© 2016 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 002/16 Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach SGB VIII Sachstand Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach SGB VIII WD 9 - 3000 - 002/16 Seite 2 Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach dem SGB VIII Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 002/16 Abschluss der Arbeit: 21. Januar 2016 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach SGB VIII WD 9 - 3000 - 002/16 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Regelungsgegenstand des SGB VIII 4 2. Beweisanforderungen für Rechtsansprüche nach SGB VIII 4 3. Gesetzlich normierte Nachweispflichten im SGB VIII 5 Wissenschaftliche Dienste Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach SGB VIII WD 9 - 3000 - 002/16 Seite 4 1. Regelungsgegenstand des SGB VIII Das Achte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII)1 betrifft in seinem Regelungsgehalt die Kinderund Jugendhilfe. Das gesamte Kinder- und Jugendhilferecht steht unter der Prämisse der Förderung der Entwicklung junger Menschen und der Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Person (vgl. § 1 Abs.1 SGB VIII). Zur Sicherstellung rechtzeitiger Hilfen im Bedarfsfall zielen zahlreiche Rechtsansprüche des SGB VIII auf Beratung und Unterstützung der Kinder bzw. Jugendlichen und Personensorgeberechtigten.2 Zudem sind im Rahmen der Ausgestaltung der jeweiligen Unterstützungsleistungen die Mitwirkung des Kindes, des Jugendlichen und des Personensorgeberechtigten und deren Zusammenarbeit mit den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe unabdingbar.3 Die konkrete Art und Ausgestaltung der jeweiligen Leistung wird daher in der Regel in Betrachtung des Einzelfalls und unter Mitwirkung des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen und der/des Personensorgeberechtigten festgelegt.4 Das SGB VIII formuliert darüber hinaus auch Ansprüche, die unabhängig vom Bedarf im Einzelfall von Angehörigen bestimmter (Alters-) Gruppen geltend gemacht werden können.5 2. Beweisanforderungen für Rechtsansprüche nach SGB VIII Im Rahmen subjektiver Rechte im Bereich des SGB VIII, die bei Unterbleiben der Leistung auch gerichtlich geltend gemacht werden können, bedarf es grundsätzlich des vollen Beweises der anspruchsbegründenden Tatsachen.6 Ein solcher Vollbeweis liegt dann vor, wenn für die Behörde ein so hoher Grad an Wahrscheinlichkeit besteht, dass „kein vernünftiger Mensch mehr daran 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Achtes Buch (VIII) - Kinder- und Jugendhilfe in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022) zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Verbesserung der Unterbringung , Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vom 28. Oktober 2015 (BGBl. I S. 1802). 2 So beispielsweise die Ansprüche auf Beratung und Unterstützung nach § 17 Abs. 1, § 18 Abs. 1 – 4, § 21 Abs. 1 Satz 1, § 24 Abs. 2 Satz 1, § 24 Abs. 3 SGB VIII. 3 Vgl. insoweit das Wunsch- und Wahlrecht nach § 5, die Beteiligung der Kindern und Jugendlichen nach § 8 und die Mitwirkungsmöglichkeit nach § 36 SGB VIII. 4 Vgl. beispielsweise § 27 Abs. 1, 2 SGB VIII, nach dem die „Hilfe zur Erziehung“ nach den vorgesehenen Hilfemöglichkeiten nach §§ 28 ff. SGB VIII zu bestimmen ist und sich Art und Umfang der Hilfe nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall richtet. Außerdem ist insoweit die Mitwirkungsmöglichkeit nach § 36 SGB VIII zu berücksichtigen. 5 So beispielsweise der Anspruch auf Förderung in Tageseinrichtungen und Kindertagespflegen nach § 24 Abs. 2 und 3. 6 Dies ergibt sich aus dem für das gesamte Sozialverwaltungsverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz nach § 20 SGB X und – aufgrund fehlender abweichender Regelungen im SGB – aus dem allgemeingültigen Grundsatz der freien Beweiswürdigung und den allgemeinen Grundsätzen des Beweisrechts. Vgl. dazu Mutschler in Kass- Komm, SGB X, 87. EL (September 2015), § 20 Rn. 9 ff. Wissenschaftliche Dienste Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach SGB VIII WD 9 - 3000 - 002/16 Seite 5 zweifelt.“7 Ein geringerer Grad an Wahrscheinlichkeit genügt nur dann, wenn dies nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen oder nach der Rechtsprechung ausreicht.8 Regelungen, nach denen für den Tatsachennachweis eine geringere Wahrscheinlichkeit oder eine Glaubhaftmachung ausreichen, finden sich beispielsweise im SGB III.9 Für die im SGB VIII formulierten Rechtsansprüche ist eine solche „erleichterte Nachweisvoraussetzung “ nur an einer Stelle vorgesehen: § 35a Abs.1 SGB VIII räumt seelisch behinderten Kindern oder Jugendlichen den Anspruch auf Eingliederungshilfe ein. Dafür ist es ausreichend, wenn die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht.10 Dies ist zurückzuführen auf die Schwierigkeit einer Prognose bzw. Diagnose einer seelischen Behinderung, die auch von Experten oft nur schwer gestellt werden kann.11 Für das hier formulierte Beweismaß „hohe Wahrscheinlichkeit “ ist die einfache Wahrscheinlichkeit nicht ausreichend, aber eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ nicht erforderlich. Nach der Kommentarliteratur soll es sich in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung zu § 35a SGB VIII a.F. i.V.m. § 5 EinglHVO12 um eine Wahrscheinlichkeit von wesentlich mehr als 50 Prozent handeln.13 Als weitere Voraussetzung des Anspruchs auf Eingliederungshilfe ist erforderlich, dass durch die mit hoher Wahrscheinlichkeit feststehende seelische Behinderung eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35a Abs.1 Satz 1 Nr.2 SGB VIII). 3. Gesetzlich normierte Nachweispflichten im SGB VIII Darüber hinaus ist zu prüfen, ob die Bestimmungen des SGB VIII selbst bestimmte Nachweispflichten für Rechtsansprüche vorsehen. Das SGB VIII räumt in der Regel Rechtsansprüche für bestimmte Personen oder Personengruppen ein, ohne den Nachweis einer Berechtigung konkret zu regeln. So formuliert § 17 SGB VIII einen Anspruch auf Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung für Eltern bzw. Personensorgeberechtigte ein, die für ein Kind oder einen Jugendlichen zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen. Wie darüber ein Nachweis zu erfolgen hat, wird hier nicht näher ausgeführt. Auch die meisten anderen Rechtsansprüche im SGB VIII definieren die jeweiligen Adressaten und Voraussetzungen , fordern aber keine konkreten Nachweise, zum Beispiel: 7 Siefert in Von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 20 Rn. 28. 8 Vgl. Siefert in Von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Auflage 2014, § 20 Rn. 28. 9 Vgl. dazu die näheren Ausführungen im Sachstand WD 6 – 3000 – 003/16. 10 Vgl. Stähr in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 05/15, § 35a SGB VIII Rn. 13 f. 11 BT-Drs. 13/11368, S. 279. 12 Aufgehoben durch Art. 16 Nr. 1 SGB IX (BGBl. I. 1046, 1113). 13 Vgl. Stähr in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 05/15, § 35a SGB VIII Rn. 14; BVerwG, Urteil v. 26. November 1998 – 5 C 38/97, ZfS 2000, 146. Wissenschaftliche Dienste Nachweispflichten für Rechtsansprüche nach SGB VIII WD 9 - 3000 - 002/16 Seite 6 - § 18 Abs.1 sieht einen Beratungs- und Unterstützungsanspruch für Mütter und Väter vor, wenn diese allein für ein Kind oder einen Jugendlichen zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen; - § 21 Satz 1 räumt einen Anspruch auf Beratung und Unterstützung ein, wenn die Erfüllung der Schulpflicht des Kindes oder Jugendlichen aufgrund eines mit der beruflichen Tätigkeit verbundenen ständigen Ortswechsels nicht sichergestellt werden kann und daher eine anderweitige Unterbringung des Kindes notwendig ist; - § 27 Abs.1 formuliert einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn ein dem „Wohle des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung“ nicht gewährleistet ist und wenn die Hilfe geeignet und notwendig ist14. Der bereits erwähnte § 35a SGB VIII stellt auch im Hinblick auf die gesetzliche Forderung bestimmter Nachweise eine Ausnahme dar: Erste Voraussetzung des Anspruchs auf Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder ist eine „Abweichung der seelischen Gesundheit um mehr als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand“ (Abs.1 Satz 1 Nr.1). Für diesen Fall bestimmt § 35a Abs.1a SGB VIII, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe eine fachliche Stellungnahme einzuholen hat; diese muss entweder von einem Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie , einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder einem Arzt oder einem psychologischen Psychotherapeuten stammen, der über besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt. Zusätzlich ist die Stellungnahme auf der Grundlage der internationalen Klassifikation der Krankheiten in der vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu erstellen und dabei darzulegen, ob die Abweichung Krankheitswert hat oder auf einer Krankheit beruht (§ 35a Abs.1a Satz 2 u. 3 SGB VIII). Hinsichtlich der zweiten Anspruchsvoraussetzung - der durch den seelischen Zustand verursachten Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben der Gesellschaft – fällt nach der Rechtsprechung die Beurteilung in den Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe und kann auf Grundlage von Verlaufsberichten der Lebenshilfe, Berichten aus Kliniken und Stellungnahmen von Fachärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie erfolgen.15 Ende der Bearbeitung 14 Ob die Eignung und Notwendigkeit der Hilfe Anspruchsvoraussetzungen darstellen, ist umstritten. Ablehnend Schmid-Obkirchner in: Wiesner, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 5. Auflage 2015, § 27 Rn. 25a m.w.N.; hingegen als Voraussetzung ansehend Winkler in BeckOK-Sozialrecht, 39 Ed. (Stand 01. September 2015), § 27 Rn. 1 m.w.N. 15 So nach dem OVG Münster, Beschluss v. 14. Oktober 2014 - 12 B 870/14, BeckRS 2014, 58422.