© 2017 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 – 017/17 Kinderarmut in Deutschland Überblick über aktuelle Zahlen und Studien Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 017/17 Seite 2 Kinderarmut in Deutschland Aktenzeichen: WD 9 - 3000 – 017/17 Abschluss der Arbeit: 16. Mai 2017 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 017/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zur Definition von „Kinderarmut“ 4 2. Neue Studien und aktuelle Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland 5 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 017/17 Seite 4 1. Zur Definition von „Kinderarmut“ Es gibt keine einheitliche, verbindliche Definition von „Kinderarmut“; in der Wissenschaft werden vielmehr unterschiedliche methodische Ansätze angewandt, um (Kinder-) Armut zu messen. Die Bertelsmann-Stiftung hat im Jahr 2016 eine Quintessenz der vorhandenen Literatur zum Thema Kinderarmut herausgegeben und dafür 59 empirische Studien ausgewertet1. In dieser Publikation werden nicht nur die verschiedenen empirischen Methoden geschildert, dort werden auch die unterschiedlichen theoretischen und normativen Armutskonzepte erläutert . 2 Danach lassen sich fünf verschiedene Ansätze zur Messung von Kinderarmut unterscheiden : Die Messung von Kinderarmut als relative Einkommensarmut nimmt zumeist Bezug auf eine Definition der Europäischen Union3, nach der Haushalte als arm gelten, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens beträgt. Danach lag die Armutsschwelle für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren 2015 in Deutschland bei einem verfügbaren Nettoeinkommen von 1978 Euro pro Monat. Der politisch-normative Ansatz nimmt dagegen Bezug auf politisch definierte Existenzminima, deren Unterschreiten einen Anspruch auf staatliche Unterstützung begründet (Hilfsleistungen nach SGB II und SGB XII). Als problematisch wird daran empfunden, dass die Grundsicherung gerade Armut verhindern solle und daher nicht zur Definition von Armut tauge, und dass sich die Armutspopulation durch politische Entscheidungen verändern könne. Gerade in der Kinderarmutsforschung wird zum Teil auch eine „subjektive Armutsmessung“ vorgenommen . Dazu werden die Betroffenen selbst befragt, ob sie sich als materiell bzw. finanziell deutlich benachteiligt fühlen. Allerdings werden bei dieser Art der Erhebung keine Vergleichsmaßstäbe berücksichtigt. Der „Lebensstandard-Ansatz“ misst Armut nicht anhand des Einkommens, sondern mit Blick auf die Verwendung von Ressourcen in den Haushalten: Wenn eine Unterversorgung mit Gütern vorliegt , die von der Mehrheit der Bevölkerung als Standard angesehen wird, spricht man von „Deprivationsarmut “. 1 Laubstein, Claudia, Gerda Holz und Nadine Seddig, Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, hg. von der Bertelsmann-Stiftung Gütersloh 2016, abrufbar unter: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Studie_WB_Armutsfolgen _fuer_Kinder_und_Jugendliche_2016.pdf (Stand: 16.5.2017). 2 Laubstein, Claudia, Gerda Holz und Nadine Seddig, Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, S. 11. 3 Danach sind diejenigen arm, die über so geringe Mittel verfügen, „dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist“, Beschluss des Rates der Europäischen Gemeinschaften über gezielte Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut auf Gemeinschaftsebene vom 19. Dezember 1984 (85/8/EWG), abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content /DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31985D0008&from=DE (Stand: 16.5.2017). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 017/17 Seite 5 Schließlich werden Schichtindizes erstellt, um Armut als extreme Ausprägung sozialer Ungleichheit zu erfassen. Diese berücksichtigen neben dem Einkommen auch andere Faktoren wie Erwerbsstatus , Bildungsgrad oder beruflichen Status der Eltern. Im Ergebnis ist allerdings kaum zu trennen, welcher dieser Faktoren für die Armut von Kindern verantwortlich zu machen ist. In der Wissenschaft werden – mit Blick auf die Nachteile aller anderen Verfahrensweisen – zumeist die relative Einkommensarmut oder der politisch-normative Ansatz berücksichtigt. Einen mehrdimensionalen Ansatz verfolgt nach der Analyse der Bertelsmann-Stiftung in erster Linie das „kindbezogene Armutskonzept“ der AWO-ISS-Studien4, das u.a. Teilhabeaspekte, aber auch familiäre Einkommensarmut berücksichtigt. Die „Mehrzahl der gut belegten Befunde für Deutschland “ stamme aus diesen Studien, deren Datengrundlage allerdings aus den Jahren 1999-2009 stamme und damit relativ weit zurücklägen. Insgesamt fehle es vor allem an einer „konsequenten und systematischen Analyse der Folgen von Kinderarmut, die auch ethnische und räumliche Aspekte aufgreife. Bei dem vielfach benutzten Begriff „Kinderarmut“ gehe es im Kern um die Folgen familiärer Einkommensarmut bei Kindern und Jugendlichen5. 2. Neue Studien und aktuelle Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland Kinderarmut gilt in Deutschland seit Jahrzehnten als ernst zu nehmendes Problem. Obwohl hierzulande mehr als zwei Millionen Kinder von Armut betroffen sind, ist es bisher kaum gelungen, die Kinderarmut spürbar zu reduzieren.6 Nach den vorliegenden Daten der Armutsberichterstattung ist der Anteil der von Einkommensarmut betroffenen Personen von 1997 bis 2013 sogar von 10.8 auf 15,5 Prozent gestiegen. Die Armutsgefährdung der Haushalte ist - auch regional - ungleich verteilt; das größte Risiko tragen Alleinerziehende, Haushalte mit Migrationshintergrund und mit Langzeitarbeitslosigkeit, aber auch Haushalte mit mehr als drei Kindern. Für mehr als die Hälfte der betroffenen Kinder ist Armut darüber hinaus ein Dauerzustand, der mehr als drei Jahre anhält7. Die jüngste Studie zur Kinderarmut in Deutschland wurde von der Hans-Böckler-Stiftung in Auftrag gegeben: Der WSI-Kinderarmutsbericht8 verzeichnete einen „deutlichen Anstieg“ der Zahl armer Kinder in Deutschland: Ihre Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr um 77.000 Kinder 4 Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V., Lebenslagen und Zukunftschanen von (armen) Kindern und Jugendlichen in Deutschland, 15 Jahre AWO-ISS-Studie, November 2012, abrufbar unter: http://www.issffm .de/m_106 (Stand: 16.5.2017). 5 Laubstein, Claudia, Gerda Holz und Nadine Seddig, Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, S. 16. 6 Laubstein, Claudia, Gerda Holz und Nadine Seddig, Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche, S. 10. 7 Kinderarmut. Kinder im SGB II-Bezug in Deutschland, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2016, Ergebnisse abrufbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen /Factsheet_WB_Kinderarmut_DE_09_2016.pdf. 8 III. WSI-Kinderarmutsbericht, hg. von Eric Seils und Jutta Höhne im Auftrag des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, April 2017, abrufbar unter: https://www.boeckler .de/pdf/wsi_vm_kinderarmut_2015.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 017/17 Seite 6 (0,7 Prozentpunkte) auf 2,55 Millionen Kinder (19,7 Prozent). In Bremen (34,2 Prozent) und Berlin (29,8 Prozent) ist demnach die Kinderarmut am größten, in Oberbayern (10 Prozent) und Tübingen (10,6 Prozent) am geringsten.9 Für diese Studie wurden die Daten des Mikrozensus von 2015 für alle Bundesländer und für insgesamt 39 Regionen ausgewertet. Der aktuelle Anstieg der Kinderarmut ist vor allem auf die gestiegene Zahl von Flüchtlingen zurückzuführen: Das Armutsrisiko von Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund ist in der Quote sogar leicht von 13,7 auf 13,5 Prozent zurückgegangen ; der Anstieg trifft somit in erster Linie Flüchtlingskinder, die zumeist unterhalb der Armutsgrenze leben müssen. Neue Fakten zum Thema Kinderarmut hat auch die Bertelsmann-Stiftung im September 2016 veröffentlicht10. Die hier zugrunde gelegte Armutsdefinition basiert auf dem Bezug von Leistungen nach SGB II, Datengrundlage ist die Statistik der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg vom August 2016. Danach lebten 2015 rund zwei Millionen Kinder unter 18 Jahren in Familien, die Grundsicherungsleistungen erhielten (sog. Bedarfsgemeinschaften) – 52.000 Kinder mehr als im Jahr 2011. Auch nach dieser Statistik ergeben sich zum Teil erhebliche regionale Unterschiede. Der Paritätische Gesamtverband widmet sich in seinem jüngsten Armutsbericht11 dem Thema Kinderarmut. Datengrundlage ist ebenfalls der Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2015; der Bericht umfasst Daten zur relativen Einkommensarmut von 2005 bis 2015. Danach sind rund 2,5 Millionen Kinder von Armut betroffen; die Armutsquote liegt insgesamt bei 15,7 Prozent (im Vergleich dazu lag sie im Jahr 2005 bei 14,7 Prozent). Angestiegen ist die Armutsquote insbesondere bei den Risikogruppen, darunter Alleinerziehende (43,8 Prozent) und Familien mit drei und mehr Kindern (25,2 Prozent). Auch der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung12 widmet sich dem Thema „Armutsrisiken “. Er weist darauf hin, dass gerade junge Erwachsene in der Phase der Berufsausbildung und des Studiums oder auch durch Phasen der Erwerbslosigkeit besonders häufig in der 9 Kinderarmut in Deutschland: Deutlicher Zuwachs durch Zuwanderung. Neue Auswertung mit Daten für Bund, Länder und Regionen, Pressemitteilung des WSI vom 18.4.2017, abrufbar unter: https://www.boeckler .de/14_108314.htm (Stand: 16.5.2017). 10 Kinderarmut. Kinder im SGB II-Bezug in Deutschland, hg. von der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2016, Ergebnisse abrufbar unter: http://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung /pid/steigende-kinderarmut-beeintraechtigt-chancen-fuers-ganze-leben/ (Stand: 16.5.2017). 11 Menschenwürde ist Menschenrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017, hg. vom Paritätischen Gesamtverband, abrufbar unter: https://www.armutskongress.de/fileadmin/files/Dokumente/AK_Dokumente /armutsbericht-2017.pdf. 12 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder –und Jugendhilfe in Deutschland - 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, Deutscher Bundestag Drucksache 18/11050 vom 1.2.2017, abrufbar unter https://www.bmfsfj.de/blob/115438/d7ed644e1b7fac4f9266191459903c62/15-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache -data.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 – 017/17 Seite 7 Gefahr stehen, die statistische Armutsgrenze zu unterschreiten13. So gilt insgesamt ein Fünftel der 18- bis 25Jährigen als von Armut bedroht; am stärksten betroffen sind erwerbslose junge Menschen im Alter von 25 bis 30 Jahren und Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren mit Migrationshintergrund . Allerdings, auch darauf weist der Bericht hin, ist das Armutsrisiko für junge Menschen in Deutschland deutliche niedriger als in Europa insgesamt. Aus dem Jahr 2012 stammt eine UNICEF-Studie zum Thema Kinderarmut14, der zufolge Deutschland in einem Vergleich hinsichtlich absoluter Entbehrungen nur Platz 15 von 29 Staaten (EU- Länder und Norwegen und Island). Maßstab war hier eine Liste mit 14 Faktoren, die entbehrt werden können – darunter eine warme Mahlzeit am Tag, einen ruhiger Platz für Hausaufgaben, altersgerechtes Spielzeug oder die Möglichkeit zu regelmäßigen Freizeitaktivitäten. Als arm gelten Kinder, die mindestens zwei dieser Faktoren entbehren; in Deutschland war davon jedes 11. Kind betroffen. Im Vergleich nach der Einkommensarmut liegt Deutschland dagegen im oberen Mittelfeld, auf Platz 13 von 35 Ländern. Eine neuere Studie der UNICEF befasst sich mit der Lebenssituation von Kindern in Industrieländern insgesamt und sieht Deutschland sogar auf Platz 22 von 29 Ländern15. Eine effektivere Bekämpfung der Kinderarmut forderten jüngst das Deutsche Kinderhilfswerk und weitere betroffene Institutionen im Rahmen einer öffentlichen Anhörung des Familienausschusses des Deutschen Bundestages 16. Im Kern sprachen sie sich für eine Neugestaltung der Existenzsicherung von Kindern aus, die konzeptionell gebündelt, nachhaltig finanziert und von Politik und Gesellschaft möglichst breit getragen werden solle. *** 13 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 15. Kinder- und Jugendbericht, S. 150. 14 Vgl. Kinderarmut in reichen Ländern: Mittelplatz für Deutschland. Ergebnisse der UNICEF-Vergleichsstudie von 2012, hg. von UNICEF Deutschland, Köln 2012, abrufbar unter: https://www.unicef.de/blob/9298/c7cd8eee86d075a119b7fe104abf0728/rc-10-kinderarmut-reiche-laender-zusammenfassung -2012-pdf-data.pdf. Die komplette Studie ist in englischer Sprache abrufbar unter: https://www.unicef.de/blob/9338/550775748dbe6cacc983c88fedbc4454/ar043-rc10-eng-web-final-29may-2012- pdf-data.pdf . 15 Leistungsstark, aber unglücklich? UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern 2013, abrufbar unter: https://www.unicef.de/blob/18782/7417138f1edd5058dce29dde29d01c8b/unicef-bericht-2013-zusammenfassung -data.pdf (Stand: 16.5.2017); die komplette Studie ist in englischer Sprache abrufbar unter https://www.unicef.de/blob/18784/0adebd56926c7f78b39e1d8249cd6b13/unicef-bericht-2013-originalversionenglisch -data.pdf (Stand: 16.5.2017). 16 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Wortprotokoll der 84. Sitzung vom 20. März 2017, abrufbar unter http://www.bundestag.de/blob/503792/9299ad3f2d188e0718d310f63e423af5/protokoll-data.pdf.