Tätigkeit der Länder ein.4 Landesrecht, das trotz Sperrwirkung erlassen wurde, ist nichtig.5 Dies gilt nicht nur, wenn das Landesrecht vom Bundesrecht abweicht, sondern auch dann, wenn es dem Bundesrecht entspricht.6 Allgemein gegen eine Gesetzgebungskompetenz der Länder im Bereich des Infektionsschutzes kann auch die Tatsache sprechen, dass das Infektionsschutzgesetz (IfSG) den Ländern verschiedene Verordnungsermächtigungen erteilt (etwa in § 32 IfSG), während Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung nicht benannt sind. Solche Vorbehalte sind im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung zwar nicht erforderlich, um die Kompetenz der Länder zu begründen. Ihr Fehlen kann aber einen Hinweis auf eine erschöpfende Regelung des Bundesgesetzgebers geben.7 In der 1 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 13. April 2021, BT-Drs. 19/28444. 2 COVID-19 Datenhub, RKI Corona Landkreise, abrufbar unter: https://npgeo-corona-npgeo-de.hub.arcgis.com/datasets /917fc37a709542548cc3be077a786c17_0?geometry=-30.805%2C46.211%2C52.823%2C55.839&selectedAttribute =cases7_per_100k, dieser und alle weiteren Online-Nachweise zuletzt abgerufen am 19. April 2021. 3 Vgl. hierzu ausführlich: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hg.), Gesetzgebungskompetenz für den Infektionsschutz, Ausarbeitung vom 9. April 2020, WD 3 – 3000 – 081/20. 4 Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 72 Rn. 78. 5 Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 38. 6 Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, 89. EL Oktober 2019, Art. 72 Rn. 7. 7 Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, 8. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 27; Oeter, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Auflage 2018, Art. 72 Rn. 61. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 047/21 Seite 4 juristischen Literatur wird zumindest zum Teil von einer generell abschließenden Wirkung des Infektionsschutzgesetzes ausgegangen.8 Die Länder haben somit keine Kompetenz, um eigene Infektionsschutzgesetze zu erlassen. Sie führen aufgrund von Art. 83 GG allerdings die Bundesgesetze aus; so sind etwa nach § 54 IfSG die zuständigen Behörden durch die Länder zu bestimmen . 3. Rechtsverordnungen der Länder und bundesrechtliche Ermächtigungsgrundlagen Das IfSG bildet die Ermächtigungsgrundlage für infektionsschutzrechtliche Landesverordnungen. Ermächtigungsgrundlagen finden sich etwa in §§ 28 und 28a IfSG. Die Verordnungen, die einmal auf Basis einer gültigen Ermächtigungsgrundlage erlassen wurden, bleiben nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts weiter bestehen, auch wenn die Ermächtigungsgrundlage sich nachträglich verändert oder erlischt.9 Die Verordnung bleibt daher bis zu ihrer förmlichen Aufhebung gültig. Allerdings tritt sie außer Kraft, wenn sie im Falle der Änderung ihrer Ermächtigungsgrundlage inhaltlich nicht mehr in Einklang mit der neuen Gesetzeslage steht.10 Grundsätzlich sieht Art. 31 GG vor, dass Bundesrecht Landesrecht bricht. Hierzu ist erforderlich, dass kompetenzgemäße, gültige Rechtsnormen miteinander kollidieren.11 Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu ausgeführt: „Die Kollisionsnorm hinweggedacht, müssen beide Normen auf einen Sachverhalt anwendbar sein und bei ihrer Anwendung zu verschiedenen Ergebnissen führen können.“12 Dies ist beim in Frage stehenden Sachverhalt allerdings nicht der Fall. Vielmehr sieht § 28b Abs. 4 IfSG-E explizit vor, dass weitergehende Schutzmaßnahmen aufgrund des Infektionsschutzgesetzes von den Regelungen in § 28b IfSG unberührt bleiben sollen. Die Entwurfsbegründung (S. 15) sieht hiervon ausdrücklich auch künftige Länderregelungen wie Verordnungen etwa aufgrund von §§ 28ff. bzw. 32 IfSG oder Allgemeinverfügungen sowie Einzelverwaltungsakte und sonstige behördliche Maßnahmen erfasst, solange diese strenger sind als die Regelungen des § 28b Abs. 1 IfSG-E. Die bundeseinheitlichen Maßnahmen dienen also der Sicherstellung eines Mindestschutzniveaus. Erleichterungen und Ausnahmen könnten hiernach nur durch Bundesgesetz oder Rechtsverordnung nach § 28b Abs. 6 IfSG-E geschaffen werden. *** 8 Grüner, Biologische Katastrophen, 2017, S. 172; von Steinau-Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten, 2013, S. 65. 9 So etwa BVerfGE 9, 3 (12): „Es ist allgemein anerkannt, dass eine im Zeitpunkt ihres Erlasses auf gesetzlicher Grundlage ergangene Rechtsverordnung nicht durch den Fortfall der Ermächtigungsvorschrift in ihrer Gültigkeit berührt wird“; Uhle, in: BeckOK Grundgesetz, 46. Edition, 15. Februar 2021, Art. 80 Rn. 8 m. w. N. 10 So auch BVerwG NJW 1990, 849. 11 Dreier, in: Dreier, Grundgesetz, 3. Auflage 2015, Art. 31 Rn. 36. 12 BVerfGE 36, 342 (363).