© 2019 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 035/19 Pflegevollversicherung Zur Diskussion in Deutschland und zur Situation in einigen ausgewählten Ländern Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 2 Pflegevollversicherung Zur Diskussion in Deutschland und zur Situation in einigen ausgewählten Ländern Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 035/19 Abschluss der Arbeit: 22. Mai 2019 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Diskussion über eine Pflegevollversicherung in Deutschland 5 3. Zur Pflegeversicherung in Luxemburg 10 4. Zur Pflegevorsorge in den Ländern Dänemark, Norwegen und Schweden 11 5. Zur Pflegevorsorge in ausgewählten Nachbarländern Deutschlands 13 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 4 1. Einleitung Die im Elften Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)1 geregelten Leistungen sind – anders als in der gesetzlichen Krankenversicherung, die als Vollversicherung ausgestaltet ist und damit in der Regel den gesamten Bedarf an Leistungen abdeckt – nach Pflegegraden gestaffelt und wertmäßig begrenzt.2 Da die soziale Pflegeversicherung (SPV) die Kosten, die durch Pflegebedürftigkeit entstehen, also nur bis zu einer bestimmten Obergrenze übernimmt, wird sie auch als Teilleistungssystem bezeichnet. Die übrigen Kosten tragen die Pflegebedürftigen oder ihre Familien selbst.3 Die finanziellen Belastungen sind dabei für viele Pflegebedürftige so hoch, dass unter Umständen die Hilfe zur Pflege als Teil der Sozialhilfe zur Unterstützung einkommensschwacher und nicht vermögender Pflegebedürftiger in Anspruch genommen werden muss. Daher wird bisweilen die Umwandlung von einer Teilleistungsversicherung in eine Vollversicherung diskutiert. So wurde mit einem im Jahr 2016 in den Bundestag eingebrachten und in der Folge abgelehnten Antrag gefordert, die Pflegevollversicherung einzuführen.4 Im Rahmen einer im Juni 2018 erfolgten öffentlichen Anhörung zu einem weiteren Antrag5, Eigenanteile in Pflegeheimen senken – Menschen mit Pflegebedarf finanziell entlasten6, befürworteten einzelne 1 Das Elfte Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung – (Artikel 1 des Gesetzes vom 26. Mai 1994, BGBl. I S. 1014, 1015), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 17. Dezember 2018 (BGBl. I S. 2587) geändert worden ist. 2 Vgl. hierzu § 4 Absatz 2 Satz 1, wonach die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung ergänzen. § 37Absatz 1 SGB XI z. B. umfasst die Pauschalbeträge für selbst beschaffte Pflegehilfen und § 43 Absatz 2 SGB XI die Pauschalbeträge bei vollstationärer Unterbringung . 3 Um den Eigenanteil an den Kosten, die durch Pflegebedürftigkeit entstehen, zu senken, hat der Gesetzgeber mit Wirkung zum Jahr 2013 die §§ 126 ff. in das SGB XI eingefügt; vgl. hierzu Gesetz zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung (Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz – PNG), BGBl I 2012, S. 2246. Danach wird eine freiwillige private Pflege-Zusatzversicherung mit einer Pflegevorsorgezulage von 60 Euro jährlich bei einem Mindest-Eigenbeitrag in Höhe von 120 Euro gefördert. 4 Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE., Pflege teilhabeorientiert und wohnortnah gestalten, Bundestags-Drucksache 18/8725 vom 8. Juni 2016, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/087/1808725.pdf (dieser Link sowie alle weiteren Links wurden zuletzt am 22. Mai 2019 abgerufen). Zur Ablehnung des Antrags vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss), Bundestags- Drucksache 18/10510 vom 30. November 2016, S 3, abrufbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/105/1810510.pdf. 5 Der Antrag wurde den zuständigen Ausschüssen am 1. März 2018 überwiesen, Vorgangsablauf abrufbar unter: http://sysinfo.bundestag.btg:8888/infonutzer/faces/kk?kurzname=pd1&drs=19%2F960&_adf.ctrlstate =p8bdahy3m_3. 6 Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE., Eigenanteile in Pflegeheimen senken – Menschen mit Pflegebedarf finanziell entlasten, Bundestags-Drucksache vom 27. Februar 2018, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/009/1900960.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 5 Sachverständige zur Entlastung der Pflegehaushalte die Einführung einer Pflegevollversicherung 7, während andere sie aus finanziellen Gründen ablehnten.8 Auch auf Landesebene wird eine Bundesratsinitiative gefordert mit dem Ziel, die SPV in eine Pflegevollversicherung umzuwandeln .9 Der vorliegende Sachstand beschäftigt sich mit der Diskussion über eine Pflegevollversicherung in Deutschland und geht anschließend auf das Land Luxemburg mit einer quasi Vollversicherung ein. Auch die Pflegevorsorge in den skandinavischen Ländern Dänemark, Norwegen und Schweden wird vorgestellt. Abschließend wird kurz auf einige Nachbarländer Deutschlands eingegangen , die allesamt Eigenleistungen vorsehen und keine Vollversicherung anbieten. 2. Zur Diskussion über eine Pflegevollversicherung in Deutschland Bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 8. Mai 2019 zu drei Anträgen10, die sich mit der Finanzierungssituation der Pflegeversicherung und dem Verhältnis von SPV und privater Pflegeversicherung befassen, äußerten sich Sachverständige zum Teil auch zur Einführung einer Pflegevollversicherung. Befürwortet wird eine sol- 7 Stellungnahme der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di zur Öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am Montag, 4. Juni 2018, S. 5, abrufbar unter: https://www.bundestag .de/resource/blob/557774/593a2f48da7983e30a6910c5ac4f8f58/19_14_0014-5neu-_ver-di_Eigenanteiledata .pdf. Ver.di forderte, die Eigenanteile schrittweise zu senken. Der Sozialverband VdK Deutschland e. V. befürwortete einen steuerfinanzierten Bundesanteil einzurichten, Stellungnahme VdK, S. 4, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/557770/a054b9efcb49b05bd85fcc9e1dd654d3/19_14_0014-14- _VdK_Eigenanteile-data.pdf. Auch die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA-Pflegeschutzbund) e.V. begrüßte eine Deckelung der Eigenanteile, Stellungnahme der BIVA, S. 6, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/557326/00b446a20db3cf3338fcbecd26d2ca19/19_14_0014- 6-_BIVA_Eigenanteile-data.pdf. 8 BDA, Pflegeversicherung muss Teilkostendeckung bleiben, Stellungnahme zum Antrag "Eigenanteile in Pflegeheimen senken – Menschen mit Pflegebedarf finanziell entlasten", abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/557460/d7f9d5876b9d037d108fd59bf17b9240/19_14_0014-11neu-_BDA_Eigenanteile-data.pdf; Kochskämper, Susanna, Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, Stellungnahme, Eigenanteile in Pflegeheimen senken - Menschen mit Pflegebedarf finanziell entlasten, S. 10 f., abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/557728/2dc52dec8b5ec44791b5b05112360586/19_14_0014-8-_ESV-Dr-Kochskaemper_Eigenanteile -data.pdf. 9 Landtag von Sachsen-Anhalt, Antrag Fraktion DIE LINKE., Gesetzliche Pflegeversicherung zur Pflegevollversicherung umwandeln, Drucksache 7/2516 vom 28. Februar 2018, abrufbar unter: https://www.landtag.sachsenanhalt .de/fileadmin/files/drs/wp7/drs/d2516dan.pdf. 10 Antrag der Abgeordneten Nicole Westig sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP, Mehr Transparenz in der Pflege-Debatte – Finanzierung der Pflege generationengerecht sichern, Bundestags-Drucksache 19/7691 vom 12. Februar 2019. Gefordert wird, die Elemente der privaten Pflegevorsorge durch zahlreiche Maßnahmen zu stärken. Der Antrag der Abgeordneten Pia Zimmermann sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. Zwei-Klassen-System in der Pflegeversicherung beenden, Bundestags-Drucksache 19/7480 vom 31. Januar 2019 sowie der Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche sowie weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Pflege gerecht und stabil finanzieren – Die Pflege-Bürgerversicherung vollenden, Bundestags-Drucksache 19/8561 vom 20. März 2019 fordern einen vollständigen Finanzausgleich zwischen der privaten und der gesetzlichen Pflegeversicherung. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern darüber hinaus die Pflege-Bürgerversicherung zu vollenden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 6 che Pflegevollversicherung vom Sozialverband Deutschland (SoVD), dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG Selbsthilfe).11 Die steigenden Eigenanteile für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen seien nicht weiter hinnehmbar. Das bestehende System, in dem die Hauptlast den pflegenden Angehörigen obliege, trage dazu bei, dass diese Angehörigen oftmals psychisch, physisch und finanziell überlastet seien.12 Dagegen lehnt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) aus Gründen der Finanzierbarkeit eine solche Vollversicherung ab. Insbesondere wohlhabende Pflegebedürftige würden durch die Finanzierung ihrer Wohn- und Verpflegungskosten bessergestellt. Der Verband plädiert alternativ für eine ergänzende kapitalgedeckte Risikovorsorge, um die Finanzierbarkeit der Pflege langfristig zu sichern.13 Ähnlich sieht dies der Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV).14 Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa) befürchtet eine massive Ausweitung an Leistungen, wenn Pflegebedürftige für ein Mehr an Leistungen nicht mehr zahlen müssten. Auch würde den Pflegebedürftigen im ambulanten Bereich die Wahlfreiheit entzogen, da letztlich der Anspruch auf die von den Pflegekassen spezifisch genehmigten Leistungen bestünde. Der bürokratische Aufwand für eine solche individuelle Leistungsbedarfsermittlung sei zudem immens.15 Aus Sicht des Forschungs- und Beratungsinstituts für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen (IGES Institut GmbH) ist eine Vollversicherung unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten abzulehnen, da 11 Stellungnahme des SoVD anlässlich der öffentlichen Anhörung durch den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 8. Mai 2019 zu den Vorlagen, S. 3, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/639874/4e8a7966e244b9bdaf77f0fa8299dd7e/19_14_0074-7-_SoVD_Pflegeversicherung-data.pdf; Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu den Anträgen, S. 4 und 6, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/640224/3569f6dc99eb877fbf69812a466ad4d0/19_14_0074-12-_DGB_Pflegeversicherung-data.pdf;; Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) zur Anhörung „Pflegeversicherung “ des BT-Ausschusses für Gesundheit am 08.05.2019, S. 6 und 8, abrufbar unter: https://www.bundestag .de/resource/blob/640538/f79aba5bef7bc2b0ca7b3a99604f7e84/19_14_0074-15-_BAGFW_Pflegeversicherungdata .pdf; Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V. (BAG SELBSTHILFE), S. 2, abrufbar unter: https://www.bundestag .de/resource/blob/639770/4e47b6a47c84b323d5da9d11bbd55430/19_14_0074-4-_BAG-SELBST- HILFE_Pflegeversicherung-data.pdf. 12 Stellungnahme des SoVD anlässlich der öffentlichen Anhörung durch den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 8. Mai 2019 zu den Vorlagen, 2019, S. 3. 13 BDA, Nachhaltige Finanzierung der Pflegeversicherung gewährleisten, S. 1 und 2, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/640432/d4eef7ec95f0dfbf36e5757575dd55f4/19_14_0074-14- _BDA_Pflegeversicherung-data.pdf. 14 PKV, Stellungnahme anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestages am 8. Mai 2019 in Berlin, S. 6, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/639974/bb1883076a4a216ebfedff05c7ba376b/19_14_0074-10-_PKV_Pflegeversicherung-data.pdf. 15 Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. (bpa), Stellungnahme, S. 5 und 6, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/639532/ee9998c76d906e88ab03f9743c448701/19_14_0074-1- _bpa_Pflegeversicherung-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 7 sie das (vererbbare) Vermögen auch durch Beitragszahlungen von Geringverdienern schütze. Zudem sei eine solche „Schonversicherung“ international ohne Beispiel.16 In dem Beitrag „Wege und Irrwege in die Pflegevollversicherung“ aus dem Jahr 2018 wird mit Blick auf Demografie, Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit für eine individuelle Pflegevollversicherung über eine private Pflegezusatzversicherung geworben. Schon aufgrund des demografischen Wandels und dem dadurch bedingten erheblichen Rückgang von erwerbstätigen Beitragszahlern bei gleichzeitig dramatischer Zunahme der Anzahl Pflegebedürftiger sei in der SPV bis zum Jahr 2060 mit einem mehr als doppelt so hohen Beitragssatz wie heute zu rechnen. Allein dies lasse die Verschuldung zu Lasten jüngerer Generationen erkennen. Gerade die Abdeckung des Pflegerisikos sei besonders gut für das Kapitaldeckungsverfahren, das den privaten Versicherungen zugrunde liege, geeignet. Belegt werde dies durch einen Vergleich der Entwicklung des Durchschnittsbeitrages. Während der Durchschnittsbeitrag in der privaten Pflegeversicherung (PPV) zunächst mehr als doppelt so hoch wie der Beitrag in der umlagefinanzierten SPV gewesen sei, habe er erstmals im Jahr 2012 unter dem Beitrag in der SPV gelegen. Kapitaldeckung mit Bildung von Altersrückstellungen sei kurzfristig teurer als die Umlage, aber langfristig günstiger und generationengerechter.17 In einem im Jahr 2017 veröffentlichten und von der Initiative Pro-Pflegereform beauftragten Gutachten „Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung – Abbau der Sektorengrenzen und bedarfsgerechte Leistungsstruktur“ wird die Umwandlung der SPV zu einer Pflegevollversicherung mit einem Eigenanteil gefordert, um so die Pflege für alle Bedürftigen bezahlbar zu machen. Auf der Basis des Zweiten Szenarios des Gutachtens wird die Umkehr des Verhältnisses von Finanzierungssockel (Versicherungsleistungen) und Finanzierungsspitze (Eigenanteil) vorgeschlagen. Dabei sei der Eigenanteil als grundsätzlich für alle Pflegebedürftigen einheitlicher Betrag auszugestalten und zur vollständigen Absicherung des Pflegerisikos zusätzlich zeitlich zu begrenzen. Darüber hinausgehende Kosten (bis zu einem gedeckelten Höchstbetrag) würden von der Pflegekasse übernommen. So werde der Eigenanteil kalkulierbar, könne abgesichert werden und mindere damit das Risiko der Altersarmut. Die Höhe des Sockelbetrags sowie seine Zahlungsdauer müssten Gegenstand politischer Festlegungen sein. Bei einer Karenzzeit bis zur vollen Kostenübernahme durch die Pflegeversicherung von beispielsweise vier Jahren ergebe sich – ausgehend von einem durchschnittlichen Eigenanteil im Jahr 2017 in Höhe von monatlich 248 Euro und in der Gesamtpflegezeit von 13.500 Euro – ein monatlich aufzubringender Sockelbetrag von rund 388 Euro, bei einer Laufzeit von drei Jahren einer von rund 470 Euro. Entscheidend sei, dass sowohl die absolute Höhe des maximalen Eigenanteils, als auch der monatlich zu entrichtende Sockelbetrag sehr stabil festgeschrieben würden. Ein dynamisches Element könne nur im Sinne eines Inflationsausgleichs eingebaut werden. Eine flexible Anpassung etwa an die Ausgabenhöhen 16 Albrecht, Martin, IGES Institut GmbH, Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Ausschusses für Gesundheit , S. 5, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/640688/01cf5034cf03cada3f596fee2f416bba/19_14_0074-16-_ESV-Dr-Albrecht_Pflegeversicherungdata .pdf. 17 Genett, Timm, Wege und Irrwege in die Pflegevollversicherung in: Gesellschaftspolitische Kommentare (gpk) Nr. 8-9-10/2018, S. 12, abrufbar unter: https://www.pkv.de/w/files/politik/debatte/gpk-8-9-10-2018_genett _wege-und-irrwege-in-die-pflegevollversicherung.pdf. Der Autor ist tätig im Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV-Verband). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 8 der Pflegeversicherung würde dagegen die Planbarkeit und Versicherbarkeit wieder aufheben. Im Falle einer sofortigen Vollversicherung oder im Falle einer Erhöhung des Leistungsniveaus sei zur Gegenfinanzierung ein Beitragssatzanstieg von rund 0,7 Beitragssatzpunkten notwendig. Der Befürchtung einer nicht steuerbaren Leistungsausweitung durch den Wegfall des Eigeninteresses der Pflegebedürftigen und ihrer Familien, die Ausgaben zu begrenzen, könne mit einer gesetzlichen Begrenzung der bedarfsnotwendigen Leistungen im ambulanten Bereich oder mit Hilfe einer individuellen verbindlichen Leistungszuordnung im Rahmen einer Pflegeplanung wirksam begegnet werden.18 Im Zusammenhang mit einem in eine ähnliche Richtung gehenden Gutachten zur Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung19 (Bürgerversicherung), das den Wegfall der Zuzahlungen in der SPV favorisiert, äußerte sich der Einzelsachverständige Bahnsen bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages im Juni 2018 kritisch: „Den Berechnungen von Rothgang und Domhoff (2017) zufolge kann der Beitragssatz im Rahmen einer vollumfassenden solidarischen Pflegeversicherung zunächst gesenkt werden. Gleichzeitig entfallen für die Pflegebedürftigen alle privaten Zuzahlungen. Das Problem der demografisch bedingten Beitragssatzerhöhungen bleibt allerdings weiterhin ungelöst. Die Umlagefinanzierung würde aufgrund der demografischen Abhängigkeit ältere Kohorten bevorzugen und jüngere Kohorten benachteiligen . Es ist nicht ersichtlich, wie soziale Gerechtigkeit hier mit finanzieller Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden soll. Auch deshalb sollte die Diskussion über eine Pflegevollversicherung offen geführt werden und Aspekte wie Kapitaldeckung und Karenzzeiten berücksichtigen. Des Weiteren bedarf es einer Überlegung darüber, welche Leistungen über den Katalog einer Vollversicherung abgedeckt sein sollten und inwieweit eine private Absicherung zugemutet werden kann. Eigenverantwortung muss ein wichtiger Bestandteil bleiben, auch im Sinne nachhaltiger öffentlicher Finanzen. Am Ende des Tages kann auch eine Pflegevollversicherung nicht pauschal als sozial gerechter angesehen werden, da sie höhere Einkommen und Erbschaften schützt und für die tatsächlich Schwachen zu keinen signifikanten Unterschieden führt.“ (S. 3 f.)20 Der Aufsatz „Bedarf und Bedürfnisse in der Pflege – Würden bei einer Pflege-Vollversicherung ungerechtfertigte Mehrbedarfe entstehen?“ aus dem Jahr 2016 beschäftigt sich mit der Frage, ob eine Vollversicherung ungerechtfertigte Mehrausgaben bewirken könnte und damit die derzeitige 18 Rothgang, Heinz/Kalwitzki, Thomas, «Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung – Abbau der Sektorengrenzen und bedarfsgerechte Leistungsstruktur», abrufbar unter https://www.pro-pflegereform.de/fileadmin/default/user_upload/Gutachten_Rothgang_Kalwitzki_-_Alternative _Ausgestaltung_der_Pflegeversicherung.pdf. Eine Zusammenfassung des Gutachtens ist abrufbar unter: https://www.pro-pflegereform.de/fileadmin/default/user_upload/Zusammenfassung_-_Gutachten_Prof._Rothgang .pdf. 19 Rothgang, Heinz/Domhoff, Dominik, Beitragssatzeffekte und Verteilungswirkungen der Einführung einer »Solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung«, Gutachten im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE. und der Rosa-Luxemburg-Stiftung, abrufbar unter: https://www.linksfraktion.de/fileadmin/user_upload/Publikationen /Sonstiges/Solidarische_Gesundheits-_und_Pflegeversicherung__Mai_2017.pdf. 20 Lewe Bahnsen, Institut für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik, Albert -Ludwigs -Universität Freiburg, Stellungnahme zum Antrag Eigenanteile in Pflegeheimen senken – Menschen mit Pflegebedarf finanziell entlasten, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/557338/d7f7df5701c95d679a97e5b685369bcc/19_14_0014-10-_ESV-Bahnsen_Eigenanteile-data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 9 Teilkostenversicherung gewährleisten würde, dass nicht zu viele Pflegeleistungen abgerufen werden . Im Ergebnis sehen die Autoren ein Risiko einer Überversorgung ausgehend vom Leistungsanbieter und vom Pflegebedürftigen. Dies sei aber wohl nicht ausgeprägter als in der Krankenversicherung . In beiden Versicherungszweigen werde Vertrauen ebenso wie ein ethischer Rahmen benötigt, der institutionelle Sicherungen unterstütze. Denkbar sei es, eine Institution mit der Verteilung eines Gesamtbudgets zu betrauen, wobei die Ausgestaltung einer Sanktionierung bei Überversorgung unklar bleibe. Weitere Untersuchungen dazu, wie Bedürfnisse und Bedarf in der Pflege aufeinander abgestimmt werden könnten, seien erforderlich. Erforscht werden müssten Aspekte zur Evidenz von Leistungen, zu den Interessen von pflegenden Angehörigen ebenso wie zur Schaffung von regionalen Strukturen zur Mittelverteilung.21 Ein bereits im Jahr 2012 veröffentlichtes und von der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di beauftragtes Gutachten „Vollversicherung in der Pflege - Quantifizierung von Handlungsoptionen “ kommt zum Ergebnis, dass eine Pflegevollversicherung solidarisch und solide finanzierbar ist. Insgesamt ergebe sich entsprechend der zugrundliegenden Abschätzungen ein zusätzlicher Bedarf in Höhe von 13,25 Milliarden Euro für die Umwandlung in eine Pflegevollversicherung bezogen auf das Jahr 2010 und die damalige Leistungsstruktur. Die in einer Vollversicherung benötigten zusätzlichen Ressourcen würden sich in etwa gleich auf ambulante Leistungen und stationäre Leistungen verteilen (etwa 5,4 Milliarden Euro als zusätzlicher Bedarf für ambulante Leistungen und etwa 4,45 Milliarden Euro für stationäre Leistungen). Zusätzliche Bereiche , wie eine Ausweitung einer Vollversicherung auf Personen, die zwar subjektiv pflegebedürftig seien, jedoch keine Leistungsbewilligung aus der Pflegeversicherung erhielten, würden mit rund 500 Millionen Euro jährlich einen geringen Anteil der zusätzlich benötigten Ressourcen ausmachen. Inwiefern eine Vollversicherung auch Pflegeleistungen aus der Krankenversicherung (Häusliche Krankenpflege) auf die Pflegeversicherung übertragen solle, könne diskutiert werden. Diese hätten einen Umfang von rund 2,9 Milliarden Euro pro Jahr. Insgesamt bringe dies eine Anhebung des Beitragssatzes um 1,3 Prozentpunkte mit sich. Eingeräumt wird, dass die finanziellen Abschätzungen zunächst als Diskussionsgrundlage dienen sollten, denn eine verbesserte Datenlage sei erforderlich. Um das Risiko einer überhöhten Nachfrage nach Pflegeleistungen zu minimieren , sei eine explizite Steuerung der Leistungen etwa über eine Selbstverwaltung in der Pflegeversicherung vorzusehen. Darüber hinaus äußert sich das Gutachten auch zur Frage eines Finanzbedarfs aus einer Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs als Ergänzung zu einer Vollversicherung und beziffert diesen Bedarf auf eine Spannbreite von 2 bis 3,5 Milliarden Euro, wobei Teile dieser Mehrausgaben bereits in der Abschätzung einer Vollversicherung enthalten seien (siehe Kostenpunkt von 500 Millionen Euro). Mit dem Zweiten Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (Zweites Pflegestärkungsgesetz - PSG II) vom 21. Dezember 201522 wurde der Pflegebedürftigkeitsbegriff durch Umstellung der bisherigen drei Pflegestufen auf fünf Pflegegrade sowie der Einführung eines neuen Begutachtungsverfahrens ab dem Jahr 2017 neu gefasst. Auf dem Weg zu einer Vollversicherung seien weitere 21 Lüngen, Markus/Büscher, Andreas/Faatz, Andreas, Bedarf und Bedürfnisse in der Pflege – Würden bei einer Pflege-Vollversicherung ungerechtfertigte Mehrbedarfe entstehen? In: Soziale Sicherheit 4/2016 S. 158. 22 BGBl. I S. 2424. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 10 Maßnahmen erforderlich, so z. B. eine Anhebung des Qualifizierungsstandes der Pflegekräfte sowie eine Anpassung der Gehaltsstruktur. Daher sei mit weiteren Mehrausgaben, die auf bis zu 1,35 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt würden, zu rechnen.23 In Bezug auf das vorgenannte Gutachten wird in dem 2014 publizierten Beitrag „20 Jahre Gesetzliche Pflegeversicherung – Mythen und Fakten“ die Beibehaltung des Teilleistungssystems favorisiert . Dafür sprächen methodische Gründe, die Administrierbarkeit des Begutachtungs- und Leistungssystems sowie die Flexibilität für die Betroffenen. Voraussetzung für eine Pflegevollversicherung sei die Kenntnis über den vollen notwendigen Bedarf an Pflegeleistungen. Dazu sei es im Falle von Sachleistungen, mit denen Dienstleistungen professioneller Pflegeanbieter finanziert werden, notwendig, die im Einzelfall erforderlichen pflegerischen Tätigkeiten bzw. durch empirische Studien möglichst genaue Werte für durchschnittlich erforderliche Pflegeleistungen zu ermitteln. Dies sei nicht nur sehr aufwändig und ständig anzupassen, sondern teils auch abhängig von individuellen Aspekten wie der Wohnsituation des Betroffenen, dem Maß der Unterstützung durch Angehörige und persönlichen Präferenzen. Zudem würde sich eine Vollfinanzierung faktisch zu einem Sicherungssystem für Einkommensstarke und Vermögende entwickeln. Der Einzelne sei im Rahmen des derzeitigen Teilleistungssystems vor finanziell unzumutbaren Belastungen durch das Sozialhilfesystem geschützt.24 3. Zur Pflegeversicherung in Luxemburg In Luxemburg gehört die als Pflichtversicherung konzipierte SPV seit 1999 zur gesetzlichen Sozialversicherung . Träger ist der Verband der Krankenkassen. Die SPV tritt für alle Personen ein, die als pflegebedürftig anerkannt werden, unabhängig von Alters, Einkommen oder Wohnsitz. Anspruch auf Pflegeleistungen besteht, wenn die pflegebedürftige Person regelmäßig mindestens 3,5 Stunden pro Woche Hilfe oder Pflege benötigt und ihr Zustand voraussichtlich mehr als sechs Monate anhalten wird oder unabänderlich ist. Die Beurteilung des Pflegezustandes wird durch einen Arzt oder einer Fachkraft des Gesundheitswesens erbracht. Der Hauptzweck der Pflegeversicherung besteht in der Übernahme der Hilfe und Pflege, die der pflegebedürftigen Person ganz oder teilweise im Rahmen einer Betreuung zuhause oder in einer Pflegeeinrichtung erbracht wird, sowie der Kosten der Pflegehilfsmittel und Maßnahmen zur Anpassung der Wohnung durch Gewährung von Sachleistungen.25 Die Sachleistungen für Verrichtungen des täglichen Lebens und für die Hilfe bei der Hausarbeit können durch eine Geldleistung ersetzt werden, 23 Lüngen, Markus, Vollversicherung in der Pflege - Quantifizierung von Handlungsoptionen, 2012, abrufbar unter : https://www.verdi.de/++file++50a3affa6f6844778600001c/download/Gutachten_Pflegeversicherung.pdf. 24 Hoffer, Heike/Schölkopf, Martin, 20 Jahre Gesetzliche Pflegeversicherung – Mythen und Fakten in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung, DIW Berlin, 83. Jahrgang, 04.2014, S. 21 (27 ff.). 25 Artikel 348 ff., 376 Assurance dépendance, Livre V, Système de financement, abrufbar unter: https://www.secu.lu/assurance-dependance/livre-v/chapitre-i-objet-de-lassurance/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 11 wenn die Unterstützung durch einen informellen Helfer erbracht wird. Die Geldleistung ist pauschaliert und richtet sich nach dem zeitlichen Aufwand.26 Nicht übernommen werden die Leistungen für Unterkunft und Verpflegung bei vollstationärer Unterbringung.27 Die Ausgaben der Pflegeversicherung werden durch ein Lastenverteilungssystem mit Rücklagenbildung finanziert. Die Mittel umfassen neben Erträgen aus Kapitalanlagen und sonstigen Mitteln einen staatlichen Beitrag (40 Prozent der Gesamtausgaben), einen Sonderbeitrag aus den mit der Elektrizitätssteuer erzielten Einnahmen und einen Pflegebeitrag der Versicherten in Höhe von 1,4 Prozent aus beruflichen Einkünften, Ersatz- und Vermögenseinkünften (z. B. Mieteinnahmen).28 Beiträge müssen alle Berufstätigen und Rentner entrichten, wobei Familienmitglieder beitragsfrei mitversichert sind.29 4. Zur Pflegevorsorge in den Ländern Dänemark, Norwegen und Schweden Dänemark, Norwegen und Schweden weisen ein umfassendes soziales Sicherungssystem auf, das jedem Pflegebedürftigen mit einem Bedarf ab einer Stunde pro Woche Leistungen gewährt. Anspruchsberechtigt sind alle Einwohner unabhängig von der Höhe des Einkommens und Vermögens , des Alters und dem Vorhandensein potentieller familiärer Pflegekräfte. Die Pflege wird als öffentliche Aufgabe aus Steuermitteln bezahlt. Die Zuständigkeit für die Finanzierung und für die umfassende Organisation liegt auf kommunaler Ebene in den einzelnen Gemeinden.30 Damit liegt die zentrale Verantwortung auch in der praktischen Umsetzung beim Staat, nicht in der Fa- 26 Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit der Europäischen Kommission (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC), Langzeitpflege, Stand Juli 2018, abrufbar unter: https://www.missoc .org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank/missoc-vergleichstabellen-datenbankergebnisse -anzeigen/?lang=de. 27 Le Gouvernement du Grand-Duché de Luxembourg, Leistungen bei stationärer Pflege in einer Pflegeeinrichtung beantragen, Vorgehensweise und Details, Arten von Einrichtungen, abrufbar unter: https://guichet .public.lu/de/citoyens/famille/dependance/assurance-dependance/milieu-stationnaire.html. 28 Artikel 375, 376 Assurance dépendance, Livre V, Système de financement, abrufbar unter: https://www.secu.lu/assurance-dependance/livre-v/chapitre-ii-financement/. 29 Wild, Frank, Wissenschaftliches Institut der PKV, Die Pflegefinanzierung und die Pflegeausgaben im internationalen Vergleich, 2010, S. 37, abrufbar unter: http://www.wip-pkv.de/fileadmin/DATEN/Veroeffentlichungen /Pflegeausgaben_im_internationalen_Vergleich.pdf. 30 Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit der Europäischen Kommission (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC), Langzeitpflege, Stand Juli 2018, abrufbar unter: https://www.missoc .org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank/missoc-vergleichstabellen-datenbankergebnisse -anzeigen/?lang=de; Schulz, Erika/Geyer, Johannes, Pflegebedarfe und Pflegesettings: ein Vergleich formeller und informeller Pflege in ausgewählten europäischen Ländern in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 83. Jahrgang 04.2014 S. 137 (144 ff.), abrufbar unter: https://www.econstor .eu/bitstream/10419/142231/1/vjh.83.4.137.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 12 milie. Pflege durch Angehörige ist in den skandinavischen Ländern wesentlich weniger ausgeprägt als im familienbasierten deutschen System.31 Sie unterliegt in den skandinavischen Ländern der öffentlichen Regulierung, um zu verhindern, dass informell Pflegende überfordert werden und sich ein „grauer Pflegemarkt“32 etabliert. Die Familie sorgt z. B. in Dänemark vielmehr für die Teilhabe der Pflegebedürftigen am gesellschaftlichen Leben. Die ambulante Pflege hat Vorrang vor anderen Wohnformen und wird oftmals von öffentlichen Organisationen, zum Teil aber auch von privaten Organisationen erbracht. Ein gesetzlich fixierter Pflegebegriff existiert nicht33, so dass der Zugang niedrigschwellig ist. Eine Heranziehung der Angehörigen zu den Kosten findet nicht statt. Während in Norwegen und Schweden ein geringer Eigenanteil von den Pflegebedürftigen selbst zu leisten ist34, muss in Dänemark im Hinblick auf die Pflegeleistungen an sich grundsätzlich kein Eigenanteil geleistet werden; ausgenommen sind temporäre Leistun- 31 Zum Vergleich der sogenannten informellen (Unterstützung durch Angehörige, Nachbarn und Freunde) und formellen Pflege in Dänemark und in Deutschland siehe: Schulz, Erika/Geyer, Societal Change, Care Need and Long-Term Care Workforce in selected european Countries, Neujobs Working Paper, 2013, S. 10, abrufbar unter: http://www.neujobs.eu/sites/default/files/publication/2014/02/NEUJOBS%20Working%20Paper-D12.2-final- 280114.pdf. Danach erhielten 2006 in Dänemark nur rund 5 Prozent, in Deutschland rund 42 Prozent ausschließlich informelle Pflegehilfe. 32 Näheres zum „grauen Pflegemarkt“, worunter das Angebot von Pflegedienstleistungen verstanden wird, die überwiegend unter Umgehung nationaler arbeits- und sozialrechtlicher Standards erbracht werden, Zentrum für Qualität in der Pflege, Pflegeversorgung – Grauer Pflegemarkt, abrufbar unter: https://www.zqp.de/wp-content /uploads/Fachartikel_Grauer_Arbeitsmarkt.pdf. 33 Anders in Finnland, wo es Pflegestufen orientiert am Bedarf der Unterstützung gibt. In Finnland werden auch feste Gebühren für die ambulante Pflege erhoben sowie bei der stationären Pflege ein einkommensabhängiger Eigenanteil in Rechnung gestellt. Hierzu siehe Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit der Europäischen Kommission (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC), Langzeitpflege, Stand Juli 2018, abrufbar unter: https://www.missoc.org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank /missoc-vergleichstabellen-datenbank-ergebnisse-anzeigen/?lang=de. 34 Rodrigues, Ricardo/Nies, Henk, Making Sense of Differences – the Mixes Economy of Funding and Delivering Long-Term Care in: Leichsenring, Kai/Billings, Jenny/Nies, Henk, Long-Term Care in Europe, 2013, S. 191 (199; Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit der Europäischen Kommission (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC), Langzeitpflege, Stand Juli 2018, abrufbar unter: https://www.missoc .org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank/missoc-vergleichstabellen-datenbankergebnisse -anzeigen/?lang=de. So beläuft sich in Schweden der Höchstbetrag für Altenpflege auf 210 Euro pro Monat. Für Patienten, die 85 Jahre alt und älter sind, ist ambulante Pflege kostenlos. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 13 gen, für die die Gemeinden Gebühren erheben können. Bei der stationären Pflege müssen in Dänemark allein die Kosten für Kost und Logis übernommen werden.35 Diese kann aber von der in Dänemark bestehenden Rente abgedeckt werden.36 5. Zur Pflegevorsorge in ausgewählten Nachbarländern Deutschlands Wie das Gegenseitige Informationssystem für soziale Sicherheit der Europäischen Kommission (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC)37 unter der Rubrik Kostenbeteiligung sowie weitere Quellen aufzeigen, werden in den einzelnen Ländern – ausgenommen Luxemburg und Dänemark – Kostenbeteiligungen von den Pflegebedürftigen unterschiedlichen Ausmaßes verlangt. In England erhalten Personen mit einem bestimmten Vermögen einschließlich des Wertes des eigen genutzten Hauses, keinerlei staatliche Unterstützung bei der stationären Pflege und müssen dafür selbst aufkommen. In der ambulanten Pflege werden Gebühren erhoben. Die jeweilige Gemeinde kann die Zahlung von Gebühren für unvermögende Bedürftige übernehmen. Die Pflegeleistungen in Frankreich werden von der Krankenversicherung bzw. der Sozialhilfe erbracht . Ein Eigenanteil ist zu leisten. Nur Geringverdiener sind in Frankreich von Eigenleistungen ausgenommen.38 Kinder Pflegebedürftiger sind in Frankreich gesetzlich verpflichtet, ihre Eltern finanziell zu unterstützen, wenn diese nicht mehr über finanzielle Reserven verfügen.39 Auch die niederländische Pflegeversicherung sieht einen nicht unerheblichen einkommensabhängigen Eigenanteil bei stationärer Pflege vor.40 In Österreich ist mit Beginn des Jahres 2018 der 35 Karlsson, Martin/Iversen, Tor/Øien, Henning in: Costa-Font, Joan/Courbage, Christophe (Hrsg.), Financing Long- Term Care in Europe, 2012, S. 254; Heintze, Cornelia, Hilfs- und Pflegeleistungen für Ältere, Ein deutsch-skandinavischer Vergleich in: Soziale Sicherheit 8/2010, S. 263 (265); Heintze, Cornelia, Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem, Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), abrufbar unter: https://library.fes.de/pdf-files/wiso/11337.pdf; Heintze, Cornelia, Pflege und Altenhilfe in Skandinavien und Deutschland, Teil 1, in: Soziale Sicherheit 6/2016, S. 239 (240); Schulz, Erika/Geyer, Johannes, Pflegebedarfe und Pflegesettings: ein Vergleich formeller und informeller Pflege in ausgewählten europäischen Ländern in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 83. Jahrgang 04.2014 S. 137 (144 ff.), abrufbar unter: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/142231/1/vjh.83.4.137.pdf. 36 Heintze, Cornelia, Auf der Highroad – der skandinavische Weg zu einem zeitgemäßen Pflegesystem, Friedrich- Ebert-Stiftung (Hrsg.), abrufbar unter: https://library.fes.de/pdf-files/wiso/11337.pdf; Heintze, Cornelia, Pflege und Altenhilfe in Skandinavien und Deutschland, Teil 1, in: Soziale Sicherheit 6/2016, S. 239 (240). 37 Gegenseitiges Informationssystem für soziale Sicherheit der Europäischen Kommission (Mutual Information System on Social Protection - MISSOC), Langzeitpflege, abrufbar unter: https://www.missoc.org/missoc-information /missoc-vergleichende-tabellen-datenbank/missoc-vergleichstabellen-datenbank-ergebnisse-anzeigen /?lang=de. 38 Trisan, Trinationales Kompetenzzentrum für Ihre Gesundheitsprojekte, Die Pflege älterer Personen in Deutschland , Frankreich und der Schweiz, 2018, S. 31, abrufbar unter: https://www.trisan.org/fileadmin/user_upload /Themenheft_TRISAN_Die_Pflege_%C3%A4lterer_Personen.pdf; Geyer, Johannes/Korfhage,Thorben /Schulz, Erika, Andere Länder, andere Wege: Pflege im internationalen Vergleich in: Gesundheits- und Sozialpolitik 2016, S. 52 (54 f.). 39 Courbage, Christophe/Plisson, Manuel, Financing Long-Term Care in France in: Costa-Font, Joan/Courbage, Christophe (Hrsg.), Financing Long-Term Care in Europe, 2012, S. 125 (131). 40 Schut, Frederik/van den Berg, Bernard, Long-Term Care Insurance in the Netherlands in: Costa-Font, Joan/Courbage , Christophe (Hrsg.), Financing Long-Term Care in Europe, 2012, S. 103 (105). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 035/19 Seite 14 Rückgriff auf Vermögen des Pflegebedürftigen bei stationärer Pflege abgeschafft worden. Die Förderung der steuerfinanzierten ambulanten Pflege dagegen ist erst ab einem amtlich anerkannten Bedarf von 65 (60 Stunden ab 2019) Pflege- bzw. Betreuungsstunden pro Monat durch Zahlung eines Pflegegeldes möglich.41 In Polen werden staatlich finanzierte Pflegeleistungen bei einem hohen Grad an Pflegebedürftigkeit gewährt, wenn die Pflegebedürftigen über ein geringes Einkommen verfügen und keine nahen Familienangehörigen haben. Die Leistungen sind deutlich niedriger als in Deutschland.42 *** 41 Pichlbauer, Ernest, Das österreichische Pflegesystem: Ein europäischer Sonderfall, Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), 2018, z. B. S. 7, 13 und 16, abrufbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen /GrauePublikationen/EZ_SIM_Policy_Brief_Pflege_2018_DT.pdf. 42 Schulz, Erika/Geyer, Johannes, Pflegebedarfe und Pflegesettings: ein Vergleich formeller und informeller Pflege in ausgewählten europäischen Ländern in: Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung 83. Jahrgang 04.2014 S. 137 (146 ff.), abrufbar unter: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/142231/1/vjh.83.4.137.pdf.