© 2021 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 – 003/21 Übersicht zu bisherigen Impfpflichten in Deutschland Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 2 Übersicht zu bisherigen Impfpflichten in Deutschland Aktenzeichen: WD 9 - 3000 – 003/21 Abschluss der Arbeit: 20. Januar 2021 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Bisherige Impfpflichten in Deutschland 5 2.1. Masern 5 2.2. Pocken 5 2.3. Berufsbezogene Impfpflicht für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr 6 2.4. Impfpflichten in der ehemaligen DDR 7 2.5. Impfpflichten in einigen Bundesländern 7 2.6. Weiterführende Quellen 7 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 4 1. Vorbemerkung Die Debatte um die Einführung einer Impfpflicht, die zuletzt im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren zum Masernschutzgesetz1 geführt wurde, ist aktuell anlässlich der Corona-Pandemie wieder entfacht. Im Infektionsschutzgesetz2 (IfSG) findet sich eine Verordnungsermächtigung zur Einführung einer beschränkten Impfpflicht. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) wird in § 20 Abs. 6 IfSG ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist. Die am 15. Dezember 2020 in Kraft getretene "Coronavirus-Impfverordnung"3 sieht keine gesetzliche Impfpflicht vor. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder teilte nunmehr mit, dass es in Anbetracht der zu hohen Impfverweigerung unter Pflegekräften in Alten- und Pflegeheimen zu begrüßen sei, wenn der Deutsche Ethikrat Vorschläge entwickeln würde, ob und für welche Gruppen eine Impfpflicht denkbar wäre".4 Auch bei der Bundeswehr wird derzeit offenbar die Ausweitung einer Impfpflicht zum Schutz vor dem Coronavirus diskutiert.5 Bereits im Rahmen der Masern-Debatte forderte der Vorstandsvorsitzende des Weltärztebundes, Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, die Impfpflicht auf alle Impfungen, die die Ständige Impfkommission für Kinder empfiehlt, auszuweiten.6 Der Deutsche Ethikrat hatte bei der Masern- Schutzimpfung für bestimmte Gruppen im Gesundheits-, Bildungs- und Sozialwesen eine berufsspezifische Impfpflicht befürwortet.7 Ziel sei es gewesen, dass mit Hilfe dieser Impfpflicht hinreichend viele Personen immun seien und damit den Erreger nicht länger an ungeschützte Personen 1 Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 (BGBl. I S. 148). 2 Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen, Artikel 1 des Gesetzes vom 20. Juli 2000 (BGBl. I S. 1045), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Dezember 2020 (BGBl. I S. 3136). 3 Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 vom 18. Dezember 2020 (Bundesanzeiger Amtlicher Teil 21. Dezember 2020 V3). 4 Roßmann, Robert, Söder sieht Impfen als Bürgerpflicht, in: Süddeutsche Zeitung vom 11. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.sueddeutsche.de/politik/soeder-buergerpflicht-impfen-impfpflicht-1.5171244. 5 Bundeswehr prüft Corona-Impfpflicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/corona-impfpflicht-fuer-bundeswehr-soldaten-17147225.html (in dem Beitrag wird auf eine entsprechende Äußerung eines Sprechers des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) hingewiesen). 6 Montgomery regt Impfpflicht für alle RKI-Empfehlungen an, in: Ärzteblatt vom 23. April 2019, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/102566/Montgomery-regt-Impfpflicht-fuer-alle-RKI-Empfehlungen-an. 7 Siehe dazu die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats, Impfen als Pflicht?, 27. Juni 2019, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-alspflicht .pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 5 weitergeben könnten.8 Bei der Corona-Schutzimpfung sei dagegen bislang nicht geklärt, ob die Impfung auch tatsächlich die Nichtinfektiösität zur Folge habe. Dazu müsse gesichert sein, dass derjenige, der auf Grund einer Impfung immun ist, das Virus dann auch nicht mehr auf andere übertragen kann.9 2. Bisherige Impfpflichten in Deutschland 2.1. Masern Das Masernschutzgesetz sieht für alle Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr vor, dass sie beim Eintritt in die Schule oder den Kindergarten die von der Ständigen Impfkommission empfohlenen Masern-Impfungen vorweisen müssen. Dies gilt in der Regel auch für die Betreuung in der Kindertagespflege. Gleiches gilt für Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen oder medizinischen Einrichtungen tätig sind wie Erzieher, Lehrer, Tagespflegepersonen und medizinisches Personal (soweit diese Personen nach 1970 geboren sind). Asylbewerber und Flüchtlinge müssen den Impfschutz vier Wochen nach Aufnahme in eine Gemeinschaftsunterkunft nachweisen.10 Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Eilanträge auf Außerkraftsetzung der Vorschriften des IfSG über den Nachweis der Impfung abgelehnt.11 Die Interessenabwägung habe ergeben, dass das Interesse der Beschwerdeführer auf Betreuung ihrer Kinder ohne Impfung hinter dem Interesse an der Abwehr infektionsbedingter Risiken einer Vielzahl von Personen zurücktreten müsse. 2.2. Pocken Die Pocken gehörten im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu den gefährlichsten Infektionskrankheiten für den Menschen überhaupt und verliefen bei rund einem Drittel der Betroffenen tödlich. Die Krankheit war die erste, gegen die überhaupt geimpft werden konnte. Eine erste Impfpflicht gab es seit 1807 im Königreich Bayern und im Großherzogtum Hessen, später auch in Baden, in Württemberg und im Königreich Hannover. 1874 wurde in Deutschland das Impfgesetz 12 erlassen, wonach die Pockenschutzimpfung für jedes Kind verpflichtend war. Die Impfpflicht galt formal im Deutschen Reich und in der Bundesrepublik weiter, bis Mitte der 1970er Jahre, wurde aber in der Umsetzung nach und nach gelockert. Das Bundesverwaltungsgericht 8 Vgl. dazu die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats, Impfen als Pflicht?, S. 75, abrufbar unter: https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-alspflicht .pdf. 9 Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl im Interview mit DOMRADIO.DE, 13. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.domradio.de/themen/soziales/2021-01-13/schuetzt-zuerst-die-hochaltrigen-ethikrat-mitglied-gegen -impfpflicht-fuer-pfleger. 10 Informationen des BMG, abrufbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/impfpflicht.html und https://www.bundesgesundheitsministerium.de/impfpflicht/faq-masernschutzgesetz.html. 11 BVerfG, Beschluss vom 11. Mai 2020, Az. 1 BvR 469/20 und 1 BvR 470/20. 12 Impfgesetz, RGB. 1874, Nr. 11, S. 31-34. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 6 (BVerwG) wie auch der Bundesgerichtshof (BGH) hatten die Impfpflicht in den 1950er Jahren noch für verfassungskonform erklärt.13 1975 wurde die Impfpflicht zunächst für Kleinkinder aufgehoben , die Revakzinierung der Zwölfjährigen dann im Jahr 1976.14 2.3. Berufsbezogene Impfpflicht für Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Als Teil der in § 17a Abs. 2 S. 1, 2 Soldatengesetz15 (SG) geregelten, soldatischen Gesunderhaltungspflicht gilt eine Duldungspflicht für Impfungen des sogenannten Basis-Impfschutzes. Dieser umfasst – abgesehen von möglichen zusätzlichen Impfungen bei Auslandseinsätzen – Impfungen gegen Tetanus, Diphtherie, Polio, Keuchhusten, Grippe, Mumps, Masern, Hepatitis und FSME.16 Im Dezember 2020 entschied das BVerwG, dass die Verweigerung der Basisimpfung durch Soldaten ein Dienstvergehen darstelle, das mit einer Disziplinarmaßnahme geahndet werden könne. Die Impfung sei verpflichtend, da die Verbreitung übertragbarer Krankheiten die Einsatzbereitschaft militärischer Verbände schwächen könne. Eine Ausnahme hiervon könne insoweit – wie sich aus § 17a Abs. 4 S. 2 SG ergebe – nur bei einer Unzumutbarkeit der Impfung aufgrund einer objektiv erheblichen Gefahr für Leben und Gesundheit der Person gelten.17 Derzeit ist im für Soldatinnen und Soldaten verpflichtenden Basis-Schutz keine Impfung gegen COVID-19 vorgesehen. Aus Sicht der Truppenmediziner, so der Bericht bei spiegel-online vom 14. Dezember 202018, sei eine Impfpflicht aus mehreren Gründen sinnvoll. Riskant seien das Leben in Kasernen, die gemeinsamen Übungen, aber insbesondere auch die vielfachen Arbeitseinsätze zur Pandemiebekämpfung in Altenheimen und Testzentren. In einer Presseerklärung vom 19. Januar 2021 teilt das BMVg mit, dass die medizinischen Fachleute der Streitkräfte ständig prüfen würden, ob Impfungen gegen neue Erkrankungen notwendig sein könnten.19 13 BVerwG, Urteil vom 14. Juli 1959, Az. I C 170/56; BGH-Gutachten vom 25. Januar 1952, Az. VRG 5/51. 14 Gelderblom, Hans, Die Ausrottung der Pocken, in: Spektrum der Wissenschaft, Heft 6, 1996, S. 36, abrufbar unter : https://www.spektrum.de/magazin/die-ausrottung-der-pocken/823065. 15 Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz – SG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Mai 2005 (BGBl. I S. 1482), zuletzt geändert durch Artikel 188 der Verordnung vom 19. Juni 2020 (BGBl. I S. 1328). 16 Politik: Regierung prüft offenbar Coronaimpfpflicht für Bundeswehr, in: Ärzteblatt vom 14. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119356/Regierung-prueft-offenbar-Coronaimpfpflicht-fuer- Bundeswehr. 17 BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 2020, Az. 2 WNB 8.20. 18 Gebauer, Matthias, Kampf gegen Coronavirus: Verteidigungsministerium prüft Impfpflicht für alle Bundeswehrsoldaten , in: Spiegel vom 14. Dezember 2020, abrufbar unter: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundeswehr -in-der-corona-krise-verteidigungsministerium-prueft-impfpflicht-fuer-soldaten-a-313b4fe0-b75e-4eb4- 9dc9-d737eb832a20; Haneke, Alexander, Bundeswehr: Richter bestätigen Impfpflicht für Soldaten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18. Januar 2021, abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland /bundeswehr-richter-bestaetigen-impfpflicht-fuer-soldaten-17152445.html. 19 https://www.bmvg.de/de/presse/impfwesen-bundeswehr-duldungspflicht-impfpflicht-5019408. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 7 2.4. Impfpflichten in der ehemaligen DDR In der ehemaligen DDR stützte sich die Pocken-Impfpflicht in den 1950er Jahren weiterhin auf das Reichsimpfgesetz von 1874. Viele weitere Impfungen waren zunächst freiwillig, wurden jedoch Anfang der 1960er Jahre zu Pflichtmaßnahmen erklärt. So verzeichnen die Impfkalender bis zu 17 Pflichtimpfungen, an die sich die Bürger bis zum 18. Lebensjahr zu halten hatten, darunter Tuberkulose, Tetanus, Keuchhusten, Polio und Diphterie.20 Die Grippeschutzimpfung blieb freiwillig , die Masernschutzimpfung war seit 1970 verpflichtend.21 2.5. Impfpflichten in einigen Bundesländern In einigen Bundesländern wurden nach 1945, neben der noch bestehenden bundesweiten Pocken -Impfpflicht, die Impfpflichten ausgeweitet: So bestand ab 1950 beispielsweise in Nord- Württemberg und Nord-Baden für Diphtherie und Scharlach sowie im Saarland ab 1947 für Diphtherie eine Impfpflicht. In Baden-Württemberg war die Impfung gegen Diphtherie bei Aufnahme in Betreuungseinrichtungen vorgesehen.22 2.6. Weiterführende Quellen Thießen, Malte, Vom immunisierten Volkskörper zum „präventiven Selbst“, Impfen als Biopolitik und soziale Praxis vom Kaiserreich zur Bundespolitik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 2013, S. 35-64. Der Autor ist Historiker an der Universität Oldenburg und skizziert in seinem Aufsatz die Etappen der Impfgeschichte. Bereits zur Zeit der Einführung des Reichsimpfgesetzes im Jahr 1874 sei die Einführung eines staatlichen Impfzwanges, gegen den sich zahlreiche Abgeordnete wehrten, besonders umstritten gewesen. Der Autor stellt in seinem Beitrag die damals geführte kontroverse Debatte dar. Thießen, Malte, Immunisierte Gesellschaft – Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, erschienen in: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann, Göttingen 2017. Diese Veröffentlichung geht weiter vertiefend auf das Thema des oben genannten Aufsatzes aus dem Jahr 2013 ein. Thießen, Malte, Vorsorge als Ordnung des Sozialen. Impfen in der Bundesrepublik und der DDR, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), Heft 3, abrufbar unter: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2013/4731. In der Bundesrepub- 20 Pilz, Michael, Der große Menschenversuch, in: Die Welt vom 16. Dezember 2020, S. 22. 21 Ausführlich dazu Thießen, Malte, Vorsorge als Ordnung des Sozialen. Impfen in der Bundesrepublik und der DDR. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), Heft 3, abrufbar unter: https://zeithistorische-forschungen.de/3-2013/4731 22 Dazu ausführlich Klein, Silvia, Zusammenhang zwischen Impfungen und Inzidenz und Mortalität von Infektionskrankheiten . Zeitreihenanalysen mit Meldedaten zu Diphtherie, Pertussis, Poliomyelitis und Tetanus von 1892 bis 2011 in Deutschland, Dissertation 2013, abrufbar unter: https://refubium.fu-berlin .de/handle/fub188/3478. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 9 - 3000 – 003/21 Seite 8 lik Deutschland und der DDR wurde der Impfschutz mit unterschiedlichen Methoden vorangetrieben – das Mobilisieren von Ängsten, Appelle an die Sorge um das Gemeinwohl oder die Durchsetzung von Impfpflichten sollten die Gesundheit des Einzelnen und den „Herdenschutz“ der Gesellschaft sichern. Der Aufsatz erkundet die deutsch-deutsche Geschichte des Impfens von den 1950er Jahren bis 1989/90. Höfling, Wolfram, Vom präventiven Selbst zum immunisierten Volkskörper?, in: JuristenZeitung (JZ) 2019, S. 776-778. Der Autor ist Professor an der Universität zu Köln und knüpft in seinem Beitrag an den Aufsatz von Thießen aus dem Jahr 2013 (siehe oben) an. Seit den 1930er Jahren sei das „präventive Selbst“ mehr und mehr zum Leitbild geworden. Auch die durch das Präventionsgesetz im Jahre 2015 bewirkte Ergänzung von § 34 IfSG habe die informatorische Grundausrichtung in der staatlichen Impfpolitik noch einmal bestätigt. Gemäß § 34 Abs. 10a IfSG ist bei Kindern, die in eine Tagesstätte aufgenommen werden, der Nachweis einer vorherigen ärztlichen Beratung hinsichtlich des Impfschutzes vorzulegen. Die Einführung der Masernimpfpflicht bezeichnet der Autor nun als „Abschied vom ‚Abschied vom Zwang‘“ und kritisiert die zugrundeliegende Impfpolitik. Zudem deuten laut dem Autor internationale Erfahrungen und verhaltenswissenschaftliche Studien darauf hin, dass die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht für eine bestimmte Infektionskrankheit dazu führe, dass die Bevölkerung andere Schutzimpfungen nicht oder weniger häufig in Anspruch nehmen würde.23 Jütte, Robert, Zur Geschichte der Schutzimpfung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 46-47/2020, 6. November 2020, abrufbar unter: https://www.bpb.de/apuz/weltgesundheit- 2020/318298/zur-geschichte-der-schutzimpfung. Der Autor geht in der Historie der Impfpflichten zunächst bis ins Jahr 1807 zurück und erläutert die weitere Entwicklung. Das Dritte Reich habe in der Impfpolitik einen pragmatischen Ansatz verfolgt. Ein Fokus habe auf erfolgreichen Werbekampagnen der Pharmaindustrie für eine freiwillige Impfung mittels Broschüren, Radiobeiträgen und Aufklärungsfilmen gelegen. So habe man Ende der 1930er Jahre etwa eine Impfquote von 90 erreicht, oft über 95 Prozent bei der Diphtherieschutzimpfung, während diese bei der Pflichtimpfung gegen Pocken im Schnitt zwischen 60 und 80 Prozent gelegen habe. Tonti, Lauren, Covid-19: Die Gratwanderung mit der Impfpflicht, Können und sollten Staaten Schutz vor Viren vorschreiben? Eine Analyse der Situation in Deutschland und den USA, in: Technology Review 13/2020, S. 32-35. Der Artikel untersucht insbesondere die rechtliche und historische Ausrichtung der Impfpflicht in den USA und Deutschland. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht, WD 3 – 3000 – 019/16 vom 27. Januar 2016. Die vorliegende Arbeit gibt einen Überblick über bisherige Impfpflichten in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR mit weiterführenden Literaturangaben. *** 23 In diese Richtung auch Nolte, Heinrich, Warum eine Impfpflicht keine Lösung sein kann, in: Dr. med. Mabuse 242, November/Dezember 2020, S. 38-40, hier S. 40.