WD 9 - 3000 - 013/21 (9. Februar 2021) © 2021 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. 1. Zur politischen Debatte Derzeit wird mit aller Kraft versucht, die Impfstoffproduktion auszuweiten. Die Pharmaindustrie arbeitet mit Hochdruck an der Forschung, Entwicklung und Produktion des Impfstoffs. Anfang des Jahres 2021 wurden von der Politik nunmehr auch staatliche Eingriffe in die Pharmaindustrie als Möglichkeit diskutiert, um sicherzustellen, dass künftig ausreichend Impfstoffe zur Verfügung stehen. 1 Neben der möglichen Vergabe von Zwangslizenzen wird teilweise auch eine Verpflichtung von Unternehmen zur Impfstoffproduktion erwogen. Der bayerische Ministerpräsident Söder erklärte, es müsse alles getan werden, um alle Produktionskapazitäten so umzustellen, dass mehr Impfstoff produziert würde. Auf die Nachfrage, ob Firmen zur Impfstoffproduktion tatsächlich staatlich verpflichtet werden sollten, erklärte der Ministerpräsident, er bevorzuge eine gemeinsame Vereinbarung. „Sollte das nicht klappen, müsse man aber auch Ersatzpläne in der Schublade haben“, so Söder.2 Ebenso schlossen auch Bundeswirtschaftsminister Altmaier und der Bundesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Habeck staatliche Eingriffe in die Impfstoffproduktion nicht aus.3 Die Regierungsfraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus haben am 6. Januar 2021 in einem gemeinsamen Antrag4 für eine deutliche Erhöhung der verfügbaren Impf- 1 Vgl. die Debatte im Deutschen Bundestag, 203. Sitzung vom 13. Januar 2021, Plenarprotokoll 19/203. 2 Siehe dazu Siller, Althammer, "Not-Impfstoffwirtschaft" – geht das? BR24, 1. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.br.de/nachrichten/wirtschaft/komplexer-schritt-mehr-impfstoffe-durch-mehr-kapazitaeten ,SL7vxMu. 3 Vgl. dpa-AFX, Altmaier: Staat muss Impfstoffproduktion sicherstellen, FinanzNachrichten.de, 1. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2021-02/51880296-altmaier-staat-muss-impfstoffproduktion -sicherstellen-016.htm. 4 Abgeordnetenhaus von Berlin, Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion DIE LINKE. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Über Strategien zur Bewältigung der Corona-Krise vom 6. Januar 2021, BT-Drucksache 18/3277, abrufbar unter: https://www.parlament-berlin.de/ados/18/IIIPlen/vorgang/d18-3277.pdf. Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Verstärkung der Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen gegen das Corona-Virus Kurzinformation Verstärkung der Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen gegen das Corona-Virus Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 dosen plädiert und Bundesgesundheitsminister Spahn aufgefordert, unverzüglich die Möglichkeiten der Lizenzvergabe und der Produktionsanordnung zu nutzen, die ihm das Infektionsschutzgesetz bieten würde.5 Zu klären bleibt, ob eine Verpflichtung der Unternehmen zur Produktion von Impfstoffen überhaupt rechtlich möglich und praktisch umsetzbar wäre. 2. Rechtliche Grundlage Das Infektionsschutzgesetz6 (IfSG) enthält in § 5 Abs. 2 Nr. 4 eine Verordnungsermächtigung, wonach das Bundesministerium für Gesundheit im Rahmen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite durch Rechtsverordnung Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen treffen kann. Nach § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. g) umfasst dies insbesondere Maßnahmen zur Aufrechterhaltung, Umstellung, Eröffnung oder Schließung von Produktionsstätten oder einzelnen Betriebsstätten von Unternehmen, die solche Produkte produzieren. Entsprechend der Gesetzesbegründung7 zu § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. g) können somit zur Sicherstellung der Versorgung mit den Produkten bestimmte Anordnungen getroffen werden, die insbesondere die Produktion des jeweils erforderlichen Produktes sicherstellen. Die Maßnahmen bezögen sich nicht nur auf den Betrieb in Produktionsstätten, sondern können auch Betriebsstätten erfassen, in denen nicht notwendig selbst produziert wird.8 § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. g) könnte insofern als Ermächtigungsgrundlage angeführt werden, um Unternehmen zur Aufnahme einer Produktion oder zur verstärkten Produktion von Vakzinen mittels Rechtsverordnung zu verpflichten. Allerdings wäre bei einer solchen Anordnung zu bedenken, dass die Verpflichtung möglicherweise nicht unerhebliche Grundrechtseingriffe (Grundrecht der Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und die Eigentumsgarantie gemäß Art. 14 Abs. 1 GG) für die betroffenen Unternehmen zur Folge hätte. Dann wiederum würde sich auch die Frage stellen, ob eine Anordnung mit dem Grundsatz des Parlamentsvorbehalts, Art. 80 GG, vereinbar wäre.9 Im Hinblick auf die im Frühjahr und Sommer 2020 herrschende Knappheit an Medizinprodukten , wozu insbesondere Handschuhe und Schutzmasken zählten, hatte der Bayerische Landtag 5 Kiesel, Rot-Rot-Grün in Berlin fordert „Vergesellschaftung“ von Impf-Lizenzen, Tagesspiegel, 5. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/wegen-schleppend-anlaufender-impfungen-rot-rot-gruen-inberlin -fordert-vergesellschaftung-von-impf-lizenzen/26771042.html. 6 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen, Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3136). 7 Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 24. März 2020 (BT-Drucksache 19/18111). 8 BeckOK InfSchR/Dingemann/Gausing, IfSG, § 5, Rn. 31. 9 Siehe im Übrigen zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage auch: Kießling/Hollo, Infektionsschutzgesetz , § 5 IfSG, Rn. 21 ff.; Mayen, Der verordnete Ausnahmezustand – Zur Verfassungsmäßigkeit der Befugnisse des Bundesministeriums für Gesundheit nach § 5 IfSG, AnwaltsblattOnline 2020, S. 398-403, abrufbar unter: https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/anwaeltinnen-anwaelte/anwaltspraxis/coronakrise-derverordnete -ausnahmezustand?page_n1=3. Kurzinformation Verstärkung der Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen gegen das Corona-Virus Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 eine gesetzliche Regelung verabschiedet, mit der eine Anordnungsbefugnis zur Produktion konkret formuliert wurde. Das Bayerische Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) vom 25. März 2020 enthält in Art. 3 eine Regelung, wonach die zuständige Behörde gegenüber Betrieben, die zur Herstellung benötigten medizinischen, pflegerischen oder sanitären Materials technisch und wirtschaftlich in der Lage sind, die vorrangige und umgehende Produktion einer bestimmten Menge dieses Materials anordnen kann, soweit dies zur Aufrechterhaltung der notwendigen Gesundheitsversorgung der Bevölkerung erforderlich ist. In dem Gesetzesentwurf10 heißt es dazu, dass es für eine derartige staatliche Anordnung bisher an einer eindeutigen Befugnisgrundlage im Bundesrecht fehle. Diese solle daher kurzfristig landesrechtlich geschaffen werden und auf diese Weise eine passende Ergänzung zum IfSG des Bundes bilden. Dies bezog sich jedoch auf die bis dahin noch geltende Fassung des IfSG, das erst mit Verabschiedung des Ersten Bevölkerungsschutzgesetzes vom 27. März 202011 die Regelung des § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit g) aufgenommen hat. 3. Praktische Umsetzung Auch wenn mit § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. g) IfSG nunmehr grundsätzlich eine Rechtsgrundlage zur Verpflichtung von Unternehmen hinsichtlich der Impfstoffproduktion bestünde, scheint die praktische Umsetzung problematisch. Die jeweils zuständige Behörde müsste auf Grundlage einer gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 4 lit. g) IfSG erlassenen Verordnung einen Verwaltungsakt an das zu verpflichtende Unternehmen erlassen. Der Verwaltungsakt als Regelung eines konkreten Einzelfalles müsste gemäß § 37 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) hinreichend bestimmt sein, das heißt, der Adressat muss klar, vollständig und eindeutig wissen, was von ihm verlangt wird. Die zuständige Behörde benötigte dazu spezifische Kenntnisse über die Produktionsabläufe und -möglichkeiten des jeweiligen Unternehmens, damit dieses überhaupt in der Lage wäre, dem Verwaltungsakt Folge zu leisten. Erforderlich wäre aber, dass die Behörden in ausreichendem Maße über diese Kenntnis verfügen. Schließlich handelt es sich bei der Impfstoffproduktion, insbesondere bei der neuen mRNA-Technologie, um hochkomplexe Prozesse. Diese benötigen jahrelange Expertise und eine entsprechende bauliche und technologische Ausstattung, so unter anderem BioNTech-Chef Ugur Sahin.12 10 Gesetzentwurf der Staatsregierung für ein Bayerisches Infektionsschutzgesetz vom 17. März 2020, Bayerischer Landtag, Drucksache 18/6945. 11 Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 587). 12 Siehe dazu Blechner, Pharmaindustrie widerspricht Politik, Tagesschau.de, 4. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/streit-um-den-ausbau-der-impfstoffproduktion-101.html; ebenso Andreas Neubert, Chefentwickler des Biopharmakonzerns IDT Biologika, Deutschlandfunk, 9. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/impfstoff-produktion-aus-jeder-herstellungsstaettemuss .694.de.html?dram:article_id=491794. Kurzinformation Verstärkung der Kapazitäten zur Produktion von Impfstoffen gegen das Corona-Virus Fachbereich WD 9 (Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend) Wissenschaftliche Dienste Seite 4 Die Unternehmen sind im Übrigen bereits im eigenen Interesse auf der Suche nach geeigneten Produktionspartnern.13 *** 13 Vgl. Metzger, Kann Staat Biontech zu Lizenzvergabe zwingen? ZDF.de, 28. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-impfstoff-biontech-lizenzproduktion-100.html. Vergleiche dazu Dostert, Impfstoff lässt sich nicht erzwingen, Süddeutsche Zeitung, 4. Februar 2021; Siller, Althammer, "Not-Impfstoffwirtschaft" – geht das? BR24, 1. Februar 2021, abrufbar unter: https://www.br.de/nachrichten /wirtschaft/komplexer-schritt-mehr-impfstoffe-durch-mehr-kapazitaeten,SL7vxMu; Gontek, Müller, Schulz, Warum es so schwierig ist, schnell mehr Impfstoff herzustellen, Spiegel.de, 29. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-warum-es-so-schwierig-ist-schnell-mehr-impfstoff-herzustellen-a- 00000000-0002-0001-0000-000175089041.