© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 035/21 Zur Diskussion über den Ausbau der Pflegeversicherung als Vollversicherung Aktuelle Beiträge Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 035/21 Seite 2 Zur Diskussion über den Ausbau der Pflegeversicherung als Vollversicherung Aktuelle Beiträge Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 035/21 Abschluss der Arbeit: 14. Mai 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 035/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Parlamentarische Abläufe 6 3. Beiträge zur Diskussion 6 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 035/21 Seite 4 1. Vorbemerkung Die Pflegeversicherung deckt derzeit nur einen Teil der Kosten bei Pflegebedürftigkeit ab. Die immer weiter steigenden Zuzahlungen stellen für viele pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen ein erhebliches Armutsrisiko dar. Im Bundesdurchschnitt tragen Pflegebedürftige im Monat 2.068 Euro als Selbstbehalt.1 Die Anzahl der Leistungsbezieher in der Hilfe zur Pflege nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)2 steigt seit 2009, unterbrochen nur in den Jahren 2016 und 2017, an.3 387.156 Menschen bezogen im Laufe des Jahres 2019 pflegebedingte Sozialhilfe .4 Bezüglich des bestehenden Reformbedarfs in der Sozialen Pflegeversicherung sind sich Politiker und Interessenvertreter überwiegend einig. Uneinigkeit herrscht hingegen bei der Frage nach der Ausgestaltung der Reformmaßnahmen. Die Vorschläge reichen dabei vom sog. Sockel- Spitze-Tausch5 zu einer Bürgerversicherung, in der alle Bürger – auch privat versicherte Beamte, Selbständige und Besserverdienende – einzahlen, über eine Vollversicherung bis hin zu einer, die beiden Modelle vereinenden Pflegebürgervollversicherung.6 Befürwortet wird ein Ausbau der Pflegeversicherung zur Vollversicherung unter anderem durch den Sozialverband VdK Deutschland ,7 den Deutschen Gewerkschaftsbund,8 die Diakonie Deutschland,9 den Deutschen Verein für 1 Vgl. DIE LINKE. Rheinland-Pfalz, Für eine solidarische Pflegevollversicherung, Pressemitteilung vom 10. Mai 2021, abrufbar unter: https://www.openpr.de/news/1210292/Fuer-eine-solidarische-Pflegevollversicherung .html. Dieser und alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 14. Mai 2021. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch, Artikel 1 des Gesetzes vom 27. Dezember 2003, BGBl. I S. 3022, zuletzt geändert am 10. März 2021, BGBl. I S. 335. 3 Antrag der Fraktion DIE LINKE., Solidarische Pflegevollversicherung umsetzen, 18. November 2020, BT-Drucksache 19/24448, S. 1. 4 Vgl. Destatis, Sozialhilfe, Hilfe zur Pflege nach Bundesländern, abrufbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen /Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Sozialhilfe/Tabellen/liste-empfaenger-bl-hilfe-pflege.html. 5 Ausführlich Pro Pflegereform, Initiative zur Reform der Pflegeversicherung, Wie kann man die Eigenanteile begrenzen ? Abrufbar unter: https://www.pro-pflegereform.de/die-reform/. 6 Vgl. Nakielski, Hans, Systemwechsel zur Pflegebürgervollversicherung, Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales 2019, Heft 11, S. 393. 7 Sozialverband VdK Deutschland, Presse-Statement, "Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die sämtliche Pflege-Kosten abdeckt", 16. Oktober 2019, abrufbar unter: https://www.vdk.de/deutschland/pages /presse/presse-statement/77886/vdk_wir_brauchen_eine_pflegevollversicherung_die_die_pflege-kosten_abdeckt . 8 Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB), eine Pflegebürgervollversicherung ist finanzierbar, Pressemitteilung 064, 27. September 2019, abrufbar unter: https://www.dgb.de/presse/++co++b23d7422-e0fd-11e9-b36c- 52540088cada; Siehe auch das Eckpunktepapier des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 29. August 2019, Eckpunkte zur solidarischen Weiterentwicklung der Sozialen Pflegeversicherung. Die Position des DGB erläuternd Frank, Marco, Solidarische Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, Position der DGB-Gewerkschaften, Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales 2019, Heft 11, S. 407. 9 Diakonie Deutschland, Diakonie Texte, Positionspapier Juni 2019, Konzept für eine grundlegende Pflegereform, Pflegevollversicherung mit begrenzter Eigenbeteiligung der Versicherten, abrufbar unter: https://www.diakonie .de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Diakonie-Texte_PDF/06_2019_Grundlegende_Pflegereform.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 035/21 Seite 5 öffentliche und private Fürsorge e. V.,10 den Paritätischen Gesamtverband11 und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege.12 Auch der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung kündigte zum Internationalen Tag der Pflegenden am 12. Mai 2021 an, in der kommenden Woche konkrete Vorschläge zu Veränderungen im Pflegesystem vorzulegen.13 Ein Vorschlag, die Pflegevollversicherung mit einer Opt-In-Option (Vollversicherung nur nach Wunsch des Versicherten ) auszugestalten und alternativ den bestehenden Teil-Versicherungsschutz beizubehalten , liegt bislang offenbar noch nicht vor. In einem Reformvorschlag des Instituts der Deutschen Wirtschaft, die bestehende gesetzliche Pflegeversicherung mit einer Absicherung der Eigenanteile für die pflegebedingten Aufwendungen zu verbinden (sog. Eigenanteilsversicherung), wurde diskutiert , im Ergebnis aber offen gelassen, ob eine solche verbindlich eingeführt werden oder als Opt-Out-Variante freiwillig verbleiben soll.14 Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) legte im November 2020 die Eckpunkte zur geplanten Pflegereform vor. Danach sollen die Löhne für Pflegekräfte erhöht, Leistungen für die Pflege zu Hause verbessert und die Pflegekosten für Heimbewohner gedeckelt werden.15 Ein im März 2021 veröffentlichter Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Reform der Pflegeversicherung sieht nunmehr statt einer Deckelung, einen prozentualen Leistungszuschuss zum pflegebedingten 10 Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V., Positionen und Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Weiterentwicklung und nachhaltigen Finanzierung der Pflege vom 24. November 2020, abrufbar unter: https://www.deutscher-verein.de/de/uploads/empfehlungen-stellungnahmen/2020/dv-03-20-pflegefinanzierung .pdf. 11 Stilling, Gwendolyn, Zum Tag der Pflege: Paritätischer fordert von Großer Koalition überzeugende Pflegereform noch in dieser Legislaturperiode, Pressemeldung vom 11. Mai 2021, abrufbar unter: https://www.der-paritaetische .de/presse/zum-tag-der-pflege-paritaetischer-fordert-von-grosser-koalition-ueberzeugende-pflegereformnoch -in-die/; Hagelskamp, Joachim/ Mittag, Thorsten, Der Paritätische Gesamtverband, Der Weg zur Vollversicherung in der Pflege, 14. November 2019, abrufbar unter: http://infothek.paritaet.org/pid/fachinfos .nsf/0/2a1dba6c9c979ea5c12584be003dc5e8/$FILE/2019_11_14_Paritaetische_Position_Pflegevollversicherung .pdf. 12 Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Wahlen zum Deutschen Bundestag 2021, Erwartungen der Freien Wohlfahrtspflege an die 20. Legislaturperiode vom 5. Mai 2021, insb. S. 19, abrufbar unter: https://www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Publikationen/Forderungspapiere _2021/BAGFW-Forderungen_BT-Wahl2021.pdf. 13 Vgl. Riedel, Alexander, Domradio, Forderungen nach Reformen zum Tag der Pflegenden, Noch viel Luft nach oben, 12. Mai 2021, abrufbar unter: https://www.domradio.de/themen/soziales/2021-05-12/noch-viel-luft-nachoben -forderungen-nach-reformen-zum-tag-der-pflegenden. 14 Vgl. Kochskämper, Susanna et al., Zwei-Säulen-Strategie in der Pflegefinanzierung: Einführung einer Eigenanteilsversicherung , Institut der Deutschen Wirtschaft, IW-Policy Paper 12/19, 20. November 2019, abrufbar unter: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-policy-papers/beitrag/susanna-kochskaemper-einfuehrung-einer-eigenanteilsversicherung .html. 15 BMG, Pflegeversicherung neu denken: Eckpunkte der Pflegereform 2021, 4. November 2020, abrufbar unter: http://infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/0/ff68a959fe3e4a5fc125861d00416dda/$FILE/Eckpunktepapier %20Pflegereform.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 035/21 Seite 6 Eigenanteil vor.16 Diese geplante Regelung wurde über Änderungsanträge zu dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) in die derzeit laufende parlamentarische Beratung eingebracht.17 Ein Sachstand der Wissenschaftlichen Dienste im Deutschen Bundestag vom 22. Mai 2019 beschäftigte sich ausführlich mit der Diskussion zur Pflegevollversicherung. Diese Arbeit gibt einen Überblick über die seit Mai 2019 veröffentlichten Beiträge zu dem Thema. 2. Parlamentarische Abläufe Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat am 10. März 2021 im Bundesrat einen Antrag auf Entschließung des Bundesrates zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung gestellt. Der Antrag greift die vom BMG geplante Pflegereform auf (s. o.) und fordert die Bundesregierung auf, die Länder intensiv in die Erarbeitung der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung einzubeziehen und dafür ein ständiges, gemeinsames Arbeitsgremium zu bilden: Antrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Entschließung des Bundesrates zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, 10. März 2021, BR-Drucksache 210/21. Ein Antrag mehrerer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. vom 18. November 2020 sieht insbesondere vor, die Bundesregierung aufzufordern, Gesetzesvorschläge vorzulegen, die bis zum Ende der Wahlperiode einen Zeitplan für die Einführung einer Solidarischen Pflegevollversicherung ab 2025 festlegen. Der Antrag beinhaltet zudem Vorgaben zur Ausgestaltung der Pflegevollversicherung . Danach sollen alle pflegenotwendigen Kosten durch die Soziale Pflegeversicherung getragen werden. Sie soll solidarisch ausgestaltet sein, die gesamte Bevölkerung integrieren und alle Einkommensarten, auch Kapitalerträge, umfassen: Antrag der Fraktion DIE LINKE., Solidarische Pflegevollversicherung umsetzen, 18. November 2020, BT-Drucksache 19/24448. 3. Beiträge zur Diskussion Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung berechnet die Beitragssatz- und Verteilungseffekte unterschiedlicher Reformvarianten der Sozialen Pflegeversicherung. Hauptgegenstand dieser Studie ist eine Pflegebürgervollversicherung, die sich als Kombination einer Vollversicherung (auf der Leistungsseite ) und einer Bürgerversicherung (auf der Finanzierungsseite) ergibt. Für eine derartige Pflegebürgervollversicherung wird berechnet, welcher Beitragssatz zum Umstellungszeitpunkt zum Budgetausgleich notwendig ist und wie sich dieser Beitragssatz vom Status quo sowie von 16 Arbeitsentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Pflegeversicherung, Bearbeitungsstand 15. März 2021, abrufbar unter: https://cdn.website-editor.net/2a8099d6fc5d438dbea2d8d459a6e741/files/uploaded/Arbeitsentwurf %2520Pflegereform_Stand%2520150321.pdf. 17 BMG, Änderungsanträge zum GVWG, Stand 3. Mai 2021, Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz – GVWG), Formulierungshilfen für Änderungsanträge (noch nicht ressortabgestimmt), abrufbar unter: https://cdn.website-editor .net/2a8099d6fc5d438dbea2d8d459a6e741/files/uploaded /210503_%25C3%2584A_GVWG_Art.%25202_SGB%2520XI.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 035/21 Seite 7 einer reinen Bürgerversicherung (ohne Vollversicherung) und einer reinen Vollversicherung (ohne Bürgerversicherung) unterscheidet. Die Effekte einer Pflegebürgervollversicherung werden nicht nur zum hypothetischen Umstellungszeitpunkt im Jahr 2017 ermittelt, sondern auch bis zum Jahr 2060 vorausberechnet: Rothgang, Heinz/ Domhoff, Dominik, Die Pflegebürgerversicherung als Vollversicherung, Beitragssatz - und Verteilungseffekte bei Umwandlung der Pflegeversicherung in eine Bürgerversicherung mit Vollversicherung, Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung . Nr. 150, September 2019, abrufbar unter: https://www.boeckler.de/de/faust-detail .htm?sync_id=HBS-007293. In zwei Beiträgen der Zeitschrift Soziale Sicherheit von November 2019 werden die Ergebnisse der genannten Studie von deren Autoren Rothgang und Domhoff vorgestellt und diskutiert: Rothgang, Heinz/ Domhoff, Dominik, Pflegeversicherung als Lösungsmöglichkeit, Wie sich die Beiträge bei einer Bürgervollversicherung entwickeln würden, Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales 2019, Heft 11, S. 396; Rothgang, Heinz/ Domhoff, Dominik, Verteilungswirkungen bei Einführung einer Pflegebürger (voll)versicherung, Wer zahlt wie viel mehr (oder weniger), Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales 2019, Heft 11, S. 402. In dem Beitrag des Instituts der Deutschen Wirtschaft zur Einführung einer Eigenanteilsversicherung werden unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten untersucht, darunter auch die Frage, ob es denkbar sei. die Versicherungspflicht einerseits auszuweiten, dies aber mit sogenannten Opt- Out-Angeboten zu verbinden. Dazu wird auf die Praxis im Vereinigten Königreich verwiesen, die dies bei der betrieblichen Altersvorsorge vorsehen würde. Dies sei eine denkbare Alternative bzw. Zwischenlösung zur Deckelung der Eigenanteile oder Einführung einer Vollversicherung. Kochskämper, Susanna et al., Zwei-Säulen-Strategie in der Pflegefinanzierung: Einführung einer Eigenanteilsversicherung, Institut der Deutschen Wirtschaft, IW-Policy Paper 12/19, 20. November 2019, abrufbar unter: https://www.iwkoeln.de/studien/iw-policy-papers/beitrag/susannakochskaemper -einfuehrung-einer-eigenanteilsversicherung.html (S. 18ff.). ***