© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 044/21 Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangssperren zur Eindämmung der Verbreitung von SARS-CoV-2 Aktuelle Studien Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 2 Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangssperren zur Eindämmung der Verbreitung von SARS- CoV-2 Aktuelle Studien Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 044/21 Abschluss der Arbeit: 19. April 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Studien zur Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangssperren 4 2.1. Zum Effekt auf die Übertragungsrate 5 2.2. Zum Effekt auf das Mobilitätsverhalten 7 2.3. Weitere Studien 9 3. Fazit 10 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 4 1. Vorbemerkung Im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie sieht sich Deutschland derzeit erneut mit einem Ansteigen der Sieben-Tage-Inzidenz und einer zunehmenden Belastung des Gesundheitssystems konfrontiert. Medienberichten zufolge drohe eine Überlastung der Intensivstationen. Um dem entgegenzuwirken, plant der Gesetzgeber mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (IfSG-E)1 die Einführung einer in der Entwurfsbegründung so bezeichneten „Notbremse“ in § 28b IfSG-E, aufgrund derer in Landkreisen , in denen an drei aufeinanderfolgenden Tagen eine Sieben-Tages-Inzidenz von 100 überschritten wird, automatisch verschärfte Maßnahmen greifen sollen. Am 18. April 2021 war dies nach Angaben des Robert-Koch-Instituts in 361 von 412 deutschen Landkreisen der Fall.2 Bei einer dieser Maßnahmen handelt es sich um eine nächtliche Ausgangssperre, die von 21 Uhr bis fünf Uhr morgens gelten soll (§ 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG-E).3 Hierbei soll der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung oder Unterkunft und dem dazugehörigen befriedeten Besitztum in dieser Zeit unzulässig sein, wenn nicht einer der aufgezählten Gründe vorliegt. Ziel ist die Reduzierung von Kontakten im privaten Bereich durch eine Einschränkung der Mobilität und damit die Verhinderung der Ausbreitung des Virus. Neben Zweifeln an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit4 steht auch die Wirksamkeit einer derartigen Maßnahme im Fokus der öffentlichen Debatte. Die vorliegende Arbeit soll einen Überblick über ausgewählte Studien geben, die sich – zumeist neben anderen Aspekten – mit ihrer Wirksamkeit befasst haben. 2. Studien zur Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangssperren Verschiedene Studien haben sich mit der Frage der Wirksamkeit von Ausgangssperren auseinandergesetzt . Allerdings muss – so wird dies auch in den Studien selbst deutlich gemacht – berücksichtigt werden, dass die Wirksamkeit bereits deshalb nur eingeschränkt überprüfbar ist, da nächtliche Ausgangssperren in der Regel nicht isoliert als Einzelmaßnahme angeordnet werden, sondern mit anderen Maßnahmen in Wechselwirkung stehen. Zudem ist stets zu berücksichtigen, 1 Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Entwurf eines Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 13. April 2021, BT-Drs. 19/28444. 2 COVID-19 Datenhub, RKI Corona Landkreise, abrufbar unter https://npgeo-corona-npgeo-de.hub.arcgis.com/datasets /917fc37a709542548cc3be077a786c17_0?geometry=-30.805%2C46.211%2C52.823%2C55.839&selectedAttribute =cases7_per_100k, dieser und alle weiteren Online-Nachweise zuletzt abgerufen am 19. April 2021. 3 Medienberichten zufolge haben sich die Koalitionsfraktionen in einer parlamentarischen Beratung am 19. April 2021 darauf geeinigt, die Ausgangssperre später beginnen zu lassen und weitere Ausnahmen zuzulassen, vgl. Leithäuser, Johannes, Ausgangsbeschränkungen erst ab 22 Uhr, faz.net, 19. April 2021, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundes-notbremse-ausgangsbeschraenkungen-ab-22-uhr- 17300979.html, 4 Siehe zu den verfassungsrechtlichen Fragen etwa Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung WD 3 - 3000 - 083/21, Verfassungsrechtliche Bewertung der neuen Infektionsschutzgesetzgebung, 15. April 2021. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 5 dass neben Parallelmaßnahmen auch der zeitliche Beginn der Ausgangssperre und ihr Ende einen Einfluss auf ihre Wirksamkeit haben können. So könnten Abweichungen in diesem Punkt einer Übertragbarkeit von Studienergebnissen auf die Situation in Deutschland entgegenstehen. Einige Studien befassen sich auch allein mit dem Effekt der Ausgangssperre auf das Mobilitätsverhalten , ohne Schlüsse auf die Virusübertragung zu ziehen. Da jedoch eine Reduzierung der Mobilität naheliegender Weise auch geeignet sein kann, die Übertragungsrate zu verringern, werden auch derartige Studien im Folgenden dargestellt. Viele der Studien liegen zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich als Preprint, also als Vorabveröffentlichung vor; eine Begutachtung in einem Peer-Review-Verfahren hat in diesem Fall noch nicht stattgefunden. 2.1. Zum Effekt auf die Übertragungsrate Die Entwurfsbegründung zur Ausgangssperre nach § 28b Abs. 1 Nr. 2 IfSG-E (dort S. 12) bezieht sich auf eine Studie, die sich mit der Effektivität von Regierungseingriffen während der zweiten COVID-19-Welle in Europa befasst: Sharma, Mrinank / Mindermann, Sören, Understanding the effectiveness of government interventions in Europe’s second wave of COVID-19, Preprint, medRxiv, 26. März 2021, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.03.25.21254330v1.full. Die Studie analysiert Daten im Zusammenhang mit der Einführung nicht-pharmazeutischer Maßnahmen (non-pharmaceutical interventions, NPI) und der folgenden Entwicklung der Fallzahlen in 114 Regionen in Deutschland, England, Italien, Österreich, den Niederlanden, der Schweiz und Tschechien. Berücksichtigt werden neben nächtlichen Ausgangsbeschränkungen 16 weitere Maßnahmen wie die Schließung von Schulen sowie verschiedener Geschäfte und Freizeiteinrichtungen , Kontaktbeschränkungen und striktere Vorgaben zur Maskenpflicht. Für die Studie sei ein multinationales Datenset herangezogen worden, da die Maßnahmen selten isoliert eingeführt worden seien, sondern verschiedene Länder verschiedene Maßnahmenpakete zu unterschiedlichen Zeiten eingeführt hätten. Der Gesamteffekt der Maßnahmen sei verglichen mit Schätzungen zum Effekt von Maßnahmen der ersten Jahreshälfte 2020 geringer ausgefallen. In der zweiten Welle hätten sie den R-Wert im Schnitt insgesamt um 66 Prozent gesenkt – gegenüber mittleren 77-82 Prozent während der ersten Welle. Dies spreche für einen starken Effekt von individuellen Schutzmaßnahmen wie dem Abstandhalten und Sicherheitsvorkehrungen, die auch nach der ersten Welle beibehalten worden seien. Die Studie beziffert diesen Effekt mit einer potentiellen Reduktion des R-Wertes um 34 bis 49 Prozent. Im Hinblick auf nächtliche Ausgangssperren wird ein moderater, aber statistisch signifikanter Effekt auf den R-Wert festgestellt, der sich im Mittel um 13 Prozent reduziert habe (Konfidenz-Intervall [KI]: 6 bis 20 Prozent). Aufgrund der weitgefassten Natur der Maßnahme sei jedoch ein Zusammenwirken mit anderen Maßnahmen wahrscheinlich. Einen im Vergleich deutlich stärkeren Effekt auf den R-Wert hätten der Studie zufolge Maßnahmen wie eine Schließung aller Geschäfte , die nicht der Deckung des alltäglichen Bedarfs dienen (Reduktion um 35 Prozent im Mittel , KI 29 bis 41 Prozent), wie sie ebenfalls in § 28 Abs. 1 IfSG-E vorgesehen ist. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 6 Daneben wird in der Entwurfsbegründung zum IfSG-E eine weitere Studie für die Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangssperren angeführt, welche die die Auswirkungen von Ausgangsbeschränkungen im Januar 2021 auf die Verbreitung von SARS-CoV-2 B.1.1.7 in Frankreich analysiert : Di Domenico, Laura / Sabbatini, Chiara E. et al., Impact of January 2021 curfew measures on SARS-CoV-2 B.1.1.7 circulation in France, Preprint, medRxiv, 10. März 2020, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.02.14.21251708v2.full. Nachdem in Frankreich Mitte Dezember 2020 eine nächtliche Ausgangssperre von 20 Uhr bis sechs Uhr morgens eingeführt worden sei, sei der Beginn dieser Ausgangssperre vom 2. Januar 2021 an aufgrund von Verschlechterungsindikatoren in einigen Départements auf 18 Uhr vorgezogen worden. Diese Regelung sei am 16. Januar 2021 landesweit eingeführt worden, gemeinsam mit erneuten Hinweisen zu Telearbeit und Präventionsmaßnahmen. Am 31. Januar 2021 sei die Kontrolle der Einhaltung der Maßnahmen verschärft und große Einkaufszentren seien geschlossen worden. Die Studie kommt aufgrund einer Modellierung zu dem Ergebnis, dass die Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung der Ursprungsvariante von SARS-CoV-2 verringert hätten und den diesbezüglichen R-Wert auf unter 1 gesenkt hätten, während sich die Variante B.1.1.7 weiter exponentiell ausgebreitet habe. Dennoch sei es zu einer Stagnation der Zahl der hospitalisierten Patienten gekommen – auch die Schulferien im Februar könnten nach Einschätzung der Autoren dazu beigetragen haben. Ohne weitere Verstärkung des Social Distancings sei zu befürchten, dass die Zahl der Hospitalisierungen trotz schnellen Fortschreitens der französischen Impfkampagne rapide zunehmen könnte. Aktuelle Zahlen stünden im Einklang mit der getroffenen Vorhersage. Als zusätzliche Maßnahme werden etwa Wochenend-Lockdowns, wie sie jüngst in Nizza und Dunkerque angeordnet worden seien, vorgeschlagen. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass die Studie Faktoren wie die Wirkung von lokal begrenzten Wochenend-Lockdowns, saisonale Effekte und die Auswirkungen etwa der Osterferien nicht habe berücksichtigen können und auch mögliche Verhaltensänderungen, wenn die Bevölkerung etwa der Telearbeit müde werde, nicht einbezogen seien. Zudem seien Unterschiede zwischen den zwei analysierten SARS-CoV-2-Varianten, die andere Aspekte als die Übertragbarkeit beträfen, nicht berücksichtigt worden. Eine weitere Studie bewertet und quantifiziert anhand einer Modellierung den Effekt der Ausgangsbeschränkung ab 18 Uhr, die ab dem 16. Januar 2021 in Toulouse, Frankreich, galt: Dimeglio, Chloé / Miedougé, Marcel et al., Side effect of a 6 p.m curfew for preventing the spread of SARS-CoV-2: A modeling study from Toulouse, France, The Journal of Infection, 31. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7847700/. Vor dem 16. Januar 2021 habe eine Ausgangsbeschränkung ab 20 Uhr gegolten, die die Ausbreitung des Virus unter den Einwohnern von Toulouse um 38 Prozent verringert habe. Die Modellierung habe ergeben, dass sich bei strikter Einhaltung dieser Ausgangssperre die Zahl der positiven RT-PCR-Tests lediglich um 7 bis 8 Prozent hätte erhöhen müssen. Stattdessen habe sie sich aber um 8,5 bis 9 Prozent erhöht. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 7 Nach der Einführung der Ausgangssperre ab 18 Uhr am 16. Januar 2021 habe die reale Zunahme positiver RT-PCR-Tests bei über zehn Prozent gelegen, also noch höher als für die kürzere Ausgangssperre prognostiziert worden sei. Die Übertragung sei nur um 35 Prozent eingeschränkt worden. Die gewonnenen Daten zeigten, dass eine solche Maßnahme den gegenteiligen Effekt als geplant erzielen könne. So habe sich die Effektivität der Ausgangssperre durch den früheren Beginn sogar verringert. Die sei möglicherweise auf eine Ballung von Menschen in Läden und Supermärkten vor dem Beginn der Ausgangssperre zurückzuführen. Eine frühe Einschätzung der Auswirkungen von Ausgangssperren und des zweiten COVID-19- Lockdowns auf die Virusverbreitung in Frankreich findet sich bei: Baunez, Christelle, Degoulet, Mickael et al., An Early Assessment of Curfew and Second COVID- 19 Lock-down on Virus Propagation in France, Preprint, medRxiv, 13. November 2020, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.11.11.20230243v1. Hiernach hätten die Ausgangssperren die Beschleunigung der Verbreitung reduziert, dies insbesondere in den besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, also bei Menschen im Alter von über 60 Jahren. Auch der Lockdown habe die Beschleunigung weiter gebremst, dies allerdings in größerem Maße für Personen unter 60 Jahren. In der Bevölkerungsgruppe von 0 bis 19 Jahre habe die Ausgangsbeschränkung die Beschleunigung der Ausbreitungsgeschwindigkeit nicht reduziert , der Lockdown allerdings schon. Dies deute darauf hin, dass Ausgangssperren für den Schutz der älteren Bevölkerung ausreichend sein könnten. Die Autoren schlagen daher eine Anpassung der Strategie im Umgang mit COVID-19 anhand der betroffenen Altersgruppen vor. Zu beachten ist, dass der Artikel den Lockdown als stärkere Maßnahme als die Ausgangssperren ansieht und dieser auch erst nach den Ausgangsbeschränkungen eingeführt worden sei. Allerdings wird der Begriff nicht näher definiert. Es ist aber zu vermuten, dass der Begriff nicht so verwendet wird wie im Alltagsgebrauch in Deutschland, und dass deutlich stärkere Maßnahmen umfasst sind als diejenigen, welche in Deutschland derzeit Anwendung finden und teilweise bereits als Lockdown bezeichnet werden. 2.2. Zum Effekt auf das Mobilitätsverhalten Spezifisch mit den Auswirkungen einer nächtlichen Ausgangsbeschränkung auf die Mobilität setzt sich eine kanadische Studie auseinander: Ghasemi, Amir / Daneman, Nick et al, Impact of a nighttime curfew on overnight mobility, Preprint , medRxiv, 7. April 2021, abrufbar unter: https://www.medrxiv.org/content /10.1101/2021.04.04.21254906v1. Während der zweiten Welle hätten die beiden größten und aneinander angrenzenden kanadischen Provinzen Quebec und Ontario ihre Maßnahmen verschärft, wobei Quebec auch eine nächtliche Ausgangssperre verhängt habe, Ontario aber nicht. Die Studie zeigt die Unterschiede im Mobilitätsverhalten der Bevölkerung zwischen dem 1. Dezember 2020 und dem 23. Januar 2021; die Ausgangssperre in Quebec wurde am 9. Januar 2021 eingeführt. Untersucht worden Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 8 seien Daten des Anbieters Veraset zur Verwendung von Standortdiensten in Drittanbieter-Apps auf Android- und iOS-Geräten. Vor dem 9. Januar 2021 hätten beide Regionen ähnliche Trends in der Mobilität sowohl nachts als auch tagsüber gezeigt. Die Ausgangssperre habe zu einer sofortigen starken Verringerung der nächtlichen Mobilität geführt. Nach einer Auswertung nach einem angepassten Differenz-von- Differenzen-Ansatz (DvD) habe sich in Quebec eine relative Reduktion um 31 Prozent (KI: -36 bis -25 Prozent) im Vergleich zu Ontario ergeben. Dem gegenüber erhöhte sich die Mobilität am Tag um 8,7 Prozent (KI: 4,9 – 13 Prozent). In der Stadt Montreal (Quebec) habe die Reduktion gegenüber Toronto (Ontario) 39 Prozent niedriger (KI: -43 bis -34 Prozent) gelegen. Das mittlere Haushaltseinkommen habe dabei einen statistisch signifikanten Effekt gehabt; die Reduktion sei am stärksten in Nachbarschaften mit hohem Durchschnittseinkommen ausgefallen. Ein hoher Anteil von Personen mit systemrelevanten Berufen habe demgegenüber zu einer relativ geringen Reduktion der Mobilität geführt. Die Autoren geben an, nächtliche Ausgangssperren könnten eine hohe Effizienz aufweisen, da sie die Mobilität in einem Zeitraum reduzierten, in dem viele private Treffen stattfänden, aber gleichzeitig nur wenig berufliche Tätigkeiten oder Sport im Freien. Zu beachten ist, dass eine Reduktion der Mobilität nicht gleichbedeutend mit einer Reduktion von Kontakten oder des Infektionsgeschehens ist – wenn es auch naheliegend ist, dass beide Faktoren miteinander in Beziehung stehen. Beschränkt werde daher die Aussagekraft der Studie – neben der fehlenden Berücksichtigung von Personen, die keine Geräte mit W-LAN oder Standortdiensten verwendeten – dadurch, dass Mobilität nur eine Ersatzvariable für soziale Kontakte sei, die selbst nicht unmittelbar erfasst würden. Eine Studie aus den Niederlanden wertet die Daten von Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen in Amsterdam aus, um die Einhaltung der Ausgangssperren als Maßnahme gegen die Verbreitung von COVID-19 zu analysieren: Suonperä Liebst, Lasse / Appelman, Joska et al., Results of the NSCR Curfew Study, Preprint, Nederlands Studiecentrum Criminaliteit en Rechtshandhaving, abrufbar unter: https://nscr.nl/app/uploads/2021/02/NSCR_Factsheet_CurfewBehavioralStudyPreprint _050221.pdf. In den Niederlanden war vom 23. Januar 2021 an eine Ausgangssperre in Kraft, die von 21 Uhr bis 4.30 Uhr morgens andauerte. Im Rahmen der Studie wurde die von öffentlichen Überwachungskameras in Amsterdam aufgenommene Zahl der Menschen innerhalb von sechs Stunden vor dem Beginn der Ausgangssperre, also von 15 bis 21 Uhr, und sechs Stunden nach ihren Beginn , also von 21 Uhr bis 3 Uhr morgens, verglichen. Dies erfolgte an vier Tagen vor und drei Tagen während der Gültigkeit der Ausgangssperre. Die Daten wurden nach einem DvD-Ansatz analysiert . Als die Ausgangssperre eingeführt worden sei, habe sich die Zahl der Menschen auf der Straße reduziert, was für eine Einhaltung der Ausgangssperre spreche. Von den Menschen, die unterwegs waren, hatte ein Drittel bereits aufgrund visueller Einschätzung einen triftigen Grund, das Haus zu verlassen, führte also etwa einen Hund spazieren oder lieferte Lebensmittel aus. Aller- Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 9 dings sei der Effekt auf die Mobilität sehr gering gewesen, was darauf hindeute, dass nur ein geringer Effekt erzielbar sei, wenn bereits andere Maßnahmen in Kraft seien. Zudem habe es, wenn auch geringfügige, Anzeichen gegeben, dass sich die Zahl der Menschen in der Zeit von 15 bis 21 Uhr erhöht habe. Dies sei zwar mit Vorsicht zu interpretieren, deute aber auf Verlagerungseffekte hin, da Menschen ihre Besorgungen auf die Zeit vor der Ausgangssperre verlegten. Auch die Autoren dieser Studie weisen darauf hin, dass die Einhaltung der Ausgangssperre untersucht worden sei und nicht der Effekt auf die Virusübertragung. Es sei zu bedenken, dass unbekannt sei, wohin die Leute sich bewegten und ob die Bewegung in Zusammenhang mit risikobehaftetem Verhalten stehe. Zudem gebe es Gründe, an dem Effekt der Ausgangssperren zu zweifeln , wenn ohnehin schon zahlreiche Einschränkungen im öffentlichen Leben bestünden. Insgesamt sei die Reduktion der Mobilität gering. Schließlich sei zu berücksichtigen, dass die Übertragungsrate außerhalb geschlossener Räume gering sei, weshalb die Mobilität im Außenbereich zu vernachlässigen sein könnte. 2.3. Weitere Studien Im Zusammenhang mit nächtlichen Ausgangssperren werden häufig weitere Studien zitiert, die sich nicht unmittelbar mit der Thematik auseinandersetzen, deren Ergebnisse jedoch damit in Zusammenhang stehen. Gerade die folgenden beiden Studien werden besonders häufig angeführt . So setzt sich eine Studie mit Übertragungswegen in der Provinz Hunan, China, bis April 2020 auseinander: Sun, Kaiyuan / Wang, Wei et al., Transmission heterogeneities, kinetics, and controllability of SARS-CoV-2, Science, 15. Januar 2021, abrufbar unter: https://science.sciencemag.org/content /371/6526/eabe2424. Hiernach konnten die meisten Infektionen auf wenige Infizierte zurückgeführt werden, und mehr als die Hälfte der Infektionen seien vor Symptombeginn erfolgt. Entscheidend sei die Expositionsdauer in Verbindung mit der Zahl der Kontakte innerhalb eines Haushalts, insbesondere unter Lockdown-Bedingungen. Das ohnehin hohe Übertragungsrisiko innerhalb eines Haushalts steige, wenn Abstandsvorschriften außerhalb durchgesetzt würden und haushaltsinterne Kontakte dadurch länger anhielten. Eine Ausgangsbeschränkung könne daher dazu führen, dass sich die Übertragung in den Haushalten verstärke und sich dort Cluster bildeten. Insgesamt könne sich die Übertragungstopografie durch derartige Maßnahmen verändern. Dies könne aber von Vorteil sein, da sich gezeigt habe, dass Clusterausbrüche leichter zu bekämpfen seien und zu einer geringeren Übertragungsrate führten als unspezifische Ausbrüche. Zu beachten ist allerdings, dass die Studie sich nicht mit nächtlichen Ausgangssperren auseinandersetzt , sondern mit breiter angelegten Ausgangsbeschränkungen, soweit ersichtlich ohne Beschränkung anhand der Tageszeit. Eine weitere Studie, die im Dezember 2020 in Nature Human Behaviour veröffentlicht wurde und die im Zusammenhang mit Ausgangssperren häufig referenziert wird, analysiert anhand von Modellierungen den Effekt zahlreicher NPIs in 79 Regionen weltweit auf den R-Wert: Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 044/21 Seite 10 Haug, Nils / Geyrhofer, Lukas et al., Ranking the effectiveness of worldwide COVID-19 government interventions, nature human behaviour, Vol 4, S. 1303 ff., Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.nature.com/articles/s41562-020-01009-0.pdf. Während die Studie Ausgangsbeschränkungen („curfew“) einen starken Effekt zuschreibt und diese für eine der effektivsten Maßnahmen zur Eindämmung der Übertragung ansieht, ist zu beachten , dass auch hier keine Differenzierung zwischen nächtlichen und ganztägigen Ausgangssperren stattfindet. Die Übertragbarkeit auf nächtliche Ausgangssperren ist daher unklar und die Aussagekraft diesbezüglich begrenzt. Eine weitere vieldiskutierte Studie befasst sich ebenfalls mit der Wirksamkeit verschiedener NPIs, insbesondere der Effekte der Anordnung von Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen : Bendavid, Eran / Oh, Christopher / Ioannidis, John et al., Assessing mandatory stay‐at‐home and business closure effects on the spread of COVID‐19, European Journal of Clinical Investigation, 5. Januar 2021, abrufbar unter: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/eci.13484. Die Studie analysiert NPIs in zehn verschiedenen Ländern, von denen acht restriktive Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen eingeführt hätten und zwei (Schweden und Südkorea) nicht. Auch in dieser Studie werden nächtliche Ausgangssperren nicht gesondert untersucht und verschiedene Ausgangsbeschränkungen, auch ganztägige, als „mandatory stay at home orders“ zusammengefasst. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass restriktive Maßnahmen bei der Anwendung neben weniger restriktiven Maßnahmen keinen weitergehenden signifikanten Effekt hätten. Nach der verwendeten Methodik zeige sich teilweise sogar ein gegenteiliger Effekt in Form einer Abschwächung des Gesamteffekts, den die Autoren als Stärkung der Verbreitung gegenüber der Anwendung weniger restriktiver Maßnahmen auslegen. 3. Fazit Die dargestellten Studien deuten darauf hin, dass eine nächtliche Ausgangssperre einen Effekt auf die Verbreitung von SARS-CoV-2 und auf das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung zeigen kann. Der Effekt ist aber im Vergleich zu anderen Maßnahmen gering und von weiteren Faktoren wie dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen und anderen zeitgleich und im Vorfeld angewendeten Maßnahmen abhängig. Zudem hat eine Studie auch eine Korrelation des Effekts mit dem Alter gezeigt. Im ungünstigsten Fall könnte es aufgrund der Ausgangsbeschränkungen zu einer Ballung von Kontakten außerhalb des Geltungszeitraums kommen, wenn mobiles Verhalten schlicht auf eine andere Tageszeit vorverlagert wird. ***