© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 027/20 Zum Umgang mit der Corona-Pandemie in Ungarn Maßnahmen in den Monaten März und April 2020 Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 2 Zum Umgang mit der Corona-Pandemie in Ungarn Maßnahmen in den Monaten März und April 2020 Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 027/20 Abschluss der Arbeit: 29. April 2020 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Ausgangslage 4 2. Erklärung des Gefahrenzustands 4 3. Gesetz zur Eindämmung des Corona-Virus 5 3.1. Zum Inhalt des Gesetzes 5 3.2. Zur Kritik am Gesetz 6 3.3. Zur Gegenposition 7 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 4 1. Ausgangslage Anfang März 2020 bestätigt Ungarn die ersten Erkrankungen am neuartigen Corona-Virus (SARS-CoV-2), siehe Krankenkassen.Deutschland, dpa-News vom 5. März 2020, Erste Infektionen mit Corona-Virus in Ungarn, abrufbar unter: https://www.krankenkassen.de/dpa/291237.html (dieser sowie alle weiteren Links wurden zuletzt abgerufen am 29. April 2020). Seitens der Presse werden die offiziellen Fallzahlen als nicht vertrauenswürdig eingestuft, da die Testdichte viel zu gering und die Herkunft der Zahlen unbekannt seien, siehe Pester Lloyd, Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa, Corona-Virus Ungarn, Update 3. April 2020, abrufbar unter: http://www.pesterlloyd.net/html/2020coronavirusungarnausgangssperre.html. Die vorliegende Dokumentation beschreibt die entscheidenden Maßnahmen der ungarischen Regierung in dem Zusammenhang: Die Erklärung des Gefahrenzustands vom 11. März 2020 sowie das Ende März 2020 verabschiedete und im In- und Ausland heftig kritisierte Gesetz zur Eindämmung des Corona-Virus. 2. Erklärung des Gefahrenzustands Am 11. März 2020 erklärt die ungarische Regierung mit Blick auf die Pandemie den Gefahrenzustand , siehe Government Decree No. 40/2020 (11 March) on the declaration of state of danger, englische Version abrufbar unter: http://njt.hu/translated/doc/J2020R0040K_20200326_FIN.pdf. Dabei beruft sich die Regierung auf Artikel 53 der ungarischen Verfassung, wonach die Regierung zur Abwendung von Gefahren für Leben und Vermögen einen Gefahrenzustand erklären und Verordnungen erlassen kann, mit denen einzelne Gesetze ausgesetzt sowie außerordentliche Maßnahmen getroffen werden können. Artikel 53 der Verfassung regelt dabei, dass eine solche Verordnung auf 15 Tage begrenzt ist, ihre Gültigkeit aber auf Grund einer Ermächtigung des Parlaments verlängert werden kann. Darüber hinaus ist festgelegt, dass eine solche Verordnung mit dem Ende der Gefahrensituation außer Kraft tritt. Siehe zum Wortlaut des Artikels 53 der ungarischen Verfassung, Pester Lloyd, Tageszeitung für Ungarn und Osteuropa vom 5. Januar 2012, Neue Verfassung für Ungarn – deutsche Übersetzung abrufbar unter: http://www.pesterlloyd.net/2012_01/01verfassung/01verfassung.html. Mit der Erklärung des Gefahrenzustands werden im Laufe des März und April 2020 zahlreiche weitere Regierungsdekrete in Ungarn erlassen: Geschäfte und Restaurants dürfen nur bis 15 Uhr geöffnet bleiben, ausgenommen sind etwa Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Drogerien, Parfümerien, Haushalts- und Sanitätsgeschäfte , Tankstellen und Tabakläden. Kultur- und Sportstätten, Kinos sowie Vergnügungslokale werden geschlossen, siehe Government Decree No. 46/2020 (16 March) on the measures to be taken during the state of danger declared for the prevention of the human epidemic endangering life and property and causing massive disease outbreaks, for the elimination of its consequences, and for the protection of the health and lives of Hungarian citizens, abrufbar unter: http://njt.hu/translated/doc/J2020R0046K_20200318_FIN.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 5 Arbeitgeber können Home-Office einseitig anordnen, siehe Government Decree No. 47/2020 (18 March) on immediate measures necessary for alleviating the effects of the coronavirus pandemic on national economy, abrufbar unter: https://njt.hu/translated/doc/J2020R0047K_20200319_FIN.pdf. Mit Wirkung vom 28. März 2020 an wird eine teilweise Ausgangsbeschränkung erlassen. Die Wohnungen dürfen nur für dringende Erledigungen verlassen werden. Soziale Kontakte sind bis auf Angehörige des eigenen Hausstandes zu vermeiden und andernfalls ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten. Personen ab 65 Jahre dürfen zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz ihrer Angehörigen nur noch von 9 bis 12 Uhr die notwendigen Einkäufe erledigen, siehe Government Decree No. 71/2020 (28 March) on restricting movement, abrufbar unter: http://njt.hu/translated/doc/J2020R0071K_20200328_FIN.pdf. Beschäftigte unter 60 Jahren im sozialen und kulturellen Bereich, die nicht chronisch krank sind und wegen des neuartigen Corona-Virus nicht ihrer regulären Arbeit nachgehen können, werden zur Unterstützung in Pflegeheimen eingesetzt, siehe dazu Government Decree No. 88/2020 (6 April), nur in ungarischer Sprache verfügbar, abrufbar unter: http://njt.hu/cgi_bin/njt_doc.cgi?docid=218855.381398. Universitäten wie auch Schulen werden geschlossen und auf Fernunterricht umgestellt. Siehe dazu in Bezug auf die Universitäten Government Decree No. 81/2020 (1 April) on extraordinary measures relating to the state of danger declared for the protection of health and lives and for the restoration of national economy, abrufbar unter: http://njt.hu/translated /doc/J2020R0081K_20200402_FIN.pdf. Ärzte, medizinisches Personal und Studenten im Gesundheitswesen, das Personal der Armee und der Polizei dürfen – außer mit Sondergenehmigung – nicht in das Ausland reisen , ebenso geregelt in Government Decree No. 81/2020 (1 April). Weitere Maßnahmen werden in einem Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung beschrieben, siehe Spengler, Frank/Bauer, Bence, Ungarn in der Corona-Krise, Parlament stimmt für umfassende Sondervollmachten der Regierung, 1. April 2020, abrufbar unter: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/ungarn-in-der-corona-krise. 3. Gesetz zur Eindämmung des Corona-Virus 3.1. Zum Inhalt des Gesetzes Am 30. März 2020 stimmt das ungarische Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit für das Gesetz zur Eindämmung des Corona-Virus, siehe die englische Version Act XII of 2020 on the containment of coronavirus, abrufbar unter: http://abouthungary.hu/media/DocumentsModellfile /1585661547-act-xii-of-2020-on-the-containment-of-coronavirus.pdf. Zur Berichterstattung darüber siehe zdf.de, Corona-Krise und Orbans Macht, Ungarns Parlament stimmt Notstandsgesetz zu, 30. März 2020, abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirusungarn -orban-notstandsgesetz-100.html sowie tagesschau.de, Notstandsgesetz in Ungarn, EU warnt vor unverhältnismäßigen Schritten, 31. März 2020, abrufbar unter: https://www.tagesschau .de/ausland/corona-ungarn-eu-101.html. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 6 Das Gesetz räumt der Regierung umfangreiche Befugnisse ein, um Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus treffen zu können: So kann die Regierung Sondermaßnahmen beschließen, die eine effektive Gefahrenabwehr zur Gewährung der Sicherheit des Lebens, der Gesundheit, der Person, des Vermögens und der Rechtssicherheit der Staatsbürger sowie der Stabilität der Volkswirtschaft (§ 2 Absatz 1) sicherstellen sollen. Die Maßnahmen müssen dabei erforderlich und verhältnismäßig sein (§ 2 Absatz 2). Die Regierung ist ermächtigt, Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie per Dekret, also ohne das Parlament, bis zum Ende des Gefahrenzustands zu beschließen (§ 3 Absatz 1). Das Parlament kann die Ermächtigung vor dem Ende des Gefahrenzustands zurücknehmen (§ 3 Absatz 2). Die Regierung soll das Parlament von den getroffenen Maßnahmen regelmäßig unterrichten ; falls das Parlament nicht tagen kann, sollen der Parlamentspräsident und die Vorsitzenden der Parlamentsfraktionen unterrichtet werden (§ 4). Das Verfassungsgericht kann weiterhin arbeiten, ggf. auf digitalem Wege (§ 5). Die Feststellung, dass der Gefahrenzustand nicht mehr besteht, und die daraus folgende Aufhebung des Gesetzes obliegt dem Parlament (§ 8). Das Gesetz ist – anders als die Opposition gefordert hatte – zeitlich nicht befristet. Darüber hinaus ist konkret geregelt: Parlamentswahlen und Volksabstimmungen finden nicht statt (§ 6). Das Strafgesetzbuch wird verschärft, in dem das Verlassen der behördlich angeordneten Quarantäne mit bis zu acht Jahren Haft geahndet wird (§ 10). Das Verbreiten von falschen oder irreführenden Informationen, die geeignet sind, Verwirrung , Unfrieden oder Panik in der Öffentlichkeit zu stiften bzw. die Gefahrenabwehr zu behindern, wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet (§10). Weitere Einzelheiten zum Gesetz werden in dem bereits erwähnten Länderbericht der Konrad- Adenauer-Stiftung beschrieben, siehe Spengler, Frank/Bauer, Bence, Ungarn in der Corona- Krise, Parlament stimmt für umfassende Sondervollmachten der Regierung, 1. April 2020, abrufbar unter: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/ungarn-in-der-coronakrise . Die Verfasser betonen, es werde sich erst nach einiger Zeit zeigen, ob eine zeitliche Terminierung der Gefahrenlage notwendig gewesen wäre. Auch erst dann könnten das Regierungshandeln wie auch die Verschärfung des Strafrechts genauer bewertet werden. 3.2. Zur Kritik am Gesetz Die Opposition in Ungarn hatte im Vorfeld auf eine zeitliche Befristung gedrängt und bezweifelt , dass sie die Dekrete wirksam überprüfen könne, da nur eine zeitliche Begrenzung eine Debatte und Abstimmung im Parlament vor jeder Verlängerung zur Folge habe. Auch wenn das Parlament die Ermächtigung zurücknehmen könne, sei dies praktisch aufgrund einer Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien im Parlament nicht möglich. Siehe hierzu Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ungarn verabschiedet umstrittenes Notstandsgesetz, 30. März 2020, Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 7 abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/corona-ungarn-verabschiedet-umstrittenes -notstandsgesetz-16703780.html sowie Deutsche Welle, Machtausbau im Schatten der Corona-Krise: Ungarische Kommunen unter Druck, 13. April 2020, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/machtausbau-im-schatten-der-corona-krise-ungarische-kommunenunter -druck/a-53107406, https://www.deutschlandfunkkultur.de/corona-in-ungarn-notstandim -schatten-der-pandemie.979.de.html?dram:article_id=474144. Ebenso übt ein von mehreren Organisationen (u. a. von Amnesty International Ungarn) gemeinsam verfasster Beitrag im Vorfeld der Gesetzesverabschiedung heftige Kritik. Die Organisationen fordern rechtsstaatliche Schutzmaßnahmen statt Regierungsherrschaft per Dekret. Befürchtet werden die Beseitigung der Demokratie, dass Menschenrechte unverhältnismäßig eingeschränkt würden und der Straftatbestand im Zusammenhang mit falschen oder irreführenden Informationen eine kritische Presseberichterstattung beschränke. Siehe dazu Hungarian Helsinki Committee, The Civil Liberties Union, Eötvös Károly Institute and Amnesty International Hungary, Unlimited power is not the panacea, 22. März 2020, abrufbar unter: https://www.amnesty.hu/data/file/4846-unlimited-power-is-not-the-panacea- 20200322.pdf?version=1415642342. Auch weitere kritische Beiträge in der deutschen Presseberichterstattung sehen in dem Gesetz ein Ausnutzen der Krise, um mit uneingeschränkter Macht auf Dauer regieren zu können. Vorgeworfen werden die Ausschaltung des Parlaments und die Beseitigung der Demokratie, in dem per Dekret Gesetze beschlossen werden können und dem keine zeitliche Begrenzung in Form eines Datums zugrunde liege. Es sei außergewöhnlich, dass die Vollmachten der Regierung zeitlich nicht begrenzt seien. Denkbar sei, dass das Parlament aufgrund der Corona-Krise nicht tagen könne und die ungarische Regierung mit dem bestehenden Gesetz auf Dauer ohne parlamentarische Kontrolle arbeite. Siehe Frankfurter Rundschau, Der Virus der Diktatur, 30. März 2020, abrufbar unter: https://www.fr.de/politik/virus-diktatur-13633801.html, Deutsche Welle, Sarrazin: Ungarns Corona-Notstandsgesetz muss zeitlich begrenzt sein, 8. April 2020, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/sarrazin-ungarns-corona-notstandsgesetz -muss-zeitlich-begrenzt-sein/a-53051750 sowie Frankfurter Rundschau, Notstandgesetz in Ungarn: Von der Leyen droht Orban mit Verfahren, 12. April 2020, abrufbar unter: https://www.fr.de/politik/notstandsgesetz-ungarnvon-leyen-droht-orban-verfahren- 13635962.html. 3.3. Zur Gegenposition Dieser Kritik wird seitens der ungarischen Regierung entgegengehalten, dass die Forderung nach einer Befristung angesichts der Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien im Parlament ein Scheinargument sei. Zudem sei das Gesetz lediglich für die Dauer der Krise angelegt. Die zeitliche Befristung ergebe sich damit aus dem Ende der Pandemie. Maßnahmen könnten allein im Zusammenhang mit dem Corona-Virus getroffen werden, so dass auch eine inhaltliche Beschränkung auf die Krise vorliege. Da das Virus auch das Parlament lahm legen könne, sei das Gesetz ein notwendiger Schritt in Richtung Gefahrenabwehr. Siehe dazu Die Welt, Herr Botschafter, wird in Ungarn gerade die Demokratie abgeschafft?, 3. April 2020, abrufbar unter: https://www.welt.de/politik/ausland/article207015463/Notstandsgesetz-wegen-Corona-Herr- Botschafter-wird-in-Ungarn-gerade-die-Demokratie-abgeschafft.html sowie die Darstellung in dem bereits erwähnten Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung, Spengler, Frank/Bauer, Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 027/20 Seite 8 Bence, Ungarn in der Corona-Krise, Parlament stimmt für umfassende Sondervollmachten der Regierung, 1. April 2020, abrufbar unter: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content /ungarn-in-der-corona-krise. Ebenso erachtet eine Stellungnahme aus Österreich die Vorwürfe gegen die ungarische Regierung aus verschiedenen Gründen als haltlos. Das Gesetz zur Eindämmung des Corona-Virus ermögliche keine umfassende Rechtssetzung und Machtausübung, sondern legitimiere lediglich Maßnahmen im Rahmen des Schutzes vor dem Corona-Virus. Dem Parlament verbleibe die Möglichkeit der Erörterung, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei bei allen Maßnahmen zu beachten und die Beendigung der Gefahrensituation stelle das Parlament fest. Siehe dazu Barki, Eva-Maria, Ungarn – Gesetz zur Bekämpfung des Corona-Virus, Politische und rechtliche Stellungnahme, abrufbar unter: https://www.unzensuriert.at/wp-content/uploads /2020/04/Ungarn-Stellungnahme.pdf. ***