© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 039/20 Zum Begriff des Kindeswohls Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 2 Zum Begriff des Kindeswohls Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 039/20 Abschluss der Arbeit: 3. August 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Kindeswohl nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention 5 3. Kindeswohl nach Art. 24 der EU-Grundrechtecharta 6 4. Kindeswohl im deutschen Recht 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Die Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“ sind sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe , für die es in Gesetzestexten keine rechtsverbindliche Definition gibt. Kinderrechte sind dagegen sowohl in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK)1 als auch in der EU-Grundrechtecharta (EU-GrCh)2 festgeschrieben. Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention im Jahr 1992 ratifiziert, damals aber mit einer Vorbehaltserklärung versehen, die erst im Jahr 2010 zurückgenommen wurde. Seitdem ist Deutschland nach Art. 3 Abs. 1 der Konvention ohne Einschränkung verpflichtet, die Rechte von Kindern zu gewährleisten, zu achten und zu schützen.3 Inwieweit die Vertragsstaaten ihrer Verpflichtung im Rahmen der UN-KRK nachkommen , überwacht der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes anhand von regelmäßigen Staatenberichten , die die Vertragsstaaten vorlegen müssen.4 Der jüngste Staatenbericht Deutschlands wurde im Februar 2019 vorgelegt.5 Abschließende Bemerkungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes liegen zum vorangegangenen Staatenbericht von 2014 vor. Darin wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Kinderrechte bislang noch nicht in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland verankert seien.6 Die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz ist seit langem Thema der politischen Diskussion in Deutschland.7 1 UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, A/RES/44/25, abrufbar unter: https://www.kinderrechtskonvention .info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-des-kindes-370/ (Dieser und alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 31. Juli 2020.) 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, EU-Grundrechtecharta, unterzeichnet am 7. Dezember 2000, ABl C 364/01, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009, ABl. C 83/02. 3 Vgl. das vom Deutschen Bundestag beschlossene Zustimmungsgesetz, in: BGBl. II S. 121 sowie die Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, in: BGBl. II S. 990; Rücknahme zuvor erklärter Vorbehalte, BGBl. II S. 600; die UN-KRK hat nach Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland den Rang eines Bundesgesetzes. 4 Art. 43, 44 UN-KRK; Fünfter und Sechster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, BMFSFJ, Februar 2019, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/133732/43637e35068c28ae63a0e8db30dc5cff/20190212-fuenfter-und-sechster-staatenbericht -data.pdf. 5 Fünfter und Sechster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Februar 2019. 6 Committee on the Rights of the Child, Concluding observations on the combined third and fourth periodic reports of Germany CRC/C/DEU/CO/3-4, 31. Januar 2014, S. 2, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/89152/03e88ebde5534f4b17359ddfdd255082/14-kinderrechteausschuss-englischdata .pdf; vgl. auch: Kittel, Claudia, Drei Jahrzehnte UN-Kinderrechtskonvention, in: APUZ 20/2020, 8. Mai 2020, abrufbar unter: https://www.bpb.de/apuz/309085/drei-jahrzehnte-un-kinderrechtskonvention#footnode 37-37. 7 Vgl. dazu: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Kinderrechte ins Grundgesetz - Zum Gesetzentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz aus November 2019 und seiner Diskussion , WD 3-012/20, abrufbar unter https://www.bundestag.de/resource/blob/686886/b2af36983d73f4803cdfbfab 95e96e0a/WD-3-012-20-pdf-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 5 2. Kindeswohl nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention In der UN-KRK8 sind in Ergänzung zu den Allgemeinen Menschenrechten9 besondere Rechte für Kinder bis zu 18 Jahren enthalten. Mit Unterzeichnung und Ratifizierung der UN-KRK ist diese zu einem Teil der deutschen Rechtsordnung geworden und hat den Rang eines einfachen Bundesgesetzes .10 Zu den Grundprinzipien der UN-KRK zählt die Einhaltung des „Kindeswohls“ gemäß Art. 3 Abs. 1.11 Danach ist „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, (…) das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ In Art. 3 Abs. 2 UN-KRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, „dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten , die zu seinem Wohlergehen notwendig sind“. Eine Definition des Begriffs des Kindeswohls liefert der Vertragstext nicht. Im englischen Vertragstext heißt der Begriff, der im Deutschen mit „Kindeswohl“ übersetzt wird, "best interests of the child.“12 Dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes zufolge ist das Kindeswohl je nach den gesellschaftlichen Verhältnissen wandelbar.13 Weiter betont der Ausschuss, dass das Kindeswohl nur dann sachgerecht bestimmt werden könne, wenn das Kind als Person mit eigenen Positionen anerkannt und in Anlehnung an das Recht auf Mitsprache nach Art. 12 UN-KRK in Entscheidungen einbezogen werde.14 Das Kindeswohl ist demnach anpassungsfähig und individuell – je nach 8 UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989, A/RES/44/25. 9 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, UN-Menschenrechtshochkommissar , abrufbar unter: https://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger. 10 Vgl. dazu Wapler, Friederike, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland. Eine Untersuchung am Beispiel des Kindeswohlprinzips (Art. 3 Abs. 2 UN-KRK) und der Beteiligungsrechte (Art. 12 UN-KRK), in: Recht der Jugend und des Bildungswesens (RdJB), 3/2019, S. 252-273, abrufbar unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0034-1312-2019-3-252/umsetzung-und-anwendung-der-kinderrechtskonvention -in-deutschland-jahrgang-67-2019-heft-3. 11 Ausführlich dazu: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Zum Kindeswohl in Artikel 3 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention, WD 9-068/17, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/546736/223ceb4241f782eea38f8acec337e2d3/WD-9-068-17-pdf-data.pdf. 12 Zum Bedeutungsunterschied zwischen beiden Begriffen: Wapler, Friederike, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 253. 13 Kinderrechtsausschuss, General Comment No. 14 (Anm. 12), §§ 11, 32, 29. Mai 2013, S. 5: „The best interests of the child is a dynamic concept that encompasses various issues which are continuously evolving.“; Wapler, Friederike, Umsetzung und Anwendung der Kinderrechtskonvention in Deutschland, Eine Untersuchung am Beispiel des Kindeswohlprinzips (Art. 3 Abs. 2 UN-KRK) und der Beteiligungsrechte (Art. 12 UN-KRK), 2019, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens, Jahrgang 67 (2019), Heft 3, S. 252-273 (258). 14 Kinderrechtsausschuss, General Comment No. 14, 29. Mai 2013, S. 11, in einer deutschen Übersetzung abrufbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Sonstiges/GC_14_barrierefrei _2019-04-26.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 6 dem konkreten Einzelfall – unter Beachtung der besonderen Situation, des persönlichen Kontextes sowie der Bedürfnisse des jeweiligen Kindes zu bestimmen.15 Zur Bestimmung des Kindeswohls im Rahmen von Art. 3 UN-KRK müssten insbesondere auch die wachsenden Fähigkeiten und die sich wandelnden Bedürfnisse von Kindern berücksichtigt werden, da dem Kindeswohl eines Säuglings andere Maßnahmen zuträglich seien als dem Wohl eines Heranwachsenden. Um das Kindeswohl konkret bestimmen zu können, stellt die UN-KRK Leitlinien auf. Hierzu zählen unter anderem das Recht des Kindes auf Mitsprache nach Art. 12 UN-KRK, die soziale, kulturelle und persönliche Identität des Kindes im Sinne von Art. 8 und Art. 30 UN-KRK, das Recht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 24 UN-KRK sowie das Recht auf Erziehung und Ausbildung nach Art. 18 und Art. 28 UN-KRK.16 Ein wissenschaftlicher Beitrag von 2015 zum Thema „Kindeswohl“ greift den englischsprachigen Begriff „best interest of the child“ auf und definiert Kindeswohl als: Interesse, das Kinder als Personen ungeachtet ihres Alters haben; Interesse, das sie als Kinder haben, worunter vor allem das Interesse an einer lebenswerten Gegenwart zu verstehen ist; Interesse, das sie als zukünftige Erwachsene haben, wobei wiederum zwischen der Zukunft der Kinder und der der Gesellschaften, in denen die Kinder leben, zu unterscheiden sei.17 3. Kindeswohl nach Art. 24 der EU-Grundrechtecharta Auch Art. 24 Abs. 2 EU-GrCh regelt in Anlehnung an Art. 3 UN-KRK einen Vorrang des Kindeswohls . Art. 24 EU-GrCh bestimmt: „(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten , die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. (2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. (3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.“ 15 Kinderrechtsausschuss, General Comment No. 14, 29. Mai 2013, S. 9. 16 Schmahl, Stefanie, Kinderrechtskonvention, Handkommentar, 2. Auflage, 2017, Artikel 3, Rn. 11. 17 Masing, Vanessa, Das Konzept des besten Interesses des Kindes neu überdacht, in: Kinderreport Deutschland, 2015, S. 18 (24), abrufbar unter: https://www.dkhw.de/fileadmin/Redaktion/1.1_Startseite/3_Nachrichten/Kinderreport _2015/DKHW-kinderreport2015.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 7 Zentral für den Schutz und die Fürsorge ist auch nach der EU-Grundrechtecharta das Wohl des Kindes, wobei dieses weit auszulegen ist und insbesondere das materielle und gesundheitliche sowie soziale, wirtschaftliche und moralische Wohlergehen erfasst.18 Der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls wird allerdings konkretisiert durch die Berücksichtigung des individuellen Reifegrades des Kindes in Art. 24 Abs. 1 S. 3 EU-GrCh sowie durch den Bezug zu weiteren Rechten , wie etwa auf Bildung (Art. 14 EU-GrCh). Darüber hinaus ist das Kindeswohl im Rahmen des Schutzes der Jugendlichen am Arbeitsplatz zu berücksichtigen, wonach sicherzustellen ist, dass Jugendliche vor jeder Arbeit geschützt werden, die ihre Sicherheit, ihre Gesundheit und ihre Entwicklung beeinträchtigen könnten (Art. 32 Abs. 2 EU-GrCh).19 4. Kindeswohl im deutschen Recht Die umfassenden Regelungen zur Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII)20 basieren auf der Prämisse, dass jeder junge Mensch ein „Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ hat (§ 1 Abs. 1 SGB VIII). Anders als Art. 3 UN-KRK richtet sich das SGB VIII nicht nur an Minderjährige, sondern an „junge Menschen“, zu denen gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII alle gehören, die noch nicht 27 Jahre alt sind. Mit dem Inkrafttreten des SGB VIII im Jahr 1991 wurde eine Abwendung vom vorherigen Ansatz der öffentlich-rechtlichen Eingriffsmöglichkeiten hin zu einem Leistungsrecht vollzogen, das auf Beratung und Unterstützung der Familien gerichtet ist. Das Wächteramt des Staates wurde in diesen Ansatz über die zentrale Regelung des § 8a SGB VIII „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ eingebunden.21 Von besonderer Bedeutung ist das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)22, das am 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist. Sein Ziel ist es, „das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen und ihre körperliche, geistige und seelische Entwicklung zu fördern“ (§ 1 Abs. 1 KKG). Dabei tritt neben die Verantwortung der Eltern für die Pflege und Erziehung ihrer Kinder die Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft, die Eltern bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen, damit „im Einzelfall eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen vermieden oder, falls dies im Einzelfall nicht mehr möglich ist, eine weitere Gefährdung oder Schädigung abgewendet werden kann.“ (§ 1 Abs.3 Nr. 3 KKG). Etabliert 18 Thiele in: Pechstein/ Nowak/ Häde, Frankfurter Kommentar EUV/GRC/AEUV, 1. Auflage 2017, GRC Art. 24, Rechte des Kindes, Rn. 11-12, abrufbar unter: https://beck-online.beck.de/?vpath=bibdata%2Fkomm%2FPeNo- HaeFraKo_1_Band1%2FEUGRCharta2007%2Fcont%2FPeNoHaeFraKo%2EE- UGRCharta2007%2Ea24%2EglC%2EglII%2Egl1%2Ehtm. 19 Wapler, Friederike, Kinderrechte und Kindeswohl, 2015, S. 241. 20 September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Art. 16a Abs. 6 des Gesetzes vom 28. April 2020 (BGBl. I S. 960; vgl. z. B.: § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung), § 42 SGB VIII (Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen), § 44 SGB VIII (Erlaubnis zur Vollzeitpflege). 21 Coester, Michael, in: Staudingers Kommentar zum BGB, § 1666, Rn. 16. 22 Gesetz vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2975), zuletzt geändert durch Art. 20 Abs. 1 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3234). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 8 wurde dazu ein System „Früher Hilfen“23, um der Gefahr von Vernachlässigung oder Misshandlung zeitnah entgegenwirken zu können. Von Bedeutung ist insbesondere § 4 KKG, der die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger – darunter Ärztinnen und Ärzte, Lehrerinnen und Lehrer, Psychologinnen und Psychologen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Beratungsstellen – regelt und diesen Personen die Befugnis einräumt, bei Anzeichen von Kindeswohlgefährdung dem Jugendamt entsprechende Daten zu übermitteln. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)24 werde das „Kindeswohl“ als das „zentrale Schutzgut des § 1666 und Richtpunkt für die Ausübung des staatlichen Wächteramtes und Eingriff in die elterliche Sorge“ verstanden.25 Die Bestimmung des § 1666 gebe Hinweise auf das Begriffsverständnis des Kindeswohls: Eine Kindeswohlgefährdung liege dann vor, „wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.“26 Das Kindeswohl sei nach dieser Bestimmung der zentrale Anknüpfungspunkt für die Definition der staatlichen Eingriffsschwelle in das elterliche Sorgeprimat und Entscheidungsmaßstab für die familiengerichtliche Auswahl notwendiger Kinderschutzmaßnahmen. Das Kindeswohl stellt in einer Vielzahl von Regelungen des deutschen Familienrechts27 einen relevanten Entscheidungsmaßstab für den jeweiligen Einzelfall dar.28 So legt etwa das Kindeswohlprinzip nach § 1697a BGB für familienrechtliche Entscheidungen fest, dass das Gericht in Verfahren , die die elterliche Sorge betreffen, diejenige Entscheidung zu treffen hat, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Das Wohl des Kindes ist Schutzgegenstand, weil das Kind zu einer Selbstbestimmung seiner Interessen rechtlich nicht in der Lage ist. Mit fortschreitendem Alter von zunehmender Bedeutung ist 23 Nähere Informationen dazu unter https://www.fruehehilfen.de/. 24 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19. März 2020 (BGBl. I S. 541). 25 Coester, Michael, in: Staudingers Kommentar zum BGB, § 1666, Rn. 65. Vgl. dazu auch: Oldenburger, Marko, Kindeswohl im Recht: Begründung, Ausgestaltung und Verlust der elterlichen Sorge, Göttingen 2018. 26 Coester, Michael, in: Staudingers Kommentar zum BGB, § 1666, Rn. 65. 27 Vgl. z. B.: § 1627 BGB (Ausübung der elterlichen Sorge), § 1626 Abs. 3 BGB (Umgang mit beiden Elternteilen als Bestandteil des Kindeswohls), § 1696 BGB (Abänderung gerichtlicher Entscheidungen im Umgangs- und Sorgerecht ), § 1741 Abs. 1 BGB (Annahme Minderjähriger als Kind), § 1684 BGB (Umgang des Kindes mit den Eltern ), § 1686 BGB (Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Kindes), § 1688 BGB (Entscheidungsbefugnisse der Pflegeperson). 28 Hilbig-Lugani, Katharina, in: Münchner Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, BGB, § 1697a, Rn. 1 u. 2; Coester , Michael, Kindeswohlgefährdung: Anforderungen an die Gefährdung aus juristischer Sicht, in: Neue Zeitschrift für Familienrecht, 2016, S. 577 (579). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 039/20 Seite 9 aber auch der Wille des Kindes: Wo es um die Wahrung seiner Grundrechte und seiner Entwicklung zu einer selbstständigen, eigenverantwortlichen Persönlichkeit geht, ist der subjektive Wille des Kindes bei der Konkretisierung seines Wohls angemessen mit zu berücksichtigen.29 Zur Bestimmung des Kindeswohls gibt § 1697a BGB Abwägungskriterien vor. Wichtige Gesichtspunkte des Kindeswohls sind die Bindungen des Kindes, der Grundsatz von Förderung und Kontinuität , die Erziehungseignung der Eltern sowie der Kindeswille. Diese Bestandteile müssen dabei nicht kumulativ vorliegen; für die Beurteilung, was dem Kindeswohl konkret entspricht, können die Kriterien im Einzelfall als mehr oder weniger bedeutsam gewichtet werden.30 Ein Kompendium der Landesregierung Nordrhein-Westfalen zum Thema „Kinderschutz und Kinderrechte “31 weist darauf hin, dass diese Offenheit bewusst und gewollt sei: Wären Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung klar definiert, bestünde die Gefahr, dass diese Definition bestimmte Formen oder Aspekte nicht berücksichtige – weil sie noch nicht bekannt oder vorstellbar seien oder weil sie in der Fülle der Möglichkeiten untergegangen seien. Weiter heißt es dort: „Zum anderen wird mit einer klaren Definition immer auch ein Raum jenseits dieser Definition geschaffen . Wenn festgeschrieben ist, was Kindeswohlgefährdung ist, ist damit auch festgeschrieben, was keine Kindeswohlgefährdung ist, nämlich alles, was die Definition nicht umfasst. Da dies nicht gewollt ist, müssen die Begriffe Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung unbestimmt bleiben.“32 *** 29 Coester, Michael, in: Staudingers Kommentar zum BGB, § 1666, Rn. 74. 30 BGH, Beschluss vom 15. Juni 2016 – XII ZB 419/15, Kindeswohlprüfung bei Entscheidung über die Übertragung der gemeinsamen Sorge, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2016, S. 2497, Rn. 20; vgl. auch: Schickhardt , Christoph, Der Begriff des Kindeswohls in der Moral, in: Drerup, Johannes/ Schickhardt, Christoph, Kinderethik , 2017, S. 63 (82). 31 Kinderschutz und Kinderrechte. Arbeitshilfe Kindeswohlgefährdung für Fachkräfte im Kinderschutz unter besonderer Berücksichtigung der Kinderrechte, hrsg. vom Deutschen Kinderschutzbund Landesverband Nordrhein -Westfalen, 1. Auflage August 2019, abrufbar unter https://www.kinderschutzbundnrw .de/pdf/DKSB_Kinderschutz_und_Kinderrechte.pdf. 32 Kinderschutz und Kinderrechte. Arbeitshilfe Kindeswohlgefährdung für Fachkräfte im Kinderschutz unter besonderer Berücksichtigung der Kinderrechte, hrsg. vom Deutschen Kinderschutzbund Landesverband Nordrhein -Westfalen, 1. Auflage August 2019, S. 10, abrufbar unter https://www.kinderschutzbundnrw .de/pdf/DKSB_Kinderschutz_und_Kinderrechte.pdf.