© 2017 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 008/17 Ärztliche Versorgung auf dem Land Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 2 Ärztliche Versorgung auf dem Land Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 008/17 Abschluss der Arbeit: 30.3.2017 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 18. Jahrhundert 4 3. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 19. Jahrhundert 7 4. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 20. Jahrhundert 9 5. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 21. Jahrhundert 10 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 4 1. Einleitung Die vorliegende Dokumentation bündelt wissenschaftliche Literatur zur Thematik der ärztlichen Versorgung auf dem Land in Deutschland. Thematisch werden die letzten 300 Jahre betrachtet – vom 18. Jahrhundert bis in die heutige Zeit, in der der Ärztemangel auf dem Land ein viel diskutiertes Problem ist. Auftragsgemäß werden einschlägige Textstellen zitiert; dort, wo es möglich ist, wird besonders auf die Situation in Hessen eingegangen. 2. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 18. Jahrhundert Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM)1 Stuttgart, „Die alte Medizin “, abrufbar unter http://www.igm-bosch.de/content/language1/html/12914.asp (Stand: 16. März 2017). Der Text bietet einen Überblick über die ärztliche Versorgung im 18. Jahrhundert: „Die medizinische Versorgung war im 18. Jahrhundert auf andere Berufsgruppen verteilt als heute. Studierte Ärzte waren eine kleine Minderheit. Bader und Wundärzte trugen die Hauptlast der medizinischen Versorgung. Die Bader therapierten vorwiegend mit Aderlassen und Schröpfen. Die Wundärzte nahmen chirurgische Eingriffe bis hin zu Amputationen vor. Beide Berufe galten als Handwerk . (…) Daneben gab es viele Laienheiler, die aufgrund ihrer Kenntnisse über die Heilkraft von Pflanzen und anderen Wirkstoffen alle Bevölkerungsschichten medizinisch versorgten. Auch noch im 18. Jahrhundert boten Wunderheiler, Zahnausreißer und Brillenverkäufer ihre Waren und Dienstleistungen auf Jahrmärkten an“. Studierte Ärzte waren, wie auch die nachfolgenden Beiträge ausführen, ganz überwiegend in Städten und nicht auf dem Land tätig: Naal, Walid, Arzt und ärztliche Versorgung auf dem Hunsrück seit dem 30jährigen Krieg beispielhaft dargestellt an der Familie Pies, Medizinhistorisches Institut der Universität Düsseldorf, Düsseldorf 1979. Naal geht hier der Frage nach, wie sich die ärztliche Versorgung auf dem Hunsrück, der stellvertretend für andere ländliche Gebiete steht, in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat, und kommt zu folgendem Ergebnis: „Auf dem Lande gab es im (…) 18. Jahrhundert nur selten Vollärzte , die sich um die Bevölkerung kümmerten. Schwierige Verkehrsverhältnisse und die allgemein schlechte finanzielle Lage der Bauern ließen es nicht zu, daß sich Ärzte (…) niederlassen konnten. So überließen die Landesfürsten meist handwerklich ausgebildeten Barbieren, wandernden Chirurgen und Wundärzten die medizinische Betreuung ihrer Untertanen“ (S. 124). Sander, Sabine, Handwerkschirurgen, Sozialgeschichte einer verdrängten Berufsgruppe in: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 83, hrsg. von Berding, Helmut/ Kocka, Jürgen/ Wehler, Hans-Ulrich, Band 83, Göttingen 1989. 1 Das 1980 eingerichtete Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung (IGM) ist das einzige außeruniversitäre medizinhistorische Forschungsinstitut in Deutschland. Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Medizin und die Geschichte der Homöopathie. Die Forschung in beiden Bereichen konzentriert sich auf die Patientengeschichte. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 5 Sander schreibt über die Verbreitung der Handwerkschirurgen (Wundärzte, Barbiere, Bader) auf dem baden-württembergischen Land im 18. Jahrhundert: „So weit die vorhandenen Quellen erkennen lassen, waren die Chirurgen um die Jahrhundertmitte praktisch in jedem Dorf ab einer Einwohnerzahl von rund 500 Personen anzutreffen. Von dort aus versorgten sie die benachbarten Zwergdörfer, Weiler und Gehöfte mit. (…) Die Niederlassungsorte der Chirurgen hatten normalerweise (mindestens) die Qualität von Pfarrdörfern, die sich ebenfalls durch eine gewisse Mindestgröße auszeichneten“ (S. 187). Schilling, Ruth, Johann Friedrich Glaser (1707–1789), Scharfrichtersohn und Stadtphysikus in Suhl, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe, Band 40, Köln – Weimar - Wien 2015. Schilling wertet hier ein handschriftliches Arzttagebuch aus der thüringisch-hessischen Region aus2. Sie beschreibt, dass sich der Zugang zur medizinischen Versorgung für die Stadt- und Landbevölkerung unterschiedlich gestaltete: „War es in der Stadt möglich, Arzt und Apotheker zeitnah und ohne größeren Aufwand zu konsultieren, so bot sich für die Dorfbevölkerung erst einmal die Konsultation eines nahe gelegenen Baders, Wundarztes, Barbiers oder auch Scharfrichters3 an.“ (S. 36). Wer zusätzlich einen akademisch ausgebildeten Arzt um Rat fragen wollte, musste in die Stadt reisen. Auch die Patienten von Johann Friedrich Glaser kamen aus den Dörfern: „Er war ein Arzt, der bei (…) Bauern, Handwerkerkern…geschätzt wurde, aber insbesondere auch bei Hirten und Wanderlehrern. Das Gespräch mit dem Patienten besaß für Glaser eine wichtige Funktion (…). Daneben wandte er noch (…) die Urinschau an. In Glasers Praxis zahlten die Patienten miit Geld statt mit Naturalien. „Das war zwar kein billiger Tarif, aber auch keine Summe, die so hoch war, dass sie die Existenz von Glasers Besuchern gefährdet hätte“, so Schilling (S. 81, 89, 101). Sahmland, Irmtraut, Die Medizinalordnung von 1778 und die medizinische Versorgung im Marburger Raum, veröffentlicht in: Perspektiven der Medizingeschichte Marburgs, neue Studien und Kontexte, hrsg. Sahmland, Irmtraut/ Grundmann, Cornelia, Darmstadt - Marburg 2011. Sahmland informiert über die unzureichende ärztliche Versorgung auf dem Land in Hessen-Kassel : „Obgleich man trotz der Niederlassungsfreiheit des hessischen Heilpersonals bemüht war, Ärzten ihren Wirkungskreis dort zuzuweisen, wo es einen Bedarf an Medizinern gab, konnte augenscheinlich nicht gewährleistet werden, dass auch in den Dörfern im Bedarfsfall für jeden Bewohner in zumutbarer Entfernung ein Arzt erreichbar war. (…) Ohne legitimierte Hilfe waren sich die Patienten selbst überlassen oder sie wurden auf den zweiten Gesundheitsmarkt der nicht autorisierten Heiler gedrängt, also Pfuschern überantwortet. (S.70) Anders in Marburg: Dort gab es ein höheres Ärzteaufkommen, die Wege zu den Patienten waren kürzer: „Ähnlich wie bei den Chirurgen dürften auch die Physici im fortgeschrittenen Alter darauf bedacht gewesen sein, ihren Arbeitsbereich auf die Stadt, in der sie in aller Regel wohnten, zu konzentrieren und sich aus der Fläche zurückzuziehen“ (S. 82). 2 Informationen zum Forschungsprojekt von Schilling auch unter: http://www.medizingeschichte.uni-wuerzburg .de/aerztliche_praxis/projekt_hess.html (Stand: 16. März 2017). 3 Scharfrichter waren nach Darstellung der Autorin besonders geeignet, da sie z. B. Gefangene gesund pflegten, damit sie anschließend gefoltert werden konnten. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 6 Unschuld, Paul, Geschichte der Medizin: Der Patient als Leidender und Kunde, abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/archiv/51173 (Stand: 16. März 2017) Unschuld betont, dass sich die ärztliche Verantwortung bis in das 18. Jahrhundert auf den individuellen Patienten als zahlungsfähigen Auftraggeber beschränkt habe. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Medizin mehr und mehr als eine als für die Gesamtbevölkerung relevante Thematik verstanden: „Als Johann Peter Frank um 1790 sein großes Werk ,System einer medizinischen Polizey’ als Grundlage der neuen Gesundheitspolitik verfasste, legte er, gemeinsam mit anderen Autoren dieser Zeit in mehreren europäischen Ländern, die Richtung fest: Aufgabe der Politik sei es fortan, diejenigen Arbeits-, Wohn- und allgemeinen Lebensbedingungen zu schaffen, die der gesamten Bevölkerung – nicht nur dem einzelnen, zahlungskräftigen Patienten – Gesundheit ermöglichen. (…) Die Gesamtbevölkerung wurde zum Patienten oder potenziellen Patienten erklärt und unter die Obhut der Ärzteschaft gestellt. Das Wohl aller Patienten, ob arm oder reich, lag im Interesse des Staates, der Herrschenden, der Mächtigen. Die Gesundheitsämter wurden zu wichtigen Institutionen. Die Seuchengesetzgebung, die Lebensmittelüberwachung – alle Bereiche des täglichen Lebens, von denen anzunehmen war, dass sie gesundheitsrelevant seien, wurden ins Visier genommen und der Gesetzgebung untergeordnet.“ Leven, Karl-Heinz, Geschichte der Medizin Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2008. Leven führt aus: „Die Medizin schwang sich im aufgeklärten Staat zur ,Medizinischen Polizey’ auf, einer Art heilkundlicher Staatslehre, die das Leben der Bürger von der Wiege bis zur Bahre nach den Regeln der Vernunft und der Nützlichkeit regeln wollte (…) Sie wurde musterhaft und umfassend abgehandelt von Johann Peter Frank (1745-1821), auf rund 6000 Druckseiten (…).Franks ,Medicinische Polizey’ wurde in ihrer Gesamtheit niemals in die Praxis umgesetzt, in ihren Grundzügen aber unter seinen Zeitgenossen eifrig rezipiert. (…) Frank zielte (…) auf eine staatliche Kontrolle aller im weitesten Sinne medizinischen Phänomene“ (S. 48). Heidenreich, Elisabeth, Göttliche Hygiene, Forschungsprojekt Wasserkreislauf und urban-ökologische Entwicklung“, 1996, abrufbar unter http://www.uni-kassel .de/fb6/AEP/wakutexte/wakutexte20.pdf (Stand: 16. März 2017). Heidenreich setzt die zentrale Bedeutung der Kriege und damit des Heeres im 18. Jahrhundert in einen Kontext zur Entstehung eines staatlichen Gesundheitswesens: „In diesem theoretischen staatswissenschaftlichen Rahmen steht auch die Entwicklung der wissenschaftlichen Medizinalpolizei , die der Vorläufer unseres heutigen Gesundheitsrechts und unserer heutigen Gesundheitspolitik ist“ (S. 3). Heidenreich erläutert weiter: „Im 18. Jahrhundert bezeichnet Physicus dann einen Arzt in staatlicher oder städtischer Anstellung. Dieser Arzt, der einen Kreis oder Bezirk hatte, mußte primär die Armen versorgen... Daneben gab es in den Städten noch freie niedergelassene Ärzte“ (S. 5). Gerabek, Werner/ Haage, Bernhard/ Keil, Gundolf/ Wegner, Wolfgang, Enzyklopädie Medizingeschichte , Berlin 2005. Hier wird der Erfolg dieser „Medizinalpolizei“ skeptisch beurteilt: „Der den Medizinalbehörden übertragene Kampf gegen die Kurpfuscher musste da fruchtlos bleiben, wo angesichts geringer Ärztedichte bes. auf dem Lande die Bevölkerung bei nicht med. ausgebildetem Heilpersonal Rat suchte“ (S. 488). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 7 Landeswohfahrtsverband (LWV) Hessen: „Hohe Hospitäler“, abrufbar unter https://www.lwvhessen .de/geschichte-gegenwart/sozialfuersorge/hohe-hospitaeler.html (Stand: 16. März 2017). In Hessen standen drei sog. „Hohe Hospitäler“ bereits im 16. Jahrhundert bedürftigen kranken Menschen offen: „Die ,Hohen Hospitäler’ Hessens waren die ersten Krankenfürsorgeeinrichtungen in Deutschland, die unter territorialstaatlicher Leitung standen und zugleich nur für Bedürftige aus der Landbevölkerung vorgesehen waren.“ Vgl. dazu auch: Vanja, Christina, Arme Hessen in Kurbädern des 18. Jahrhunderts“, in: Virus, Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, Wien 2013, abrufbar unter https://www.lwv-hessen.de/geschichte-gegenwart /sozialfuersorge/hohe-hospitaeler.html (Stand: 16. März 2017). 3. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 19. Jahrhundert Spree, Reinhard, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1981. Spree beschreibt die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch große Zahl der Laienmediziner („Wahrsager, Teufelsfänger, Beschwörer, Alchimisten, Priester, Laienbrüder- und schwestern, Hebammen, alte (weise) Frauen, Nonnen und Mönche, Wasserbrenner“. Das Fehlen ausweisbaren , anerkannten Expertenwissens habe die Ausbildung der professionellen Autonomie einer kleinen Teilgruppe, nämlich der akademisch gebildeten Ärzte, verhindert (S. 141). Grundwald, Erhard, Das niedere Medizinalpersonal im Bayern des 19. Jahrhunderts, München 1990. Grundwald beschreibt für Bayern den Mangel an Ärzten im ländlichen Raum: „Der überwiegende Teil der Bevölkerung vertraute sich den Wundärzten, Badern und Barbieren an, da deren Honorare niedriger als die der Ärzte waren und sie ihnen gesellschaftlich näher standen“ (S. 8). Baschin, Marion/ Dietrich-Daum, Elisabeth/ Ritzmann, Iris, Doctors and Their Patients in the Seventeenth to Nineteenth Centuries, in: Dinges, Martin u.a. (Hg.), Medical Practice 1600-1900. Physicians and Their Patients, Leiden, Boston 2016. Die Autorinnen stellen die Unterschiede in der ärztlichen Versorgung zwischen Stadt und Land. Danach wandten sich überall in Europa die Patienten in ländlichen Regionen weiterhin an traditionelle Heiler oder bei Bedarf an Barbiere. Approbierte Ärzte gehörten bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Minderheit der auf dem Land vertretenen medizinischen Dienstleister. Kleine Dörfer und Weiler waren wenig attraktiv für akademische Ärzte (S. 56). Nolte, Karen, Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion, Göttingen 2016 . Nolte arbeitet die Anfang des 19. Jahrhunderts entstandene Konkurrenz zwischen Geistlichen und Ärzten bei der Begleitung Sterbender heraus. Danach wollten sich pastoralmedizinisch ausgebildete Geistliche oftmals nicht auf die Seelsorge bei Sterbenden beschränken. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 8 Bergmeier, Oliver, Die sogenannte „niedere Chirurgie“ unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Halle an der Saale in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts, 2002, abrufbar unter https://sundoc.bibliothek.uni-halle.de/diss-online/02/02H230/prom.pdf (Stand: 16. März 2017). Bergmeier stellt die Entwicklung von handwerklich ausgebildeten zu akademisch ausgebildeten Wundärzten dar. Allerdings blieb es auch nach der im Jahr 1852 erlassenen preußischen Medizinalordnung zunächst dabei, dass die nur handwerklich ausgebildeten Wundärzte den größten Teil der medizinischen Versorgung – insbesondere der Landbevölkerung – leisteten. Trotz staatlicher Bestrebungen zur Hebung des fachlichen Niveaus des Heilpersonals sei in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die medizinische Versorgung der Landbevölkerung völlig unzureichend , ja „desolat“ geblieben. Eckart, Wolfgang, Geschichte der Medizin, 6. Auflage, Heidelberg 2008. Eckart beschreibt die Zäsur, die mit Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1883 erfolgte: Alle Arbeiter bis zu einem bestimmten Jahreseinkommen wurden Pflichtmitglieder , die Versicherungskosten wurden zu zwei Drittel durch Beiträge der Arbeitnehmer und zu einem Drittel durch Beiträge der Arbeitsgeber gedeckt. Den Versicherten standen freie ärztliche Behandlung und Arzneimittel zu. Zudem wurden alle zugelassenen Krankenkassen einer staatlichen Aufsicht unterstellt. Claudia Huerkamp, Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert: vom gelehrten Stand zum professionellen Experten, Göttingen 1985. Huerkamp betont, dass die Einführung einer Versicherungspflicht für Landarbeiter zunächst den Einzelstaaten und Kommunen vorbehalten war (S. 197-199). Erst die im Jahr 1911 geschaffene Reichsversicherungsordnung weitete die Versicherungspflicht für das ganze Reich auf Land- und Forstarbeiter aus. Zudem hätten in der Landbevölkerung ökonomische Hindernisse, die weite Entfernung zum nächsten akademischen Arzt und nicht zuletzt großes Misstrauen gegenüber dem offiziellen Medikalsystem fortbestanden. (S. 40-f.) Dabei habe der Landarzt aufgrund der Vielseitigkeit seiner Tätigkeit über eine große Bandbreite an Wissen und praktischer Erfahrung verfügt, während die städtischen Ärzte oft nur über sehr spezialisiertes Fachwissen verfügt hätten . Der Landarzt brauchte große körperliche Widerstandskraft und Belastbarkeit, da er – anders als der städtisch praktizierende Arzt - rund um die Uhr verfügbar sein und überwiegend Hausbesuche durchführen musste. Er legte weite Strecken zurück, um seine Patienten zu erreichen (S. 186). Krieger, Martin, Arme und Ärzte, Kranke und Kassen, Ländliche Gesundheitsversorgung und kranke Arme in der südlichen Rheinprovinz (1869 bis 1930), Stuttgart 2008. Auch Krieger beschreibt die Auswirkungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf die ärztliche Versorgung auf dem Land: „Für die ländliche Bevölkerung im Allgemeinen und ihre ärmeren Teile im Besonderen bot das Versicherungsprinzip strukturell eine Möglichkeit, sich eigenständig und mit einem verbindlichen Leistungsanspruch gegen die Fährnisse von Krankheit, Alter und Armut abzusichern“ (S. 187). Allerdings seien ab 1883 noch wichtige Teile der Beschäftigten im ländlichen Raum von der Versicherungspflicht ausgeschlossen gewesen: „Land- und forstwirtschaftliche Arbeiter (…) waren von der Versicherungspflicht befreit. Argumentativ hatte der Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 9 Gesetzgeber sich dabei auf eine existenzsichernde Bedeutung der ländlichen Familien- und Erwerbsstrukturen gestützt. Nach dem KVG von 1883 hatten die Gemeinden allerdings die Möglichkeit , diese Personen über statuarische Beschlüsse für versicherungspflichtig zu erklären.“ (S.91) Hinsichtlich der stationären Versorgung auf dem Land betont Krieger: „Die zweifelsohne gegenüber den Städten verzögerte Entwicklung eines speziellen Krankenhauswesens im ländlichen Raum brachte auf der anderen Seite mit sich, dass dessen Konzept weit aus gereifter übernommen werden konnte. Der Bruch zwischen dem traditionellen Hospital und dem ärztlich-naturwissenschaftlich geprägten Krankenhaus wurde hier umso deutlich sichtbar“ (S. 230). Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Band 1, Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1980. Das Buch schildert den Alltag hilfebedürftiger, auch kranker Personen, in sogenannten Armenhäusern : „ Die gewöhnlichen Armenhäuser …enthalten in der Regel eine geringere Zahl enger, schlechter Wohnräume in denen ohne Unterschied von Alter und Geschlecht, ohne Rücksicht auf Krankheit und Arbeitsfähigkeit alle der Gemeinde zur Last fallenden Personen untergebracht werden. (…) wie wir sie außer in Preußen auch noch in Bayern, Württemberg, im Großherzogtum Hessen (…) antreffen“ (S. 324). 4. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 20. Jahrhundert Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 2, Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871-1929, Stuttgart - Berlin - Mainz - Köln 1988. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 3, Stuttgart - Berlin - Köln 1992. Sachße, Christoph/ Tennstedt, Christoph, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Band 4, Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953, Stuttgart 2012. Gabriele Moser, Im Interesse der Volksgesundheit, Sozialhygiene und öffentliches Gesundheitswesen in der Weimarer Republik und der frühen SBZ/DDR, Stuttgart 2002. Moser beschreibt darin die fortbestehenden Unterscheide zwischen den Ärzten im ländlichen und im städtischen Raum: „Die ‚ländlichen Sozialhygieniker‘ sahen sich vor andere Probleme gestellt als ‚Großstadthygieniker‘, da sich besonders durch die geringe Ärztedichte auf dem Land andere Konfliktlinien ergaben. Die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten der Region mußte gesucht werden (…). Andererseits konnten die ‚ländlichen Sozialhygieniker‘ in einer von großen Veränderungen weniger bedrohten Umgebung kontinuierlich individuelle Konzepte entwickeln “4 (S. 82, 86). 4 Unter dem Begriff der Sozialhygiene wird „eine öffentliche Gesundheitsfürsorge und Gesundheitsprävention verstanden, die sich vornehmlich auf den Zusammenhang zwischen Gesundheit, Krankheit und den sozialen Lebensbedingungen beruft und vor diesem Hintergrund vorbeugend und heilend wirken will“ (Gerabek u.a., Enzyklopädie der Medizingeschichte, S. 1344.) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 10 Lindner, Ulrike, Chronische Gesundheitsprobleme: Das deutsche Gesundheitssystem vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. - 53 (2003), abrufbar über die Bundeszentrale für politische Bildung unter http://www.bpb.de/apuz/27466/chronische-gesundheitsprobleme?p=all (Stand: 16. März 2017). Lindner beschreibt die Zentralisierung es Gesundheitswesens im nationalsozialistischen Deutschland: „Gesundheitsfürsorgerische Aufgaben wurden mit selektierenden Maßnahmen entlang rassehygienischer Prinzipien verbunden und die ,klassischen’ Aufgaben der Gesundheitsfürsorge in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt“ (S.21). Zur ideologischen Umdeutung des Arztberufes und zur Instrumentalisierung der Ärzteschaft durch das nationalsozialistischen Regime auch: Gerabek, Werner/ Haage, Bernhard/ Keil, Gundolf/ Wegner (Hrsg.), Wolfgang, Enzyklopädie zur Medizingeschichte, Berlin 2005. Scriba, Arnulf, Die NS-Volkswohlfahrt, 2015, abrufbar über das Deutsche Historische Museum, unter https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/volkswohlfahrt.html (Stand: 16. März 2017). „Die Wohlfahrtspflege der NSDAP diente in erster Linie nicht der Fürsorge für den einzelnen, sondern der Stärkung der rassisch definierten Volksgemeinschaft. Zumeist ergänzten weltanschauliche und rassehygienische Belehrungen die NSV-Schulungen oder ambulanten Beratungen . Keinen Raum nahm die Fürsorge für Juden ein. Sie fielen ebenso durch das soziale Netz wie Alkoholiker, entlassene Sträflinge und ’Asoziale’, die als ’Hoffnungslose Fälle’ keinen Wert für das von den Nationalsozialisten propagierte ’gesunde Volk’ besaßen. Zehntausende als erbbiologisch minderwertig diffamierte Behinderte fielen als ’Ballastexistenzen’ ab Oktober 1939 den Mordaktionen im Rahmen der ’Euthanasie’ zum Opfer“. Neubauer, Günter/ Sonnenholzner-Roche, Anneliese, Medizinische Versorgung in der Stadt und auf dem Land, Band 1, Spardorf 1984. Ergebnis einer Analyse von zwei Bevölkerungsbefragungen aus den 70er Jahren ist, dass das Versorgungsniveau teilweise erheblich voneinander abweicht: „Die Fachärzte bevorzugen zentrale Standorte, während Allgemeinärzte bzw. praktische Ärzte ihre Praxen flächendeckender betreiben . (…) Das Morbiditätsrisiko liegt, nach Einschätzung der Befragten, im Landkreis höher als in der Stadt, während die Städter schneller den Arzt aufsuchen und mit Medikamenten großzügiger umgehen“ (S. 217). 5. Ärztliche Versorgung auf dem Land im 21. Jahrhundert Auch aktuell ist die Thematik „Ärzteversorgung auf dem Land“ Gegenstand politischer Diskussionen , vergl. dazu: Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Deutschlandweite Projektion 2030 – Arztzahlentwicklung in Deutschland, abrufbar unter: http://www.kbv.de/media/sp/2016_10_05_Projektion _2030_Arztzahlentwicklung.pdf (Stand: 16. März 2017). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 - 008/17 Seite 11 Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), „Die flächendeckende Rund-um-die-Uhr-Versorgung durch einen Mangel an Ärzten in Gefahr“, http://www.kbv.de/html/themen_1076.php (Stand: 16. März 2017). Bundesministerium für Gesundheit (BMG), GKV-Versorgungsstärkungsgesetz, abrufbar unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenversicherung/gkv-versorgungsstaerkungsgesetz /gkv-versorgungsstaerkungsgesetz.html (Stand: 16. März 2017). Um auch in Zukunft eine gut erreichbare medizinische Versorgung, insbesondere in unterversorgten Regionen auf dem Land, sicherzustellen, wurde 2015 das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz) erlassen. Es zielt darauf ab, auch in Zukunft eine gut erreichbare medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten auf hohem Niveau sicherzustellen. Bedarfsgerechte Versorgung –Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche , Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen , Bonn/Berlin 2014, abrufbar unter http://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/user_upload /Gutachten/2014/SVR-Gutachten_2014_Langfassung.pdf (Stand: 16. März 2017). Der Sachverständigenrat verweist auf regionale Unterschiede u. a. in der hausärztlichen Versorgung und empfiehlt einen sogenannten „Landarztzuschlag“, finanzielle Anreize für Universitäten , die nachhaltig die Ausbildung im Fach Allgemeinmedizin fördern, sowie die Einrichtung von „Lokalen Gesundheitszentren zur Primär- und Langzeitversorgung (S. 169). Regionaler Gesundheitsreport 2014. Gesundheitliche und pflegerische Versorgung. Daten - Fakten – Ausblicke Hessen, hg. vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration und der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen, abrufbar unter: http://mitglieder.kvhessen.de/fileadmin /media/documents/WEB_Einzelseiten_Allg_Hessen.pdf (Stand: 16. März 2017). Landflucht 3.0. Welche Zukunft hat der ländliche Raum?, hg. im Auftrag der Herbert-Quandt- Stiftung von Christof Eichert und Roland Löffler unter Mitarbeit von Stephanie Hohn, Freiburg - Basel - Wien 2015. Ried, Walter, Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum: Ziele und Indikatoren, in: Daseinsvorsorge und Gemeinwesen im ländlichen Raum, Herbst, Michael/Dünkel, Frieder/ Stahl, Benjamin (Hrsg.), Wiesbaden 2016. ***