© 2020 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 011/20 Ärztlich assistierter Suizid Zur Diskussion über mögliche Regelungen für Ärztinnen und Ärzte Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Zur Bedeutung von Patientenverfügungen 9 2.2.2. Psychisch Erkrankte 11 2.2.3. An Demenz Erkrankte 13 2.2.4. Suizidwillige Minderjährige 14 2.3. Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Selbsttötungswillens 16 3. Die Bedeutung der ärztlichen Begleitung 17 3.1. Standesrechtliche Vorgaben 17 3.2. Dokumentationspflichten 19 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 4 1. Vorbemerkung Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 26. Februar 2020 entschieden1, dass das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung gemäß § 217 Strafgesetzbuch (StGB)2 mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist. Daraus folge jedoch nicht, dass sich der Gesetzgeber einer Regulierung der Suizidhilfe zu enthalten habe. Er, der Gesetzgeber, habe vielmehr auf der Basis der ihm obliegenden Schutzpflichten hinsichtlich der Autonomie über die Entscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens einen Handlungsspielraum. Das BVerfG stellt in diesem Zusammenhang ausdrücklich fest, dass dem Gesetzgeber für die Ausfüllung dieses Spielraums ein „breites Spektrum an Möglichkeiten“ offenstehe. Das Gericht hat in seinem ersten Leitsatz festgestellt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Dies umfasse auch die Freiheit, dafür bei Dritten Hilfe zu suchen und, wenn sie angeboten wird, anzunehmen. Allerdings bewege sich die Regelung der assistierten Selbsttötung im Spannungsverhältnis verschiedener verfassungsrechtlicher Schutzaspekte. Einerseits sei es die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung entscheide, sein Leben selbst zu beenden und dafür Unterstützung suche. Andererseits gebe es eine Pflicht des Staates, zum einen die Autonomie Suizidwilliger zu schützen, zum anderen aber auch das hohe Rechtsgut Leben zu bewahren. Im Hinblick auf diese Vorgaben werden vor allem das ärztliche Handeln und der Umgang mit suizidwilligen Patienten bei der Diskussion um eine Neuregelung besonders im Fokus stehen. Dies gilt vor allem für die ärztliche Aufklärung und Beratung, bei der die Frage im Vordergrund steht, ob der Suizidwillige einwilligungsfähig ist, oder ob er, wenn dies nicht der Fall ist, eine wirksame Patientenverfügung erteilt hat. Vor großen Herausforderungen bei der Abwägung ihrer Behandlung stehen Ärzte dann, wenn sie mit Patienten umgehen, die an einer psychischen Krankheit leiden oder an Demenz erkrankt sind. Denkbar ist auch, dass sie mit Suizidwünschen von Minderjährigen konfrontiert sind. Diese Frage haben der niederländische und der belgische Gesetzgeber aufgegriffen3. Mit Blick darauf wird dies auch in Deutschland bei der Diskussion um künftige Änderungen bei der Sterbehilfe von einigen Autoren hinterfragt. Auf Antrag der Fraktion der FDP hat im Februar 2019 im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages eine Öffentliche Anhörung zum Thema „Rechtssicherheit für schwer und unheilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen“ stattgefunden, die bereits im Vorfeld der jetzt vorliegenden Entscheidung des BVerfG gezeigt hat, dass das Thema des ärztlich assistierten Suizids nach wie vor kontrovers diskutiert wird. 1 BVerfG-Urteil vom 26. Februar 2020, Az: 2 BvR 2347/15, abrufbar bei juris (nachfolgend zitiert: „BVerfG, Rn.“). 2 Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 3. März 2020 (BGBl. I S. 431). 3 Vgl. hierzu auch die Dokumentation „Organisierte Sterbehilfe und ärztlich assistierter Suizid in der Schweiz, den Niederlanden und Belgien, 13. Mai 2020, WD 9 - 3000 - 017/20. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 5 Die vorliegende Ausarbeitung greift auftragsgemäß einige Fragestellungen auf, die Gegenstand einer künftigen gesetzlichen Vorgabe sein könnten und zeigt dabei Bezüge zu anderen medizinischen Rechtsbereichen auf, aus denen sich möglicherweise Überlegungen für eine Neuregelung ableiten lassen. 2. Das Vorliegen einer freien Suizidentscheidung des Suizidwilligen 2.1. Aufklärungs- und Beratungspflichten gegenüber Einwilligungsfähigen Das BVerfG hat in seiner Entscheidung die Bedeutung der Beratung und Aufklärung des Suizidwilligen hervorgehoben. Es setzt für eine freie Suizidentscheidung „zwingend eine umfassende Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen voraus, um sicherzustellen , dass der Suizidwillige nicht von Fehleinschätzungen geleitet, sondern tatsächlich in die Lage versetzt wird, eine realitätsbezogene, rationale Einschätzung der eigenen Situation vorzunehmen . Nur auf diese Weise wird sichergestellt, dass sich der Betroffene – in Kenntnis aller relevanten Umstände – für den eigenen Tod entscheiden kann.“4 Das BVerfG hat damit klargestellt, dass der verantwortungsbewussten Aufklärung und Beratung durch den behandelnden Arzt ein besonderer Stellenwert zukommt. Insoweit stellt sich die Frage, ob und in welcher Form die Aufklärungs- und Beratungspflicht für Ärzte im Rahmen einer künftigen gesetzlichen Neuregelung der Sterbehilfe ausdrücklich benannt und definiert wird. 2.1.1. Zu gesetzlichen Regelungen in anderen medizinischen Rechtsbereichen Der Gesetzgeber hat in verschiedenen anderen Rechtsbereichen, bei denen gesundheitliche Eingriffe durch Ärzte vorgenommen werden, Aufklärungs- und Beratungspflichten gesetzlich geregelt. Grundlegende gesetzliche Vorgaben wurden durch die Verankerung des ärztlichen Behandlungsvertrags im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)5 mit dem Patientenrechtegesetz6 geschaffen. Mit diesem Gesetz sollte sichergestellt werden, dass für den Patienten transparente gesetzliche Regelungen bestehen und dass dieser vor einer Behandlung verlässliche Informationen erhält, um sich eigenverantwortlich und selbstbestimmt für oder gegen einen anstehenden Eingriff entscheiden zu können.7 Dementsprechend verpflichtet das Gesetz in § 630c Abs. 2 und 3 BGB den Arzt zu Beginn der Behandlung zu einer ausführlichen Information des Patienten. Absatz 2 benennt eine Reihe von Aspekten, die diese Information enthalten muss. Zur Vorbereitung des nächsten Schritts, der Einwilligung des Patienten in einen konkreten gesundheitlichen Eingriff gemäß § 630d BGB, ist 4 Urteil des BVerfG, Rn. 246. 5 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003, I S. 738), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 19. März 2020 (BGBl. I S. 541). 6 Gesetz zur Verbesserung der Rechte der Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013 (BGBl. I S. 277). 7 Vgl. die Begründung im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BT-Drs. 17/10488 vom 15. August 2012, S. 9. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 6 der zu Behandelnde nach § 630e BGB über sämtliche wesentliche Umstände der durchzuführenden Maßnahme aufzuklären, insbesondere über deren Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken sowie deren Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung, Erfolgsaussichten und darüber hinaus auch über mögliche Alternativen. § 630e Abs. 2 BGB enthält weitere Vorgaben über die Form und den Zeitpunkt der Aufklärung. Eine ausführliche Übersicht über die Aufklärungs- und Informationspflichten des Arztes gemäß §§ 630a ff. BGB hat die Landesärztekammer Baden-Württemberg gemeinsam mit den Bezirksärztekammern veröffentlicht: Merkblatt – Die Aufklärungs- und Informationspflichten des Arztes.8 Dieses Merkblatt enthält auch Informationen, wie Ärzte sich in besonderen Situationen, etwa im Falle ärztlicher Eingriffe bei Minderjährigen bzw. Einwilligungsunfähigen, zu verhalten haben. Regelungen über die grundsätzliche Aufklärungspflicht von Ärzten vor der Durchführung medizinischer Behandlungen enthalten im Übrigen die Berufsordnungen der Ärztinnen und Ärzte. Diese wiederum orientieren sich an der (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 –9. Das Arzneimittelgesetz (AMG)10 sieht bei der Durchführung von klinischen Prüfungen von Arzneimitteln bei Menschen vor, dass die Betreffenden von dem betreffenden Arzt aufzuklären sind und dass ihnen Gelegenheit zu einem Beratungsgespräch gegeben wird, § 40 Abs. 2 Satz 1 und 2 AMG. Die Formulierungen in § 40 AMG beruhen auf der Umsetzung der EU-Richtlinie 2001/20/EG (hier Art. 2j), siehe hierzu: Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drs. 15/2109 vom 1. Dezember 2003. Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, sind gemäß § 218c Abs. 1 Nr. 2 StGB verpflichtet, die Schwangere „über die Bedeutung des Eingriffs, insbesondere über Ablauf, Folgen, Risiken, mögliche physische und psychische Auswirkungen“ ärztlich zu beraten. Unterlassen sie dies, machen sie sich wegen der Verletzung der ärztlichen Pflicht strafbar. Gemäß § 8 Abs. 2 Transplantationsgesetz (TPG)11 ist bei der Entnahme von Organen und Geweben von lebenden Spendern eine ausführliche Aufklärung durch den Arzt verpflichtend. Die notwendigen Inhalte der Aufklärung sind in den Ziffern 1 bis 6 enthalten. Gemäß Absatz 2 Satz 3 TPG hat die Aufklärung in Gegenwart eines weiteren Arztes zu erfolgen. Der Gesetzgeber hat diese Pflicht des Arztes besonders streng formuliert und in § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG darüber 8 Stand: Februar 2016, abrufbar unter: https://www.aerztekammerbw .de/10aerzte/40merkblaetter/10merkblaetter/aufklaerungspflicht.pdf. 9 In der Fassung des Beschlusses des 118. Deutschen Ärztetages 2015 in Frankfurt am Main, abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf- Ordner/MBO/MBO_02.07.2015.pdf (siehe § 8). 10 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln in der Fassung des Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394), zuletzt geändert durch Art. 16a Abs. 3 des Gesetzes vom 28. April 2020 (BGB. I S. 960). 11 Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben in der Fassung der Bekanntmachung vom 4. September 2007 (BGBl. I S. 2206), zuletzt geändert durch Art. 16 des Gesetzes vom 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 7 hinaus strafbewehrt. Der potenzielle Organspender soll dadurch davor geschützt werden, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen, die Vorgaben dienen damit „dem Schutz des Spenders vor sich selbst“.12 Vor der Durchführung einer genetischen Untersuchung, die nur mit Einwilligung der betreffenden Person erfolgen darf, ist nach dem Gendiagnostikgesetz (GenDG)13 eine ausführliche Aufklärung durch den verantwortlichen Arzt vorgesehen, § 9 GenDG. Die notwendigen Inhalte der Aufklärung sind in § 9 Abs. 2 benannt. Der Gesetzgeber hat mit der Ausgestaltung dieser Regelung die große Bedeutung zum Ausdruck gebracht, die er der Aufklärung als Voraussetzung für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des Betreffenden beimisst.14 Dies steht im Zusammenhang mit den grundlegenden Zielsetzungen des Gesetzes, „die mit der Untersuchung menschlicher genetischer Eigenschaften verbundenen möglichen Gefahren von genetischer Diskriminierung zu verhindern und gleichzeitig die Chancen des Einsatzes genetischer Untersuchungen für den einzelnen Menschen zu wahren.“15 Im Kastrationsgesetz (KastrG)16 ist nach § 3 Abs. 1 die Wirksamkeit der Einwilligung des Betroffenen davon abhängig, dass er über andere Behandlungsmöglichkeiten und sonstige Umstände , die für ihn erkennbar bedeutsam für seine Einwilligung sind, aufgeklärt worden ist. § 5 Abs. 1 Ziffer 1 KastrG schreibt außerdem vor, dass die Durchführung der Aufklärung (des Betroffenen und anderer Personen) durch ein ärztliches Mitglied der Gutachterstelle erfolgt ist und dies von der Gutachterstelle bestätigt worden ist. 2.1.2. Veröffentlichungen zu Aufklärungs- und Beratungspflichten In der Literatur wird der Bedarf nach klaren gesetzlichen Regelungen schon seit vielen Jahren behandelt, dabei wird häufig der Vergleich zu den Rechtsgrundlagen in den Nachbarländern gezogen . Schöne-Seifert begründet den Bedarf nach einer ausführlichen gesetzlichen Regelung vor allem mit ethischen Argumenten. Hervorzuheben sei die moralische Garantenpflicht von Ärzten, Patienten über ihre Prognose umfassend auch hinsichtlich des Wunsches nach einem Therapieverzicht zu informieren. Insbesondere die Autonomie zu Behandlungsentscheidungen von nicht 12 Siehe das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 29. Januar 2019, VI ZR 495/16 und VI ZR 318/17, abrufbar bei juris. 13 Gesetz über genetische Untersuchungen bei Menschen, Gesetz vom 31. Juli 2009 (BGBl. I S. 2529, 3672), zuletzt geändert durch Art. 23 des Gesetzes vom 20. November 2019 (BGBl. I S. 1626). 14 Vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen, BT-Drs. 17/10532 vom 13. Oktober 2008, S. 27. 15 BT-Drs. 17/10532, S. 1. 16 Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden vom 15. August 1969 (BGBl. I S. 1143), zuletzt geändert durch Art. 2 Abs. 8 des Gesetzes vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 8 mehr selbstbestimmungsfähigen Kranken müsse geschützt werden. Hierfür führt die Autorin zivilrechtliche Absicherungen zur antizipierten Autonomie von einwilligungsunfähigen Patienten an, wie beispielsweise Patientenverfügungen und medizinische Vollmachten.17 Mackor erläutert die Rechtslage zur Sterbehilfe in den Niederlanden und macht in diesem Zusammenhang auch Ausführungen zur nötigen Aufklärung. Ärzte müssten Suizidwillige unter Hinzuziehung eines weiteren unabhängigen Arztes über deren Krankheitszustand und vernünftige Alternativen zur Palliativmedizin informieren, denn nur ein vollständig aufgeklärter Patient könne eine wohlerwogene Entscheidung über die Sterbehilfe treffen.18 Ausgehend von der Situation im Vereinigten Königreich führt Sanders denkbare Inhalte für künftige gesetzliche Regelungen auf: Starre Verbotsregelungen könnten Zwang oder Druck auslösen und zum vorzeitigen Sterben der Suizidwilligen führen, weil leidenden Patienten der Zugang zu Rat und Hilfe erschwert würde. Es müsse sichergestellt werden, dass das „Opfer“ jedenfalls einen freiwillig gefassten, klaren, endgültigen und auf hinreichender Information beruhenden Wunsch zu sterben habe, gleichgültig, ob der Tod selbst (mit Unterstützung anderer) oder vollständig durch eine andere Person herbeigeführt werden solle. Im Übrigen sei das Missbrauchsrisiko deutlich geringer, wenn der Wunsch zu sterben von Experten überprüft und gegebenenfalls umgesetzt würde.19 Vor dem Hintergrund der Rechtslage in Frankreich erläutert Schrader verschiedene Fallkonstellationen hinsichtlich des nachweislichen Willens des Suizidenten. Dabei befasst er sich insbesondere mit Fragen, die sich ergeben, wenn kein eindeutiger Wille des Betreffenden zu erkennen ist. Anhaltspunkte könnten sich dann aus Patiententestamenten, Betreuungsverfügungen oder auch vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit abgegebenen Äußerungen und Erklärungen ergeben . Es müsse auf einen „individuellen hypothetischen Willen“ des Patienten abgestellt werden. Deshalb sei nach Äußerungen des Patienten, auch zu dessen religiöser Überzeugung oder allgemeiner Lebenseinstellung zu suchen, wobei Angehörige und dem Patienten nahestehende Personen mit einbezogen werden sollten. Fehle es auch an solchen konkreten Anhaltspunkten, müssten bei der Konkretisierung des mutmaßlichen Willens des Patienten Betreuungspersonen und das Betreuungsgericht einbezogen werden.20 17 Schöne-Seifert, Bettina, Medizinische Behandlung am Lebensende – Welche zivilrechtlichen Absicherungen der Patientenautonomie sind hier aus ethischer Sicht wünschenswert?, in: Brudermüller et al., Suizid und Sterbehilfe, 2003, S. 119-134. 18 Siehe: Mackor, Anne Ruth, Sterbehilfe in den Niederlanden, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), 2016, S. 24-48, abrufbar unter: https://www.degruyter.com/view/journals/zstw/128/1/articlep 24.xml (darin Gliederungspunkte 3. Der Arzt hat den Patienten informiert, 4. Keine vernünftige Alternative, 5. Konsultierung eines unabhängigen Arztes). 19 Sanders, Andrew, Die Regelung der Sterbehilfe im Vereinigten Königreich, in: ZStW, 2016, S. 60-72, abrufbar unter: https://www.degruyter.com/view/journals/zstw/128/1/article-p49.xml (Gliederungspunkt V. Unterschiedliche Regelungen für Hilfe beim Sterben: Minderung und Erhöhung des Schadens). 20 Schrader, Tobias, Sterbehilfe - Geschichte und Recht in Europa am Beispiel von Deutschland und Frankreich, 2012, (S. 62-69). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 9 2.2. Aufklärung und Beratung im Umgang mit Suizidwilligen in besonderen Lebenssituationen Eine wohl abgewogene Entscheidung über die mögliche Ausgestaltung von ärztlichen Aufklärungs - und Beratungspflichten wird es erfordern, dass außergewöhnliche Lebensumstände der Suizidwilligen und ihre Fähigkeit zum Treffen einer verantwortlichen, selbstbestimmten Entscheidung besonders in den Blick genommen werden. 2.2.1. Zur Bedeutung von Patientenverfügungen Das BVerfG zitiert in seiner Entscheidung die Auffassung des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof: Der Gesetzgeber habe „mit den Regelungen zur Patientenverfügung in §§ 1901a f. BGB der autonomen Entscheidung des Einzelnen den Vorrang gegenüber einer Verpflichtung zur Ausschöpfung aller Mittel zur Lebenserhaltung eingeräumt“.21 Nach der Legaldefinition in § 1901a Abs. 1 BGB ist die Patientenverfügung die Festlegung eines einwilligungsfähigen Volljährigen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit, ob er in bestimmte , zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustands, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Damit stellt die Patientenverfügung für den Umgang mit Sterbenden ein heranziehbares Instrument antizipativer Selbstbestimmung dar und kann insbesondere die Willensäußerungen derjenigen dokumentieren, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr in der Lage sind, ihre Einwilligung zu erklären. Dies ist von besonderer Bedeutung bei psychisch oder an Demenz Erkrankten. § 1901a BGB wurde durch Art. 1 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts eingefügt .22 In erster Linie sollte damit das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gestärkt werden, wozu es – so der Gesetzgeber in der Begründung – gehöre, Entscheidungen für die Zeit zu treffen, in der man etwa nach einem Unfall oder im Falle einer schweren Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen23. Bis heute werden allerdings Fragen zur Umsetzung in der Praxis aufgeworfen, sowohl hinsichtlich der Abfassung von Patientenverfügungen als auch zu deren Verständnis und Handhabung durch Angehörige, Betreuer, Pflegepersonen und Ärzte. Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz hat eine Broschüre zur Patientenverfügung veröffentlicht (Stand: 1. August 2019), abrufbar unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Patientenverfuegung.html. Das Ministerium bietet darüber hinaus auf seiner Internetseite – auf die auch vom Bundesministerium für Gesundheit verwiesen wird – Textbausteine als Formulierungshilfen für Patientenverfügungen, 21 BVerfG-Urteil, Rn. 127. 22 Gesetz vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2286), in der Fassung vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2426). 23 Siehe Gesetzentwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts vom 6. März 2008, BT-Drs. 16/8442, S. 8. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 10 siehe: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Formulare/Patientenverfuegung_Textb austeine_word.html. Anlässlich der Besprechung einer Entscheidung des BGH zu Schadensersatzansprüchen im Zusammenhang mit der Lebenserhaltung durch ärztliche Maßnahmen vom 2. April 2019 befassen sich die Autoren Andreas Spickhoff und Silvia Deuring auch mit der Frage der Auslegung von Patientenverfügungen. Sie weisen auf Leitlinien des Familiensenats des BGH zu den Anforderungen des § 1901a BGB an eine wirksame Patientenverfügung hin. Wesentlich sei „die zeitliche Nähe der Verfügung zum Vorgang, der konkrete Bezug zur aktuellen Behandlungssituation und die Erkennbarkeit von Zielvorstellungen des Betroffenen, während bloße Wünsche nicht für eine verbindliche Patientenverfügung genügen, ebenso wenig wie allgemein gehaltene Inhalte“.24 Die Bundesärztekammer hat „Hinweise und Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag“ veröffentlicht (Stand: 25. Oktober 2018)25. Sie führt darin u. a. aus, dass der Arzt in den konkreten Fällen, in denen sich trotz einer Patientenverfügung der konkrete Wille der Patienten nicht feststellen lasse, den mutmaßlichen Willen festzustellen habe. In dem Beitrag „Medizinische Behandlung am Lebensende – Welche zivilrechtlichen Absicherungen der Patientenautonomie sind hier aus ethischer Sicht wünschenswert?“ schlägt die Autorin Schöne-Seifert vor, gerade nicht auf den „unscharfen Oberbegriff“ des mutmaßlichen Willens abzustellen, sondern ggfs. verschiedene Prüfphasen bei der Willensermittlung zu durchlaufen: An erster Stelle stehe der Rückgriff auf die Inhalte eindeutiger Vorausdirektiven, also früherer Willensakte eines autonom Handelnden. Wenn dies nicht möglich sei, müsse man im nächsten Schritt nach den Interessen des Patienten „im Lichte relevanter früherer Wünsche, Werte- und Erlebnisinteressen“ entscheiden. Wenn sich hierbei kein eindeutiger Wille ermitteln lasse, müssten die Entscheidungen schließlich aufgrund „objektiv verstandener Interessen“ getroffen werden .26 Nach Ansicht von Eibach wird bei dem Rückgriff auf frühere sog. eigenständige Entscheidungen des Patienten über die spätere Behandlung übersehen, dass zwar jeder für sich selbst bestimmen sollte, was für ihn gut und richtig ist, dass aber gar nicht klar sei, nach welchen Kriterien der Patient diese Entscheidung fällen soll und dass er gerade dann, wenn er sich möglicher- 24 Spickhoff/Deuring, Haftung wegen Lebenserhaltung?, Zugleich Besprechung von BGH, Urteil vom 2. April 2019, Az. VI ZR 13/18, in: JuristenZeitung (JZ), 2019, Heft 17, S. 815-824, abrufbar unter: https://viewer.content-select.com/pdf/viewer?id=4921&id_type=doi&identifiers=10.1628%2Fjz-2019- 0296&signature=efdcdf9839065ad2d1fa48306ff9e1425c3942f7&frontend=1&language=deu&session=Yij73Uvc64 s0TJWF4q69O3eur4sx4fmqVptvGa9KLu5Vunu5dq2MfEFZyOn0tiBg. 25 Veröffentlicht in: Deutsches Ärzteblatt, 24. Dezember 2018, A 2434-2441, abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf- Ordner/Patienten/Hinweise_Patientenverfuegung.pdf. 26 Schöne-Seifert, Bettina, in: Brudermüller, Gerd/Marx, Wolfgang/Schüttauf, Konrad (Hrsg.), Suizid und Sterbehilfe , 2003, S. 119-134 (S. 129 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 11 weise in einer schweren Lebenskrise befinde (etwa bei einer beginnenden schweren Erkrankung), durch die Forderung nach autonomer Selbstbestimmung überfordert werde.27 In ihrer Dissertation zum Thema „Recht auf Sterben?!“ befasst sich die Autorin Fischer auch intensiv mit der Frage der inhaltlichen Ausgestaltung der Patientenverfügung. Auch sie stellt fest, dass die antizipierte Abfassung der Verfügung trotz denkbarer Fallaufzählungen Lücken haben könne und werde und dass bestimmte Formulierungen (bewusst) unbestimmt gefasst würden. Eine sinnvolle Ergänzung könnten ausführliche Gespräche sein, die die nächsten Angehörigen mit dem Patienten führen und die ihnen für die spätere kritische Situation einen guten zusätzlichen Einblick in die Willensrichtung des Patienten geben könnten.28 In dem Beitrag „Selbstbestimmung bis zum Lebensende – Illusion oder Wirklichkeit?“ empfiehlt Holland, dass die Betreffenden ihre Patientenverfügung wiederholt daraufhin überprüfen, ob sie Änderungsbedarf sehen. Gegebenenfalls sollten sie die Verfügung auch wiederholt unterschreiben und die ihnen wichtigen Inhalte mit ihren Angehörigen besprechen, was zum einen der Sicherheit des Betreffenden über das von ihm Formulierte diene und zum anderen die Angehörigen besser über die Zielrichtung und das Verständnis der Formulierungen informiere.29 2.2.2. Psychisch Erkrankte Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts kann ein autonom gebildeter, freiwilliger Suizidentschluss des Einzelnen nur auf der Grundlage einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider getroffen werden. Für eine solche Abwägung bis zur freien Suizidentscheidung sei jedoch zunächst die Fähigkeit erforderlich, „seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können.“30 Nach den allgemeinen Regeln des Arztrechts, die nunmehr in § 630d Abs. 1 BGB ausdrücklich geregelt sind, ist bei bestehender Einwilligungsfähigkeit allein der Betroffene zu einer Entscheidung über die medizinische Behandlung berechtigt. Danach bedarf es für die Einwilligung nicht der Geschäfts-, sondern allein der natürlichen Einsichtsfähigkeit. Der Patient muss nach seiner geistigen und sittlichen Entwicklung die Bedeutung und Tragweite seines Entschlusses ermessen können. Unter diesen Bedingungen hat auch der psychisch kranke Mensch das Recht, bestimmte Behandlungsmaßnahmen vollständig abzulehnen oder sich für Alternativen zu entscheiden. 27 Eibach, Ulrich, Ist nur ein selbstbestimmtes Sterben ein menschenwürdiges Sterben? Anfragen an die Patientenverfügung , in: Hampel, Klaus (Hrsg.), Menschenwürde an der Grenze des Lebens, 2007, S. 17-34 (S. 28). 28 Fischer, Elena, 2003, S. 138-156 (145). 29 Holland, Klaus, in: Burgheim, Werner (Hrsg.), Die Rechte der Sterbenden zwischen Euthanasie und Lebensverlängerung um jeden Preis, 2006, S. 15-83 (62 f.). 30 BVerfG, Rn. 240 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 12 Ist der Patient nach § 630d Abs. 1 Satz 2 BGB einwilligungsunfähig, so muss die Einwilligung eines hierzu Berechtigten (Eltern, Vormund, Betreuer) eingeholt werden, sofern nicht eine Patientenverfügung gemäß § 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB die Maßnahme gestattet oder untersagt. Problematisch sind in der Praxis die Fälle, bei denen der Betreffende an einer diagnostizierten psychischen Störung leidet, er aber nicht offenkundig einwilligungsunfähig im Sinne von § 630d Abs. 1 Satz 2 BGB ist. Spittler verweist in diesem Zusammenhang auf den weitgehend bestehenden Konsens, dass beim Vorliegen einer psychischen Störung in einem fachpsychiatrischen Gutachten zu prüfen sei, ob der Betreffende urteilsfähig ist und ob die Störung vorab nach einer Therapie verlange und ob diese aussichtsreich und zumutbar ist.31 In jedem Fall kann davon ausgegangen werden, dass der Umgang mit suizidwilligen psychisch Erkrankten für alle Beteiligten eine große Herausforderung bedeutet. Es stellen sich bei der Beurteilung eine Reihe von Fragen: Ist der Suizidwille unmittelbar auf die psychische Störung zurückzuführen und gehört er damit zum Krankheitsbild? Ist der Suizidwille wirklich „stabil“? Besteht die Möglichkeit, dass veränderte Umstände im Umfeld des Suizidwilligen dessen Sterbewunsch noch einmal beeinflussen? Der Sachverständige Dr. de Ridder hat in seiner Stellungnahme zur Öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses „Rechtssicherheit für schwer und unheilbar Erkrankte in einer extremen Notlage schaffen“ am 20. Februar 2020 hervorgehoben, dass Menschen mit Suizidgedanken, die unter einem primär psychiatrischen Krankheitsbild leiden oder sich in einer akuten Lebenskrise befinden, schnelle und fachgerechte psychiatrische Hilfe benötigten, um vor der Umsetzung ihre Suizidwillens bewahrt zu werden. Allerdings müsse man diesen Patienten auch durchaus das Recht zusprechen, grundsätzlich eine frei verantwortliche Suizidentscheidung zu treffen.32. Das Ethikkomitee der Stiftung Liebenau hat im Jahr 2014 eine Stellungnahme zum Thema „Beihilfe zum Suizid in ethischer Bewertung“ veröffentlicht.33 Die Verfasser verweisen darin auf die Empfehlungen der Nationalen Ethikkommission vom 27. April 2005, die unter Ziffer 6, bezogen auf psychische Krankheiten, festgestellt hat: „Bei psychisch kranken Menschen sind Todesund Suizidwünsche häufig Ausdruck oder Symptom ihrer Erkrankung. Deshalb bedürfen Suizidwillige, die unter psychischen Krankheiten leiden – allein oder in Kombination mit somatischen Krankheiten – in erster Linie einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung. Wenn der Suizidwunsch Ausdruck oder Symptom einer psychischen Erkrankung ist, soll keine Beihilfe zum Suizid geleistet werden.“ 31 Spittler, Johann Friedrich, Eckpunkte zu einem Suizidhilfe-Gesetz – eine ärztliche und speziell psychiatrische Sicht, in: Neue Juristische Online Zeitschrift (NJOZ), 2020, S. 545-548 (546). 32 Eingang der Stellungnahme im Gesundheitsausschuss am 18. Februar 2020, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/594144/c61b70c72857a4f03323ac3ecd348f96/19_14_0062-8-_ESV-Drde -Ridder_Rechtssicherheit-Schwerkranke-data.pdf (S. 4). 33 Die Stellungnahme liegt inzwischen in 2. Auflage (2016) vor und ist abrufbar unter: https://mediathek.stiftungliebenau .de/stellungnahme-beihilfe-zum-suizid-in-ethischer-bewertung/56239600/26. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 13 2.2.3. An Demenz Erkrankte Mit Verweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte führt das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf Schwerkranke, zu denen auch an Demenz Erkrankte zählen, aus, dass „in Zeiten zunehmenden Fortschritts in der Medizin und gestiegener Lebenserwartung […] niemand dazu gezwungen werden darf, entgegen dem eigenen Selbstverständnis und der persönlichen Identität bis ins hohe Alter oder im Zustand schweren körperlichen oder geistigen Verfalls weiterzuleben.“34. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. stellt fest, dass Demenzerkrankungen an sich keine Risikofaktoren für Selbsttötungen im Alter seien. Dies werde zum Teil damit begründet, dass die Demenzerkrankung die Wahrnehmung der eigenen Defizite trübe und dazu führe, dass die Betroffenen ihre Lebensqualität in der Regel positiver einschätzen würden als ihre Angehörigen. Die Demenz entwickle sich häufig vergleichsweise langsam, was zur Folge habe, dass sich die Patienten an das fortschreitende Abnehmen der Leistungsfähigkeit und Eigenständigkeit gewöhnen würden. Mit fortschreitender Erkrankung nehme im Übrigen die Fähigkeit ab, einen Suizid zu planen und auszuführen.35 Wenn eine Demenzerkrankung mit Suizidwillen einhergehe, seien Angehörige, Betreuer und Ärzte besonders gefordert, etwa um festzustellen, ob der Suizidwille auf eine „verschleierte“ Depression hindeute und die weitere Behandlung des Patienten darauf ausgerichtet werden müsse. Nach Ansicht von Lauter steht der Arzt, der einen suizidwilligen Demenzkranken behandelt, auch hier vor einer großen Herausforderung. Er habe zu prüfen, ob der Selbsttötungswille freiverantwortlich und dauerhaft bestehe, ob der Demente seinen Tod tatsächlich wünsche oder aber das Bedürfnis nach mehr ärztlichem Beistand, pflegerischer oder mitmenschlicher Zuwendung habe. Um dies beurteilen zu können, müsse ein ausreichendes und längerfristiges Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und seinem Patienten bestehen36 Patientenverfügungen können bei Abwägungsfragen von Ärzten und Angehörigen eine wichtige Rolle spielen. Petermann, der sich ausführlich mit dem Thema der Demenzerkrankten befasst hat, behandelt drei Wege, wie mit dem Suizidwunsch der Patienten umgegangen werden könne: Mit Hilfe des assistierten Suizids, der direkten aktiven Sterbehilfe oder dem Unterlassen der Behandlung bzw. des Behandlungsabbruchs. Besondere Bedeutung werde zukünftig die Weiter- 34 BVerfG, Rn. 302-304. 35 Siehe: Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V., Archiv Alzheimer Info, Demenz und Selbsttötung, abrufbar unter: https://www.deutsche-alzheimer.de/unser-service/archiv-alzheimer-info/demenz-und-selbsttoetung.html; grundlegend zur Demenzerkrankung siehe auch Ulrich, Hans, Anthropologie der Endlichkeit – der Beitrag psychiatrischer Krankheit, speziell der Demenzerkrankungen, zu unserem Verständnis vom Menschen, in: Kumbier, Ekkehardt/Teipel, Stefan, Herpertz, Sabine (Hrsg.), Ethik und Erinnerung, S. 109-128 (117 ff.). 36 Lauter, Hans, Ärztliche Entscheidungen am Lebensende, in: Kumbier, Ekkehardt/Teipel, Stefan, Herpertz, Sabine (Hrsg.), Ethik und Erinnerung, S. 73-90 (79 f.). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 14 entwicklung der Patientenverfügung haben, die sicher auch Auslegungsanweisungen für Unvorhergesehenes enthalten müsse.37 2.2.4. Suizidwillige Minderjährige Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Grundsatzentscheidung nicht ausdrücklich zum Umgang mit suizidwilligen Minderjährigen geäußert. Im Abschnitt zur Rechtslage im Ausland erwähnt das Gericht aber die Regelungen zum ärztlich assistierten Suizid von Minderjährigen in den Niederlanden und Belgien; in diesen Ländern darf auch Minderjährigen unter bestimmten Voraussetzungen Sterbehilfe geleistet werden. Regelungen, die unter bestimmten Voraussetzungen medizinische Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen auf Grund deren Einwilligung zulassen, finden sich insbesondere in folgenden Bereichen: beim ärztlichen Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient gemäß § 630a ff. BGB, wenn der minderjährige Patient über die nötige Einsichtsfähigkeit verfügt, bei der klinischen Prüfung von Medikamenten gemäß § 40 Abs. 4 AMG durch gesunde Kinder, bei der klinischen Prüfung von Medikamenten gemäß § 41 Abs. 2 AMG durch erkrankte Kinder, bei der klinischen Prüfung von Medizinprodukten gemäß § 20 Abs. 4 Medizinproduktegesetz (MPG)38, im Rahmen der Lebend-Organspende bei der Entnahme von Knochenmark gemäß § 8a TPG, bei der Organentnahme von verstorbenen Spendern gemäß § 3 TPG in den Fällen, in denen der Spender minderjährig und im Besitz eines Organspendeausweises war. Der Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient wird nach den allgemeinen Regeln des Zivilrechts geschlossen. Der eigenständige Abschluss eines Behandlungsvertrags i. S. v. § 630a BGB durch einen Minderjährigen bestimmt sich nach den in §§ 104 ff. BGB normierten Regelungen zur Geschäftsfähigkeit. Der Gesetzgeber hat darin ein zum Schutz der altersbedingten Verstandesreife von Minderjährigen starres, auf zwingende Altersgrenzen abstellendes Stufensystem verschiedener Geschäftsfähigkeiten geschaffen. Der Minderjährige bedarf damit zum Abschluss des Behandlungsvertrags der Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters (§ 108 Abs. 1 BGB). Demgegenüber bestimmt sich die Durchführung einer jeden medizinischen Behandlung – auch von Minderjährigen – nach deren Einwilligungsfähigkeit. Die Einwilligungsfähigkeit richtet sich nach der natürlichen individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Betreffenden. Der Gesetz- 37 Petermann, Frank Th., Demenz-Erkrankungen und Selbstbestimmung - ein Widerspruch in sich?: Unter besonderer Berücksichtigung des Instituts der Patientenverfügung, in: Petermann, Frank Th.(Hrsg.), Sicherheitsfragen der Sterbehilfe, 2008, (S. 153-243). 38 Gesetz über Medizinprodukte in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. August 2002 (BGBl. I S. 3146), zuletzt geändert durch Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 19. Mai 2020 (BGBl. I S. 1018). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 15 geber hat in der Begründung zum Patientenrechtegesetz hervorgehoben, dass sich eine starre Altersgrenze nicht ziehen lasse und es beim Minderjährigen auf die Umstände des Einzelfalles ankomme, um zu entscheiden, ob die Eltern als gesetzliche Vertreter, der Minderjährige allein oder aber gemeinsam mit seinen Eltern die Einwilligung über den medizinischen Eingriff erklären müssen.39 Nach Ansicht des BGH ist bei dieser Frage von Bedeutung, ob es sich bei der anstehenden Entscheidung über den medizinischen Eingriff um eine „nicht unwichtige Entscheidung “ handelt. In einem solchen Fall werde man die Einwilligung eines Jugendlichen als nicht ausreichend ansehen müssen.40 Diese Differenzierung findet sich auch in Informationen für Ärzte und Patienten, so etwa im Merkblatt „Die Aufklärungs- und Informationspflichten des Arztes, Landesärztekammer Baden- Württemberg (Stand: Februar 2016), abrufbar unter: https://www.aerztekammerbw .de/10aerzte/40merkblaetter/10merkblaetter/aufklaerungspflicht.pdf (S. 4). Die Regelung in § 8a TPG zur Knochenmarkentnahme bei Minderjährigen hat gerade im Hinblick auf die Sondersituation, dass ein Eingriff bei nicht Volljährigen durchgeführt werden soll, die Frage der Einwilligung sehr detailliert geregelt: Es muss die Aufklärung und Einwilligung des gesetzlichen Vertreters vorliegen (§ 8a Satz 1 Ziffer 4 Satz 1). Die Wahrnehmung der elterlichen Sorge zum Wohl des Kindes wird ausdrücklich im Gesetz erwähnt (§ 8a Satz 1 Ziffer 4 Satz 2). Zusätzlich besteht eine Aufklärungspflicht gegenüber der minderjährigen Person in Abhängigkeit von ihrem Alter und der geistigen Reife (§ 8a Satz 1 Ziffer 4 Satz 3). Die Bundesärztekammer hat sich im Rahmen der Grundsätze zur ärztlichen Sterbebegleitung41 auch mit der Situation von sterbenden Minderjährigen befasst. Bei der Beratung und Aufklärung und dem Erfordernis der Einwilligung der Patienten soll die Frage, ob und wie sich der Arzt an den Minderjährigen selbst oder/und den gesetzlichen Vertreter wendet, keinesfalls pauschal am Alter des Minderjährigen ausgerichtet werden. Die entsprechende Formulierung lautet: „Dabei ist anzuerkennen, dass schwerstkranke Kinder und Jugendliche oft einen frühen Reifungsprozess durchmachen […] Soweit der Minderjährige aufgrund seines Entwicklungsstandes selbst in der Lage ist, Bedeutung und Tragweite der ärztlichen Maßnahme zu verstehen und zu beurteilen, steht ihm ein Vetorecht gegen ihre Durchführung zu, selbst wenn die Sorgeberechtigten einwilligen . Davon wird bei einem Alter von 16 Jahren regelmäßig ausgegangen.“ Ausführlich behandelt wird das Thema Sterbehilfe bei Minderjährigen von Pauly, die eindrucksvolle Beispiele von schwerstkranken suizidwilligen Kindern und Jugendlichen schildert. Sie zeigt vor allem Bezüge zu anderen medizinischen Rechtsbereichen auf und fragt nach der Über- 39 Siehe hierzu die Begründung im Entwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, BT-Drs. 17/10488 vom 15. August 2012, S. 23. 40 Vgl. hierzu: Urteil des BGH vom 16. November 1971, Az: VI ZR 76/70, Rdnr. 22, abrufbar bei juris. 41 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom 21. Januar 2011, veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt vom 18. Februar 2011, A 346-A 348, abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/Sterbebegleitung_17022011.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 16 tragbarkeit der rechtlichen Regelungen. Darüber hinaus befasst sie sich mit den entsprechenden Rechtsgrundlagen im niederländischen und im belgischen Recht.42 Die Rechtslage zur Sterbehilfe bei Minderjährigen im Ausland wird im Übrigen im Rahmen des Überblicks zum Thema Sterbehilfe vom Deutschen Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften vorgestellt.43 2.3. Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit des Selbsttötungswillens Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verbietet es sich aufgrund der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Selbsttötung, „die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen, sie etwa vom Vorliegen einer unheilbaren oder tödlich verlaufenden Krankheit abhängig zu machen. Dies hindert nicht, dass je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens gestellt werden können. Es steht dem Gesetzgeber frei, ein prozedurales Sicherungskonzept zu entwickeln.“44 Von diesem Verfahrensschritt hat der Gesetzgeber im Rahmen der strafrechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs Gebrauch gemacht und nach dem zweiten Schwangerschaftsabbruchurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 199345 die Vorschrift des § 218a in das StGB eingefügt.46. Grundsätzlich liegt nach § 218 Abs. 1 StGB zwar eine Strafbarkeit bei Abbruch einer Schwangerschaft nach dem Zeitpunkt der Nidation vor. Mit Einführung des § 218a StGB wurden jedoch Einschränkungen von dieser Strafbarkeit durch ein Fristenmodell in Absatz 1 im Gesetz verankert . Demnach ist ein Abbruch der Schwangerschaft auf Verlangen der Schwangeren durch einen Arzt innerhalb von zwölf Wochen nach der Empfängnis und frühestens nach einer dreitägigen Wartezeit im Anschluss an ein Beratungsgespräch straffrei. Die Schwangere muss mittels einer Bescheinigung nachweisen, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff von einer anerkannten Stelle i. S. d. § 219 StGB hat beraten lassen. Die Strafbarkeit wird somit immer dann ausgeschlossen, wenn das gesetzlich vorgegebene Verfahren vor der Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs eingehalten wurde. 42 Pauly, Kristin, Die rechtlichen Rahmenbedingungen der Sterbehilfe unter besonderer Berücksichtigung der Sterbehilfe bei Minderjährigen 2019, (insbesondere S. 69-102 sowie zur Rechtslage in den Niederlanden und in Belgien, S. 102-123). 43 Blickpunkte Sterbehilfe, Gliederungspunkt IV. Module Sterbehilfe für Minderjährige (Bearbeiter: Knell, Sebastian), Stand: Februar 2020, abrufbar unter: http://www.drze.de/imblickpunkt /sterbehilfe/module?search_letter=s. 44 BVerfG, Rn. 340. 45 BVerfG-Urteil vom 28. Mai 1993, Az: 2 BvR 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92, abrufbar bei juris. 46 Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) vom 21. August 1995 (BGBl. I S. 1050). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 17 Die Auferlegung der Wartezeit steht im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Zielsetzung des SFHÄndG, die Konfliktberatung so auszugestalten, dass die Schwangere eine verantwortungsvolle und gewissenhafte Entscheidung treffen kann.47 Im Zuge des Urteils des BVerfG zur Sterbehilfe haben sich bereits einige Autoren mit der Frage befasst, ob auch bei einer künftigen gesetzlichen Regelung eine Bedenk- bzw. Wartezeit zwischen der ärztlichen Beratung und der etwaigen Assistenz zum Suizid einzuhalten wäre. Nach Ansicht von Wenner ist es im Rahmen der aus seiner Sicht erforderlichen Neuregelung sinnvoll, „Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens zu stellen.“48 In einem Beitrag von Berghäuser/Boer u. a. wird über den Vorschlag internationaler Experten verschiedener Fachrichtungen berichtet, wonach Beihilfe zur Selbsttötung durch einen Arzt u. a. nur dann geleistet werden darf, wenn „zwischen dem nach dem Aufklärungsgespräch gemäß Nr. 3 geäußerten Verlangen nach Beihilfe und der Beihilfe mindestens zehn Tage verstrichen sind.“49 Ein weiterer Vorschlag für eine Neuregelung enthält die Formulierung „Überdenkungsfrist von mindestens einer Woche“. Dies sei erforderlich, um die Freiwilligkeit und Eigenverantwortlichkeit des Sterbewunsches abzusichern.50 Nach Auffassung von Spittler kommt es zwar auf die innere Festigkeit des Suizidentschlusses an, es sei aber problematisch, eine feste Zeitspanne vorzugeben, insbesondere könne es in Einzelfällen notwendig sein, rasch zu handeln.51 3. Die Bedeutung der ärztlichen Begleitung 3.1. Standesrechtliche Vorgaben Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts „muss jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung sicherstellen, dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht 47 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Schwangerschaftsberatung § 218, abrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/blob/95282/ed384270cbdec0132e2ccfb335561982/schwangerschaftsberatung---218- data.pdf (S. 12). 48 Wenner, Ulrich, Bundesverfassungsgericht erklärt Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB) für nichtig, in Soziale Sicherheit plus 2020, Nr. 4, S. 7-8. 49 Berghäuser, Gloria/Boer, Theo A. u. a., Brauchen wir eine Neuordnung der Sterbehilfe in Deutschland? In: Zeitschrift für Medizinrecht (MedR) 2020, S. 207-211 (211). 50 Lindner, Josef Franz, Sterbehilfe in Deutschland – mögliche Regelungsoptionen, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2020, S. 66-69 (66). 51 Spittler, Johann Friedrich, Eckpunkte zu einem Suizidhilfe-Gesetz – eine ärztliche und speziell psychiatrische Sicht, in: NJOZ 2020, S. 545-548 (546). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 18 des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden , auch faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt. Das erfordert […] eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte...“52 Die Muster-Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte (MBO-Ä)53 regelt in § 16: „Beistand für Sterbende: Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und unter Achtung ihres Willens beizustehen. Es ist ihnen verboten, Patientinnen und Patienten auf deren Verlangen zu töten. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“ Bereits in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2015 wurde diese Formulierung kritisiert: Die Zulassung des ärztlich assistierten Suizids sei ethisch anerkennenswert, da sie das Selbstbestimmungsrecht des unheilbar Kranken anerkenne und ihm einen Ausweg in den Tod erlaube, wenn die Medizin keine anderen Lösungen mehr anbieten könne. Insoweit sei die ärztliche Beteiligung erforderlich und es müsse sichergestellt sein, dass es für Ärzte einen sanktionsfreien Handlungsspielraum gebe.54 Auch nach Auffassung von Gavela besteht Reformbedarf in Bezug auf die ärztliche Suizidassistenz und Änderungsbedarf für die MBO-Ä. Ärzte seien als Suizidbegleiter unverzichtbar. Sie seien in der Lage, die Urteilsfähigkeit der Patienten zu hinterfragen, ihren Gesundheitszustand zu erfassen und einzuordnen und ihre Patienten über mögliche palliativ-medizinischen Möglichkeiten aufzuklären.55 Während die Landesärztekammern ihre jeweilige Berufsordnung teilweise in den Formulierungen des § 16 an die der MBO-Ä angelehnt haben, haben die Berufsordnungen einiger Länderkammern das bisher noch in der MBO-Ä enthaltene Verbot nicht (mehr) übernommen. Dies gilt etwa für die Ärztekammer Sachsen-Anhalt. § 16 lautet hier: „Beistand für Sterbende: Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde und Achtung ihres Willens beizustehen.“56 Auch die Berufsordnung für die Ärzte Bayerns hat in ihrem § 16 nur die Pflicht des Arztes zum Beistand 52 BVerfG, Rn. 342. 53 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 in der Fassung der Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages 2018 in Erfurt, geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14. Dezember 2018, veröffentlicht in: Deutsches Ärzteblatt vom 1. Februar 2019, A 1-9, abrufbar unter: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/MBO/MBO- AE.pdf. 54 Henking, Tanja, Der ärztlich assistierte Suizid und die Diskussion um das Verbot von Sterbehilfeorganisationen , in: Juristische Rundschau (JR), 2015, 174-183 (183). 55 Gavela, Kallia, Ärztlich assistierter Suizid und organisierte Sterbehilfe, 2013, S. 46 ff., abrufbar unter: http://dx.doi.org/10.1007/978-3-642-31173-4. 56 Siehe: Berufsordnung der Ärztekammer Sachsen-Anhalt, beschlossen am 8. November 1997, zuletzt geändert durch Beschluss vom 13. April 2019, abrufbar unter: https://www.aeksa.de/files/1465CCA7434/1_Berufsordnung_17052014.pdf. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 19 gegenüber dem Patienten geregelt57. Gleiches gilt für die Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg.58 Die Ärztekammern haben auf das Urteil des BVerfG im Hinblick auf das Standesrecht der Ärzte sehr unterschiedlich reagiert. Man sei sich darüber einig, dass Ärzte grundsätzlich nicht dazu gezwungen werden dürften, Beihilfe zum Suizid zu leisten. Nach Ansicht des Präsidenten der Ärztekammer Schleswig-Holstein schafft das Urteil Klarheit über den Entscheidungsspielraum der Ärzte, die nun selbst entscheiden könnten, ob sie Suizidwillige unterstützen oder nicht. Demgegenüber sind nach Auffassung des Präsidenten der Ärztekammer Westfalen-Lippe Ärzte gerade keine Sterbehelfer sondern nur Sterbebegleiter. Die Umsetzung des Rechts auf Selbsttötung könne keine Maxime für ärztliches Handeln sein.59 Es bleibt abzuwarten, ob das Urteil des BVerfG längerfristig zu Änderungen bei den Berufsordnungen der Landesärztekammern bzw. bei der Musterordnung für Ärzte führen wird. 3.2. Dokumentationspflichten Das BVerfG führt in seiner Entscheidung aus, dass „zum Schutz der Selbstbestimmung über das eigene Leben […] dem Gesetzgeber in Bezug auf das Phänomen organisierter Suizidhilfe ein breites Spektrum an Möglichkeiten offen steht. Sie reichen von der positiven Regulierung prozeduraler Sicherungsmechanismen,[...], die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sichern, bis zu Verboten besonders gefahrträchtiger Erscheinungsformen der Suizidhilfe“60. Um die Einhaltung dieser eingeführten prozeduralen Sicherungsmechanismen zu gewährleisten, könnten Dokumentationspflichten zur Kontrolle über die Einhaltung jener Mechanismen bei der Sterbehilfe eingeführt werden. Eine allgemeine ärztliche Dokumentationspflicht im Rahmen einer medizinischen Behandlung ist derzeit bereits in § 630 f Abs. 1 BGB gesetzlich verankert. Demnach wird der Behandelnde verpflichtet, die Behandlung durch Führen einer Patientenakte in Papierform oder elektronisch zu dokumentieren. Hierfür sind gemäß Absatz 2 der Vorschrift sämtliche für die derzeitige und künftige Behandlung wesentlichen Maßnahmen und deren Ergebnisse aufzuzeichnen. Eine Aufzeichnung soll dabei im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der jeweils durchgeführten Behandlung erfolgen. Demgegenüber sind nachträgliche Änderungen an einer erfolgten Dokumentation nur zulässig, wenn sowohl der Zeitpunkt der Änderung als auch der ursprüngliche Inhalt noch erkennbar bleiben. 57 Bekanntmachung vom 9. Januar 2012, in der Fassung der Änderungsbeschlüsse vom 28. Oktober 2018, Bayerisches Ärzteblatt 12/2018, S. 694, abrufbar unter: https://api.blaek.de/content/13-kammerrecht/2- cth9iyvzo71531985574ivslrzyln3293/1-toiik0e0hx1532076694gxtkycaajr478/berufsordnung.pdf. 58 Vom 21. September 2016, Ärzteblatt Baden-Württemberg (ÄBW), 2016, S. 506, Stand: 1. Juni 2020, abrufbar unter: https://www.aerztekammer-bw.de/10aerzte/40merkblaetter/20recht/05kammerrecht/bo.pdf. 59 Siehe: Gekipptes Sterbehilfeverbot löst heftige Reaktionen aus, in: ärzteblatt.de vom 26. Februar 2020, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/109662/Gekipptes-Sterbehilfeverbot-loest-heftige-Reaktionenaus . 60 BVerfG, Rn. 339. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 011/20 Seite 20 Diese strengen Anforderungen an die Dokumentationspflicht sind erforderlich, um deren Beweissicherungsfunktion Rechnung zu tragen. Im Arzthaftungsprozess bildet die Patientenakte ein wichtiges Beweismittel. Denn nach § 630 h Absatz 3 BGB wird vermutet, dass der Behandelnde eine medizinisch gebotene wesentliche Maßnahme nicht getroffen hat, wenn er diese oder deren Ergebnis nicht gemäß § 630 f BGB in der Patientenakte aufgezeichnet oder die Patientenakte nicht aufbewahrt hat. Für den Bereich der Organlebendspende hat der Gesetzgeber in § 8 Abs. 2 Satz 4 TPG explizit eine auf ein Schriftformerfordernis begründete Dokumentationspflicht des Arztes normiert. Darin wird eine Dokumentationspflicht über den Inhalt der Aufklärung und der Einwilligungserklärung des Organspenders geregelt. Im Hinblick auf die für die ordnungsgemäße Selbstbestimmungsaufklärung darlegungs- und beweisbelastete Behandlungsseite dient das Schriftformerfordernis der Verfahrens- und Beweissicherung. Auch im Rahmen der Schwangerschaftskonfliktberatung ist die Dokumentation der Beratung vorgeschrieben, § 7 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz: „Die Beratungsstelle hat nach Abschluss der Beratung der Schwangeren eine mit Namen und Datum versehene Bescheinigung darüber auszustellen, dass eine Beratung […] stattgefunden hat.“61 Nach Ansicht von Spittler, der sich vor dem Hintergrund der BVerfG-Entscheidung mit möglichen Inhalten eines Suizidhilfe -Gesetzes befasst, zeigt der Vergleich zur Schwangerschaftskonfliktberatung, dass eine etwaige Neuregelung zwei Aufgaben erfüllen müsse: „Sie muss einerseits ein praktikables Verfahren beschreiben, und sie muss andererseits sicherstellen, dass dieses Verfahren eingehalten wird.“62 Lindner, der sich noch vor Inkrafttreten des § 217 StGB mit dem Verbot des ärztlich assistierten Suizids befasst hat, hat vor einigen Jahren einen Vorschlag zu einer Regelung über die ärztliche Suizidassistenz entwickelt, Absatz 4 seines Vorschlags lautet: „Die Feststellung nach Absatz 3 ist schriftlich zu dokumentieren. Nach der Durchführung der Hilfe zur Selbsttötung ist die Dokumentation nach Satz 1 in anonymisierter Form der bei der Landesärztekammer gebildeten Ethikkommission zu übermitteln.“63 *** 61 Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (SchKG) vom 27. Juli 1992 (BGBl. I S. 1398), zuletzt geändert durch Art. 13a des Gesetzes vom 14. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2789). 62 Spittler, Johann Friedrich, Eckpunkte zu einem Suizidhilfe-Gesetz – Eine ärztliche und speziell psychiatrische Sicht, in: NJOZ 2020, S. 545-548 (545). 63 Lindner, Josef Franz, Verfassungswidrigkeit des – kategorischen – Verbots ärztlicher Suizidassistenz, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), 2013, S. 136-139 (136).