© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 032/21 Zum Verhältnis der Inzidenzrate zur seltenen Erkrankung und zur „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ Kurzinformation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation WD 9 - 3000 - 032/21 Seite 2 Zum Verhältnis der Inzidenzrate zur seltenen Erkrankung und zur „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 032/21 Abschluss der Arbeit: 25. März 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation WD 9 - 3000 - 032/21 Seite 3 1. Abgrenzung der Inzidenzrate zur seltenen Erkrankung Vor dem Hintergrund der vom Deutschen Bundestag festgestellten „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ wird hier auftragsgemäß der Frage nachgegangen, welcher Zusammenhang zwischen dem Inzidenzwert, der eine maßgebliche Rolle bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie spielt, und der EU-weiten Definition einer seltenen Erkrankung bestehe, da bei beiden die Kennziffer von 50 pro 100.000 Einwohnern eine entscheidende Marke darstelle. 1.1. Inzidenz und Prävalenz Die Inzidenzrate (in den Medien zumeist Inzidenzwert genannt) ist eine epidemiologische Maßzahl zur Beschreibung der Inzidenz. Bei der Inzidenz handelt es sich um die Anzahl der Neuerkrankungen aufgrund einer bestimmten Krankheit (Inzidenzfälle) in einem vorgegebenen Zeitraum (z. B. sieben Tage). Die Inzidenzrate bezieht sich auf eine bestimmte Zahl der Gesamtbevölkerung (z.  B. Zahl der Erkrankten im vorgegebenen Zeitraum auf 100.000 Einwohner).1 Die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz2 gibt die Zahl der Neuinfektionen innerhalb der vergangenen sieben Tage pro 100.000 Einwohner an. Dabei werden alle gemeldeten Neuinfektionen der jeweils zurückliegenden sieben Tage addiert. Die Summe wird durch die Einwohnerzahl des betrachteten Gebiets dividiert. Danach wird dieser Wert mit 100.000 multipliziert. Ein Sieben-Tage- Inzidenzwert von 50 bedeutet demnach, dass insgesamt 50 Neuinfektionen innerhalb der vergangenen siebe Tage pro 100.000 Einwohner gemeldet wurden. Die Inzidenz ist neben der Prävalenz ein Hauptaspekt zur Darstellung und Analyse der Verbreitung von Krankheiten.3 Während die Inzidenz den Zugang von Neuerkrankungen beschreibt, umfasst die Prävalenz den Bestand aller Erkrankten. Bei der Prävalenz handelt es sich um die Häufigkeit einer Erkrankung oder eines Merkmals innerhalb einer Population zu einem bestimmten 1 Siehe Brockhaus, Online-Ausgabe, Inzidenz (Medizin), abrufbar unter: http://brockhaus.de/ecs/enzy/article/inzidenz -medizin. 2 Richtigerweise müsste es Sieben-Tage-Inzidenzrate heißen. Der Begriff Sieben-Tage-Inzidenz wird jedoch in den Medien überwiegend verwendet. 3 Vgl. Robert Koch-Institut (RKI), Glossar, Inzidenzmaße, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring /Gesundheitsberichterstattung/Glossar/gbe_glossar_catalog.html?cms_lv2=3686288. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation WD 9 - 3000 - 032/21 Seite 4 Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts (Periodenprävalenz ).4 Die Prävalenzrate beschreibt den Anteil Erkrankter/Betroffener an der betrachteten Bevölkerung .5 Eine Sieben-Tage-Prävalenzrate von 50 bedeutet demnach, dass insgesamt 50 Personen innerhalb der vergangenen siebe Tage pro 100.000 Einwohner von einer Krankheit betroffen waren oder sind. 1.2. Seltene Erkrankung In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind.6 Kriterium für die Einstufung als seltene Erkrankung ist somit die Prävalenzrate und nicht die Inzidenzrate. Schon aus diesem Grund erscheint ein Vergleich des Schwellenwertes einer Sieben-Tage-Inzidenzrate von 50 (50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner) mit dem Begriff der seltenen Erkrankung (fünf Betroffene pro 10.000 Einwohner , hochgerechnet ebenfalls 50 pro 100.000) sachfremd. Hinzu kommt, dass sich der Inzidenz-Schwellenwert von 50 auf die Sieben-Tage-Inzidenz und somit einen Zeitraum von sieben Tagen bezieht. Bei der Einstufung als seltene Erkrankung ist der Prävalenz-Schwellenwert hingegen nicht auf einen bestimmten Zeitraum festgelegt.7 Auch aus diesem Grund ist ein Vergleich des Inzidenz-Schwellenwertes von 50 mit dem Begriff der seltenen Erkrankung unsachgemäß. 2. Verhältnis zur „Epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ Die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 S. 1 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ist u. a. Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der besonderen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 gemäß § 28a IfSG 8 (vgl. § 28a Abs. 1 IfSG). 4 Siehe Brockhaus, Online-Ausgabe, Prävalenz (Medizin), abrufbar unter: http://brockhaus.de/ecs/enzy/article /prävalenz-medizin. 5 Vgl. RKI, Glossar, Prävalenzmaße, abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung /Glossar/gbe_glossar_catalog.html;jsessionid =0EE1574AE971E513A29180A3CD862886.internet072?nn=2370676&cms_lv2=3686300. 6 Bundesministerium für Gesundheit, Gesundheitsfragen, seltene Erkrankungen, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/seltene-erkrankungen .html; vgl. Art. 3 Abs. 1 lit. a) der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. (EG) L 018 vom 22. Januar 2000, S. 1 ff.; vgl. 3. Erwägungsgrund der Empfehlung des Rates vom 8. Juni 2009 für eine Maßnahme im Bereich seltener Krankheiten 2009/C 151/02, ABl. (EU) C 151 vom 3. Juli 2009, S. 7 ff. 7 In Art. 3 Abs. 1 lit. a) der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999 über Arzneimittel für seltene Leiden, ABl. (EG) L 018 vom 22. Januar 2000, S. 1 ff. wird bspw. auf den „Zeitpunkt der Antragstellung“ abgestellt. 8 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen vom 20.Juli 2000, BGBl. I S. 1045, zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Dezember 2020, BGBl. I S. 3136. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation WD 9 - 3000 - 032/21 Seite 5 Die epidemische Lage von nationaler Tragweite wurde im Zuge des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes 9 erstmals legaldefiniert. Sie liegt gemäß § 5 Abs. 1 S. 4 IfSG vor, wenn die Bundesregierung eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland festgestellt hat, „weil 1. die Weltgesundheitsorganisation eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausgerufen hat und die Einschleppung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit in die Bundesrepublik Deutschland droht oder 2. eine dynamische Ausbreitung einer bedrohlichen übertragbaren Krankheit über mehrere Länder in der Bundesrepublik Deutschland droht oder stattfindet“.10 Die Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite ist demnach nicht an bestimmte Inzidenz-Schwellenwerte geknüpft. Dennoch spielt die Sieben-Tage-Inzidenz im Rahmen der Corona-Pandemie eine wesentliche Rolle. Der zuletzt im Zuge des Dritten Bevölkerungsschutzgesetzes eingeführte § 28a Abs. 3 IfSG sieht vor, dass gewisse Schutzmaßnahmen an bestimmten Schwellenwerten der Sieben-Tage-Inzidenz ausgerichtet werden. § 28a Abs. 3 S. 4 IfSG lautet: „Maßstab für die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen ist insbesondere die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen“. Danach konkretisiert § 28a Abs. 3 IfSG mittels der Schwellenwerte die im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu treffenden Corona-Schutzmaßnahmen nach § 28a Abs. 1, nach § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 und den §§ 29 bis 32 IfSG. *** 9 Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020, BGBl. I S. 2397. 10 Vgl. dazu auch die Formulierungshilfe für die Koalitionsfraktionen für einen aus der Mitte des Deutschen Bundestages einzubringenden Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/presse/pressemitteilungen /2020/1-quartal/gesetzespakete-corona-epidemie.html.