© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 046/20 Quarantäne-Maßnahmen während der Corona-Pandemie Zur Absonderung von Flüchtlingen gemäß § 30 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 2 Quarantäne-Maßnahmen während der Corona-Pandemie Zur Absonderung von Flüchtlingen gemäß § 30 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 046/20 Abschluss der Arbeit: 26. Mai 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Coronavirus-Krankheit (COVID-19) als übertragbare Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes 5 3. Absonderung (Quarantäne) gemäß § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG 5 4. Zwangsweise Absonderung gemäß § 30 Abs. 2 IfSG 7 4.1. Unterbringungsregelungen des § 30 Abs. 2 IfSG 7 4.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 7 4.3. Verfahren und Vollzug 8 4.4. Beispiele zur Umsetzung dieser Maßnahmen 9 4.4.1. Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige in Büren 9 4.4.2. Ausreisesammelstelle am Flughafen Schönefeld 11 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Im Zuge der Corona-Pandemie werden in Einrichtungen mit einer hohen Bewohnerzahl beim Auftreten von Neuinfektionen immer wieder Quarantäne-Auflagen erteilt. Personen, die gegen diese Quarantäne-Auflagen verstoßen und z. B. besondere Hygienevorgaben nicht beachten, werden dann „abgesondert“, um die Gefahr der Weiterverbreitung des Virus einzudämmen. Dies geschieht vor allem häufig in Flüchtlingsunterkünften, wenn sich das Virus aufgrund des Platzmangels und der dichten Belegung dort schnell verbreitet hat und deshalb ganze Unterkünfte unter Quarantäne gestellt werden. Aus mehreren Bundesländern wurde bereits berichtet, dass Asylsuchende, die in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, aufgrund von Verstößen gegen Quarantäne-Anordnungen in Abschiebungshafteinrichtungen und Ausreisesammelstellen gebracht wurden. In Nordrhein-Westfalen wurden am 11. April 2020 Asylsuchende in der Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige in Büren untergebracht, in der normalerweise nur die Abschiebungshaft vollzogen wird.1 In Brandenburg wurden Flüchtlinge in die Ausreisesammelstelle am Flughafen Schönefeld gebracht.2 Auch Hamburg betrachtet eine Unterbringung im Ausreisegewahrsam am Flughafen zumindest als eine Option.3 Die Absonderung (Quarantäne), die in § 30 Infektionsschutzgesetz4 (IfSG) geregelt ist, stellt die einschneidendste Maßnahme5 im Infektionsschutzgesetz dar und ist aufgrund der Schwere des Eingriffs in die durch Art. 2 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz6 (GG) geschützte Freiheit der Person die „ultima ratio“.7 Kommt der Betroffene der Quarantäne-Anordnung nicht nach, so kann diese gemäß § 30 Abs. 2 IfSG auch zwangsweise von der zuständigen Behörde durchgesetzt werden. 1 Zur Quarantäne in den Knast, in: taz vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://taz.de/Corona-und-Gefluechtete /!5681898/. 2 Flüchtlingsrat Brandenburg, Setzt Brandenburg auf Zwang statt Kommunikation?- Corona-Absonderungshaft im Ausreisegewahrsam, vom 8. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.fluechtlingsrat-brandenburg.de/pressenotizsetzt -brandenburg-auf-zwang-statt-kommunikation-corona-absonderungshaft-im-ausreisegewahrsam/?cn-reloaded =1 (Stand: 26. Mai 2020). 3 Quarantäneverweigerer könnten in Ausreisegewahrsam kommen, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. April 2020, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-hamburg-quarantaene-verweigerer-koennten -in-ausreisegewahrsam-kommen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200417-99-741990. 4 Infektionsschutzgesetz vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018) geändert worden ist. 5 v. Steinau-Steinrück, Die staatliche Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten- Rechtliche Rahmenbedingungen , grundgesetzliche Schutzpflichten und Eingriffsgrenzen, 2013, S. 216. 6 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 15. November 2019 (BGBl. I S. 1546) geändert worden ist. 7 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 26; Mers, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 227. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 5 Die Zuständigkeit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes richtet sich gemäß § 54 IfSG nach den landesrechtlichen Regelungen oder, wenn diese nicht vorhanden sind, nach Rechtsverordnungen , die die Landesregierungen erlassen.8 Mit den Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 IfSG sowie dessen Vollzug beschäftigt sich der vorliegende Sachstand. Er geht in diesem Zusammenhang auch auf Problemfragen ein, die von verschiedenen Flüchtlingsorganisationen aufgeworfen werden. 2. Coronavirus-Krankheit (COVID-19) als übertragbare Krankheit im Sinne des Infektionsschutzgesetzes § 28 Abs. 1 IfSG ermächtigt die zuständigen Behörden, notwendige Schutzmaßnahmen zu treffen, solange und soweit es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Um übertragbare Krankheiten handelt es sich gemäß § 2 Nr. 3 IfSG bei Krankheiten, die durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte, die unmittelbar oder mittelbar auf den Menschen übertragen werden, verursacht werden. Auch bei dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 handelt es sich um eine übertragbare Krankheit, für die das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) schon ab dem 1. Februar 2020 eine Meldepflicht eingeführt hat.9 Die zuständigen Behörden dürfen gemäß § 28 Abs. 1 IfSG insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten Maßnahmen ergreifen. 3. Absonderung (Quarantäne) gemäß § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG Gemäß § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG10 kann die zuständige Behörde die Absonderung von Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen und Ausscheidern anordnen. Definitionen der Begrifflichkeiten finden sich in § 2 IfSG: 8 Näher hierzu: Das Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste, WD 9 - 3000 - 009/20, S. 12f., vom 12. März 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/690734/4096041d4ea5dc13e210cdd01b001e52/WD-9-009-20-pdfdata .pdf. 9 Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und § 7 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes auf Infektionen mit dem erstmals im Dezember 2019 in Wuhan/Volksrepublik China aufgetretenen neuartigen Coronavirus („2019-nCoV“) vom 30. Januar 2020 (BAnz AT 31. Januar 2020 V1). 10 § 30 Abs. 1 S. 1 IfSG regelt die Verpflichtung der Behörde, bei den in Satz 1 genannten Krankheiten, namentlich Lungenpest und von Mensch zu Mensch übertragbares hämorrhagisches Fieber, Anordnungen zu treffen; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 6 „(…) 4. Kranker eine Person, die an einer übertragbaren Krankheit erkrankt ist,11 5. Krankheitsverdächtiger eine Person, bei der Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen,12 6. Ausscheider eine Person, die Krankheitserreger ausscheidet und dadurch eine Ansteckungsquelle für die Allgemeinheit sein kann, ohne krank oder krankheitsverdächtig zu sein, 7. Ansteckungsverdächtiger eine Person, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein, (…)“13 Im Gegensatz zu § 30 Abs. 1 S. 1 IfSG steht der zuständigen Behörde sowohl ein Entschließungsals auch ein Auswahlermessen zu, das heißt, dass sie über das „Ob“ und das „Wie“ der Anordnung frei entscheiden kann.14 Die Unterbringung kann in einem geeigneten Krankenhaus oder in sonst geeigneter Weise erfolgen. Dabei kommt auch eine Unterbringung zu Hause in Betracht, wenn diese Form der Unterbringung geeignet und unbedenklich erscheint.15 Für sogenannte Ausscheider können nur Anordnungen getroffen werden, „wenn sie andere Schutzmaßnahmen nicht befolgen, befolgen können oder befolgen würden und dadurch ihre Umgebung gefährden“, § 30 Abs. 1 S. 2 IfSG. Der Gesetzgeber geht in § 30 Abs. 1 IfSG von der freiwilligen Umsetzung der Anordnung durch den Betroffenen aus.16 In der Literatur wird teilweise erörtert, ob § 30 Abs. 1 IfSG formell verfassungswidrig sei, da ein Verstoß dagegen gemäß § 75 Abs. 1 Nr. 1 IfSG eine Straftat darstelle und 11 Das Vorliegen von Symptomen wurde medizinisch-diagnostisch bestätigt, Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar , 7. Auflage 2020, § 2 Rn. 4. 12 Dabei ist es ausreichend, wenn die Symptome sehr leicht sind, Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 2 Rn. 5. 13 „Eine Person ist ansteckungsverdächtig, wenn die Annahme, sie habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil. Für die Beurteilung sind die Eigenheiten der Krankheit, epidemiologische Erkenntnisse sowie die jeweiligen Erkenntnisse über Zeitpunkt, Art und Umfang der möglichen Exposition und über die Empfänglichkeit der Person für den Erreger zu berücksichtigen.“ BVerwG Urteil vom 22. März 2012 Az. 3 C 16.11, Neue Juristische Wochenschrift 2012, S. 2823; Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 2 Rn. 7. 14 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 25; zu den Begriffen des Auswahl- und Entschließungsermessens siehe Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, Vor § 16 Rn. 10. 15 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 27. 16 Amtliche Begründung zu § 30 Abs. 1, BT-Drs. 14/2530 S. 75; Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 30 Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 7 somit aufgrund der psychischen Zwangswirkung nicht von einer Freiwilligkeit ausgegangen werden könne. In diesem Fall wäre das Zitiergebot nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG missachtet, da das eingeschränkte Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gerade nicht genannt wird. Dies führe zur formellen Verfassungswidrigkeit des § 30 Abs. 1 IfSG.17 4. Zwangsweise Absonderung gemäß § 30 Abs. 2 IfSG 4.1. Unterbringungsregelungen des § 30 Abs. 2 IfSG Im Gegensatz zu § 30 Abs. 1 IfSG erfolgt die Absonderung in § 30 Abs. 2 IfSG zwangsweise, nämlich dann, wenn der Betroffene der Anordnung nicht nachkommt, oder wenn anzunehmen ist, dass er der Anordnung nicht ausreichend Folge leisten wird, § 30 Abs. 2 IfSG. Dabei muss zwischen Kranken und Krankheitsverdächtigen einerseits sowie Ausscheidern und Ausscheidungsverdächtigen andererseits unterschieden werden. Während Kranke und Krankheitsverdächtige in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses untergebracht werden müssen, können Ausscheider und Ansteckungsverdächtige auch in einer anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung untergebracht werden. Dies lässt sich damit erklären, dass sie keinerlei Symptome zeigen und daher nicht zwingend in einem Krankenhaus untergebracht und entsprechend versorgt werden müssen. Da gerade bei einer Pandemie ein erhöhter Raumbedarf entstehen kann, sollen die Behörden in diesem Fall die Möglichkeit haben, flexibler bei der Unterbringung der Betroffenen agieren zu können. 18 4.2. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Im Hinblick darauf, dass Maßnahmen nach § 30 Abs. 2 IfSG die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG einschränken, wie auch aus § 30 Abs. 2 S. 3 IfSG ersichtlich wird, gilt auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.19 Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die körperliche Bewegungsfreiheit , also die Freiheit, jeden beliebigen Ort aufsuchen und verlassen zu können.20 Damit die zwangsweise Durchsetzung der Anordnung verhältnismäßig ist, muss sie ein legitimes Ziel verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das legitime Ziel ist hier, die Anordnung durchzusetzen und damit die Gesundheit der Menschen zu schützen. Die zwangsweise Durchsetzung ist auch geeignet, da das Ziel der Anordnung, nämlich die Absonderung, erreicht wird. Sie ist erforderlich, wenn kein milderes gleich geeignetes Mittel zur Verfügung steht. Dies stellt die Behörde grundsätzlich vor die Aufgabe, abzuwägen, welche Maßnahme auch die Bedürfnisse der Betroffenen in den Blick nimmt. Zuletzt müsste die zwangsweise Durchsetzung auch angemessen 17 Mers, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 231ff; Näher hierzu: Das Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste, WD 9 – 3000 - 009/20, S. 11, vom 12. März 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/690734/4096041d4ea5dc13e210cdd01b001e52/WD-9-009-20-pdf-data.pdf. 18 Fraatz-Rosenfeld, AnwaltZertifikatOnline Miet- und Wohnungseigentumsrecht 7/2020 Anm. 2. 19 Mers, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 240; Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 30 Rn. 4. 20 Mers, Infektionsschutzgesetz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 239. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 8 sein. Dabei erfolgt jeweils eine Abwägung zwischen der Freiheit der Person des Betroffenen und dem Gesundheitsschutz anderer. Überwiegt der Gesundheitsschutz, ist die Maßnahme verhältnismäßig .21 Weil § 30 IfSG von § 28 Abs. 1 IfSG genannt wird, gelten auch hier die Anforderungen des § 28 Abs. 1 IfSG. So kann die zuständige Behörde nur so lange Vorkehrungen treffen „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“, § 28 Abs. 1 IfSG. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 2 IfSG vor, muss die Behörde den Antrag auf zwangsweise Absonderung beim zuständigen Gericht zwingend stellen, sie hat dabei keine Entscheidungsbefugnisse.22 4.3. Verfahren und Vollzug Gemäß § 30 Abs. 2 S. 4 IfSG gilt für das Verfahren das Buch 7 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) entsprechend .23 Die Anwendung dieses Buches ist notwendig, da hoheitlich in die Freiheit der Person des Betroffenen gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG eingegriffen wird, weshalb Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG zu beachten ist. Dieser schreibt vor, dass über die Zulässigkeit und die Dauer einer Freiheitsentziehung nur ein Richter entscheiden darf. Das zuständige Amtsgericht24 entscheidet auf Antrag der zuständigen Behörde.25 Dabei muss der Antrag vor allem das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 30 Abs. 2 IfSG und die Ermessenserwägungen darlegen, § 417 FamFG.26 Bei Gefahr im Verzug27 gemäß § 428 FamFG kann die zuständige Behörde die Absonderung selbst anordnen, 21 Mers, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 240. 22 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 47. 23 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586, 2587), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 19. März 2020 (BGBl. I S. 541) geändert worden ist (FamFG). 24 Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 30 Rn. 4. 25 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 49; Mers, Infektionsschutz im liberalen Rechtsstaat, 2019, S. 229f.. 26 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 52. 27 Zum Begriff siehe Gerhardt, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 3. Auflage 2020, Vor § 16 Rn. 26. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 9 muss aber bis zum Ablauf des nächsten Tages die richterliche Entscheidung nachholen, da der Betroffene anderenfalls „freizulassen“ ist.28 Eine Heilbehandlung darf in diesem Fall nicht angeordnet werden, da § 28 Abs. 1 S. 3 IfSG dies ausdrücklich verbietet.29 Nach dem richterlichen Beschluss vollzieht die zuständige Behörde, in diesem Fall die Behörde, die auch den Antrag gestellt hat, den Beschluss gemäß § 422 Abs. 3 FamFG. Dabei kann sie auch Amtshilfe durch die Polizei anfordern.30 4.4. Beispiele zur Umsetzung dieser Maßnahmen 4.4.1. Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige in Büren Wie in der Presse mehrfach berichtet wurde, wurden sechs Bewohner der Flüchtlings-Erstaufnahme -Einrichtung (EAE) „Oldentruper Hof“ in Bielefeld in die Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige in Bürgen gebracht, da sie laut Aussagen der Polizei die Ausgangssperre teilweise ignoriert und in der Unterkunft randaliert hätten.31 Laut eines Sprechers der Bezirksregierung seien die Bewohner „sicher symptomfrei“ gewesen.32 Dies ist für die Unterbringung in Büren auch notwendig, da, wie bereits erläutert, nur Ausscheider und Ansteckungsverdächtige, also Personen, die keine Symptome zeigen, in „anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtungen “ untergebracht werden dürfen, § 30 Abs. 2 S. 2 IfSG. Es stellt sich aber die Frage, was unter einer „anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung“ zu verstehen ist. In der Literatur wurde dieses Problem bisher kaum thematisiert. Im Hinblick auf den Sinn und Zweck des § 30 IfSG und des Infektionsschutzgesetzes insgesamt handelt es sich um eine geeignete Einrichtung, wenn der Schutz vor Übertragung der Krankheit und das Wohlbefinden des Betroffenen gewährleistet sind. Es muss also genügend Platz vorhanden sein und die medizinische Versorgung muss sichergestellt werden. Die Betreuer sollten im Umgang mit den Betroffenen möglichst entsprechend geschult werden, um Gefahren für sich und andere minimieren zu können. Laut Presseberichten 28 Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 30 Rn. 4; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 54. 29 Erdle, Infektionsschutzgesetz, Kommentar, 7. Auflage 2020, § 30 Rn. 4; Gerhardt, Infektionsschutzgesetz Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 56; Näher hierzu: Das Infektionsschutzgesetz als Rechtsgrundlage für die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste, WD 9 - 3000 - 009/20, S. 10f., vom 12. März 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/690734/4096041d4ea5dc13e210cdd01b001e52/WD-9-009-20-pdf-data.pdf. 30 Gerhardt, Infektionsschutzgesetz Kommentar, 3. Auflage 2020, § 30 Rn. 57. 31 Flüchtlinge müssen in Abschiebegefängnis; Uneinsichtige Corona-Infizierte verbringen den Rest ihrer Quarantäne in Einzelhaft in Büren, in: Neue Westfälische vom 25. April 2020; Zur Quarantäne in den Knast, in: taz vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://taz.de/Corona-und-Gefluechtete/!5681898/. 32 Zur Quarantäne in den Knast, in: taz vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://taz.de/Corona-und-Gefluechtete /!5681898/; siehe auch Bürener Abschiebegefängnis wegen Corona-Infizierter in der Kritik, in: WDR vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/abschiebehaftanstalt-buerencorona -infizierte-asylsuchende-100.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 10 gab es in Büren medizinische Betreuung bzw. Schutzkleidung und Einzelzimmer.33 Zudem sei Büren besonders geeignet gewesen, da zu diesem Zeitpunkt von 175 Plätzen nur drei belegt gewesen seien.34 Kerstin Terhardt, Fachanwältin für Migrationsrecht aus Bielefeld, betrachtet es hingegen als sehr fraglich, ob Büren als „andere abgeschlossene Einrichtung“ geeignet ist.35 Auch der „Verein Hilfe für Menschen in Abschiebhaft Büren e.V.“ kritisiert das Vorgehen, da hier ausreichend qualifiziertes medizinisches Personal fehle und die Gefahr einer Ansteckung der Häftlinge bestehe.36 Er stellt die Frage, warum nicht auch die Flüchtlinge in speziellen Krankenhäusern untergebracht werden könnten. Zudem bemängelt er das Vorgehen der Behörden, indem die Flüchtlinge einerseits dicht an dicht in den Gemeinschaftsunterkünften leben müssten, andererseits aber bei Verstößen eine unverhältnismäßig harte Bestrafung gewählt würde. Der Verein sieht darin eine strukturelle Benachteiligung der Flüchtlinge. 37 Auch andere Flüchtlingsorganisationen bemängeln immer wieder die unzureichenden Hygienebedingungen in den Unterkünften, die die Ursache für die extrem hohen Infiziertenzahlen unter Flüchtlingen seien.38 Die Bezirksregierung Köln hat auf das Problem der stark überfüllten Gemeinschaftsunterkünfte reagiert und vor allem Flüchtlinge, die zur Risikogruppe gehören, in der Jugendherberge am Venusberg in Bonn untergebracht, um andere Unterkünfte zu entlasten. Dort habe jedes Zimmer ein eigenes Badezimmer, es gebe einen großen Speisesaal und einen Garten. Zudem stünden in 33 Flüchtlinge müssen in Abschiebegefängnis; Uneinsichtige Corona-Infizierte verbringen den Rest ihrer Quarantäne in Einzelhaft in Büren, in: Neue Westfälische vom 25. April 2020; Zur Quarantäne in den Knast, in: taz vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://taz.de/Corona-und-Gefluechtete/!5681898/; Bürener Abschiebegefängnis wegen Corona-Infizierter in der Kritik, in: WDR vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/abschiebehaftanstalt-bueren-corona-infizierte-asylsuchende- 100.html. 34 Müller-Gerbes, Kritik an Quarantäne in Abschiebehaft; Wegen Verstoßes gegen Auflagen sind Flüchtlinge nun in Büren eingesperrt. Verein protestiert, in: Neue Westfälische vom 28. April 2020, abrufbar unter: https://www.nw.de/nachrichten/zwischen_weser_und_rhein/22763670_Kritik-an-Abschiebehaft-nach-Quarantaeneverstoessen -von-Fluechtlingen.html. 35 Ebd. 36 Pressemitteilung des „Vereins Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren e.V.“ vom 26. April 2020, abrufbar unter: http://www.gegenabschiebehaft.de/hfmia/pressealias/pressemitteilungen/corona-fluechtlingshaftanstaltbueren .html. 37 Corona-Flüchtlingshaftanstalt Büren, Pressemitteilung des Vereins „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren e.V.“, vom 26. April 2020, abrufbar unter: http://www.gegenabschiebehaft.de/hfmia/pressealias/pressemitteilungen /corona-fluechtlingshaftanstalt-bueren.html. 38 Schattauer, Corona wütet in Asylheimen: Zahl der Fälle seit März um fast das 20-Fache gestiegen, in: FOCUS- Online vom 21. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.focus.de/politik/neue-zahlen-aus-bundesinnenministerium -corona-wuetet-in-asylheimen-zahl-der-faelle-seit-maerz-um-fast-das-20-fache-gestiegen_id_12015239.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 046/20 Seite 11 der oberen Etage kleine Appartements mit Balkon zu Verfügung, die im Falle einer Isolierung genutzt werden könnten. Die Jugendherberge wird bis Anfang November von der Bezirksregierung Köln gemietet.39 4.4.2. Ausreisesammelstelle am Flughafen Schönefeld Auch aus Teltow im Landkreis Potsdam-Mittelmark wurde berichtet, dass ein Flüchtling, der die Quarantäne-Anordnungen missachtet hatte, in die Ausreisesammelstelle am Flughafen Schönefeld gebracht wurde.40 Der Kreis Potsdam-Mittelmark hatte darüber selbst in einer Pressemitteilung vom 6. Mai 2020 informiert.41 Dabei wurde auch bekannt gegeben, dass die Ausreisesammelstelle künftig regelmäßig für die Absonderung von Quarantäne-Verweigerern genutzt werden könne. Mit dem ursprünglichen Zweck der Einrichtung stehe die Unterbringung in keinerlei Zusammenhang. Die Ausreisesammelstelle sei geeignet, da zurzeit kaum oder nur selten Rückführungen möglich seien und die Räumlichkeiten daher zur Verfügung stünden.42 Zur Form der Unterbringung sowie hygienischen Vorsorgemaßnahmen gibt es keine Angaben von staatlicher Seite. Der Flüchtlingsrat Brandenburg hingegen bezweifelt, dass die Ausreisestelle eine geeignete Einrichtung ist, da medizinische Materialien und geschultes Personal vorhanden sein müssten. Er kritisiert zudem die unzureichende Informationsvermittlung, mit der die Missachtung der Quarantäneanordnung durch Flüchtlinge häufig zusammenhänge. 43 *** 39 Nach Corona-Infektionen in Bonn: Flüchtlinge ziehen in Jugendherberge auf dem Venusberg, in: General-Anzeiger Bonn, vom 6. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/stadt-bonn/coronafluechtlinge -ziehen-in-jugendherberge-in-bonn_aid-50399801. 40 Wiechers/Schmid, Bändchen statt Coronatest: Flüchtlingsrat prangert Situation in Heimen an, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 11. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.pnn.de/brandenburg/baendchen-stattcoronatest -fluechtlingsrat-prangert-situation-in-heimen-an/25820244.html. 41 Pressemitteilung des Landkreises Potsdam-Mittelmark vom 6. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.potsdammittelmark .de/fileadmin/extern/user_upload/2020-05-06_Pressemeldung.pdf. 42 Wiechers/Schmid, Bändchen statt Coronatest: Flüchtlingsrat prangert Situation in Heimen an, in: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 11. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.pnn.de/brandenburg/baendchen-stattcoronatest -fluechtlingsrat-prangert-situation-in-heimen-an/25820244.html. 43 Flüchtlingsrat Brandenburg, Setzt Brandenburg auf Zwang statt Kommunikation?- Corona-Absonderungshaft im Ausreisegewahrsam, vom 8. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.fluechtlingsrat-brandenburg.de/pressenotizsetzt -brandenburg-auf-zwang-statt-kommunikation-corona-absonderungshaft-im-ausreisegewahrsam/?cn-reloaded =1 (Stand: 26. Mai 2020).