© 2018 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 001/18 Methoden zur forensischen Altersdiagnostik Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 2 Methoden zur forensischen Altersdiagnostik Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 001/18 Abschluss der Arbeit: 25. Januar 2018 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Vorbemerkung 4 2. Medizinische Verfahren 4 2.1. Körperliche Untersuchung und Anamnese 5 2.2. Röntgenuntersuchungen 6 2.2.1. Untersuchung der Handknochen 6 2.2.2. Zahnärztliche Untersuchung 6 2.2.3. Untersuchung der Schlüsselbeine 7 2.3. Weitere Methoden 7 3. Kosten und Aufwand der Untersuchung 8 4. Eingriff in die körperliche Unversehrtheit 9 5. Zuverlässigkeit der Altersfeststellung und Kritik 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 4 1. Vorbemerkung Die forensische Altersdiagnostik dient dazu, das Lebensalter von Personen (üblicherweise Migranten ) festzustellen, um altersabhängige behördliche oder strafrechtliche Verfahren rechtssicher durchführen zu können.1 Ärztliche Untersuchungen zur Feststellung des Alters können auf Grundlage von § 49 Abs. 3 und 6 Aufenthaltsgesetz (AufenthG)2 und § 42f Abs. 2 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII)3 angeordnet werden. Ein bundeseinheitliches Verfahren zur Altersfeststellung besteht nicht. Vielmehr erfolgt die Durchführung von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich , teils sogar von Ort zu Ort.4 Die Altersdiagnostik ist insbesondere in Bezug auf sogenannte minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in der Diskussion. Unter Medizinern umstritten sind vor allem die Zuverlässigkeit der angewandten Untersuchungsmethoden sowie die Vertretbarkeit von Röntgenuntersuchungen im Rahmen des Altersfeststellungsverfahrens. Im Folgenden werden die medizinischen Methoden erläutert, die zur Altersfeststellung genutzt werden können. Des Weiteren wird auf den Umfang des Eingriffs der einzelnen Untersuchungsmethoden in die körperliche Unversehrtheit eingegangen. Abschließend werden Ansichten zur Zuverlässigkeit der Methoden sowie kritische Stellungnahmen dargestellt. 2. Medizinische Verfahren Für die Altersfeststellung stehen verschiedene medizinische Verfahren zur Verfügung. Im Jahr 2000 wurde die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin gegründet, um die unterschiedlichen Vorgehensweisen der Gutachter durch Empfehlungen zu harmonisieren.5 1 Vgl. Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (44), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). Eine Aufstellung von relevanten Altersgrenzen findet sich auf S. 45. 2 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) in der Fassung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618), abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/aufenthg_2004/ (Stand: 23. Januar 2018). 3 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) – Kinder und Jugendhilfe – in der Fassung vom 11. September 2012 (BGBl. I S. 2022), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618), abrufbar unter https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_8/index.html (Stand: 23. Januar 2018). 4 Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, Medizinische Altersschätzung bei unbegleiteten jungen Flüchtlingen, Deutsches Ärzteblatt, 30. September 2016, S. A1 ff. (A 2), abrufbar unter http://www.zentrale-ethikkommission.de/downloads/Altersschaetzung2016.pdf (Stand: 22. Januar 2018). 5 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (44), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 5 Bei Vorliegen einer Rechtsgrundlage für Röntgenuntersuchungen6 sieht die entsprechende Empfehlung folgende Untersuchungsmethoden als am besten geeignet an: • die körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße (Körperhöhe und -gewicht, Körperbautyp), der sexuellen Reifezeichen sowie möglicher alterungsrelevanter Entwicklungsstörungen, • die Röntgenuntersuchung der linken Hand, • die zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und Röntgenuntersuchung des Gebisses, • bei abgeschlossener Handskelettentwicklung eine zusätzliche Untersuchung der Schlüsselbeine , zurzeit bevorzugt mittels konventioneller Röntgendiagnostik bzw. Computertomographie .7 Zur Erhöhung der Aussagesicherheit empfiehlt die AGFAD, alle genannten Methoden einzusetzen .8 2.1. Körperliche Untersuchung und Anamnese Die allgemeine körperliche Untersuchung und die Anamnese dienen dazu, die körperlichen Reifezeichen und etwaige Wachstums- und Entwicklungsstörungen festzustellen.9 Insbesondere ist auf mögliche Vorerkrankungen oder Medikamenteneinnahmen zu achten, die den natürlichen Reifungsprozess des Körpers verändern. Dies betrifft insbesondere hormonelle Störungen, wovon einige zu einer Störung des Längenwachstums und der sexuellen Reifeentwicklung sowie zu einer Veränderung der Skelettreifung führen. 6 Die Frage, ob die oben genannten Rechtsgrundlagen Röntgenuntersuchungen erlauben, ist umstritten, siehe dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 – 3000 – 008/18, Gesetzliche Grundlagen einer Untersuchung zur Altersbestimmung, 22. Januar 2018, S. 4. 7 Schmeling et al., Aktualisierte Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik für Altersschätzungen bei Lebenden im Strafverfahren, Rechtsmedizin 2008, S. 451 ff. (451), abrufbar unter http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/Forensische_Altersdiagnostik_fuer_Altersschaetzungen .pdf (Stand: 22. Januar 2018). Die Empfehlung findet auch außerhalb des Strafverfahrens Anwendung, wenn eine Rechtsgrundlage für eine Röntgenuntersuchung besteht, siehe die Fußnote auf S. 1 der Empfehlung für die Altersdiagnostik bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen außerhalb des Strafverfahrens, abrufbar unter https://www.medizin.uni-muenster.de/fileadmin/einrichtung/agfad/empfehlungen/empfehlungen_ausserhalb _strafverfahren.pdf (Stand: 24. Januar 2018). 8 Schmeling et al., Aktualisierte Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik für Altersschätzungen bei Lebenden im Strafverfahren, Rechtsmedizin 2008, S. 451 ff. (452), abrufbar unter http://www.dgzmk.de/uploads/tx_szdgzmkdocuments/Forensische_Altersdiagnostik_fuer_Altersschaetzungen .pdf (Stand: 22. Januar 2018). 9 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (46), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018), dort auch zum Folgenden. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 6 2.2. Röntgenuntersuchungen Die medizinische Feststellung des Alters erfolgt üblicherweise durch Röntgenaufnahmen des Skeletts, da die Skelettentwicklung einer altersabhängigen Gesetzmäßigkeit folgt. Von entscheidender Bedeutung sind dabei das Erscheinen der Knochenkerne (Ossifikationskerne) und das Verknöchern der Wachstumsfugen (Epiphysenfugen).10 2.2.1. Untersuchung der Handknochen Zur Altersschätzung der Handknochen bestehen im Wesentlichen zwei Methoden: Die Wissenschaftler Greulich und Pyle haben bereits 1959 die sogenannte „Atlasmethode“ entwickelt, bei der Röntgenaufnahmen der linken Hand des Patienten mit Referenzaufnahmen aus einem Atlas verglichen werden, der die normale Handentwicklung zeigt. Neben dem Atlas von Greulich und Pyle wird auch der „Röntgenatlas der normalen Hand im Kindesalter“ von Thiemann und Nitz angewandt. Alternativ gibt es die sogenannte „Einzelknochenmethode“ nach Tanner und Whitehouse, bei der für bestimmte Knochen der Reifegrad bestimmt wird und die Reifegrade anschließend zur Berechnung eines allgemeinen Reifestadiums zusammengefasst werden.11 Zu beachten ist, dass die Skelettreifung vom sozioökonomischen Status der Person beeinflusst wird.12 Mangelernährung und unzureichende medizinische Versorgung wirken sich verlangsamend auf das Knochenwachstum aus.13 2.2.2. Zahnärztliche Untersuchung Die zahnärztliche Untersuchung bezieht sich insbesondere auf den Durchbruch und die Mineralisation der dritten Molaren („Weisheitszähne“). „Sind die Weisheitszähne noch nicht sichtbar, wird die Entwicklung aller Zähne im Röntgenbild untersucht. Bei dieser Methode nach Dermijian wird jedem Zahn ein Entwicklungsscore gegeben. Die Scores werden zusammengezählt 10 Honey, Wie lässt sich das Alter am besten bestimmen?, Spektrum, 8. Januar 2018, abrufbar unter http://www.spektrum.de/news/wie-laesst-sich-ein-alter-am-besten-bestimmen /1530653?utm_source=zon&utm_medium=teaser&utm_content=feature&utm_campaign=ZON_KOOP (Stand: 22. Januar 2018). 11 European Asylum Support Office, Praxis der Altersbestimmung in Europa, Dezember 2013, S. 34, abrufbar unter https://www.easo.europa.eu/sites/default/files/public/2013.9603_DE_V4.pdf (Stand: 22. Januar 2018); Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (46 f.), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). 12 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (47), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). 13 Honey, Wie lässt sich das Alter am besten bestimmen?, Spektrum, 8. Januar 2018, abrufbar unter http://www.spektrum.de/news/wie-laesst-sich-ein-alter-am-besten-bestimmen /1530653?utm_source=zon&utm_medium=teaser&utm_content=feature&utm_campaign=ZON_KOOP (Stand: 22. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 7 und das Ergebnis mit der Verteilung der Scores einer Vergleichsgruppe verglichen.“14 Zu beachten ist, dass der Entwicklungsgrad der Zähne von der ethnischen Zugehörigkeit der untersuchten Person abhängt. Daher sind Vergleichsgruppen derselben Ethnie heranzuziehen.15 2.2.3. Untersuchung der Schlüsselbeine Die Untersuchung der Schlüsselbeinknochen wird insbesondere dann empfohlen, wenn das Handskelett bereits ausgereift ist.16 Die Wachstumsfuge des Schlüsselbeins ist der als letztes verknöchernde Skelettteil des Körpers. Das Entwicklungsstadium 3c wird mit Vollendung des 19. Lebensjahres erreicht, das abschließende Stadium 4 mit Vollendung des 21. Lebensjahres. 2.3. Weitere Methoden Neben den von der AGFAD empfohlenen Verfahren sind auch weitere Methoden zur Altersfeststellung möglich. So wird anstelle von Röntgenuntersuchungen teilweise auch die Magnetresonanztomographie (MRT) genutzt.17 Für die Altersbestimmung mittels MRT liegen bereits Studien vor.18 14 Honey, Wie lässt sich das Alter am besten bestimmen?, Spektrum, 8. Januar 2018, abrufbar unter http://www.spektrum.de/news/wie-laesst-sich-ein-alter-am-besten-bestimmen /1530653?utm_source=zon&utm_medium=teaser&utm_content=feature&utm_campaign=ZON_KOOP (Stand: 22. Januar 2018). 15 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (47), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018), Honey, Wie lässt sich das Alter am besten bestimmen?, Spektrum, 8. Januar 2018, abrufbar unter http://www.spektrum.de/news/wie-laesstsich -ein-alter-am-besten-bestimmen/1530653?utm_source=zon&utm_medium=teaser&utm_content=feature &utm_campaign=ZON_KOOP (Stand: 22. Januar 2018). 16 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (47), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018), dort auch zum Folgenden. 17 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (49), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). 18 Etwa Dvorak et al., Age determination by magnetic resonance imaging of the wrist in adolescent male football players, British journal of sports medicine 2007, Vol. 41, S. 45 ff.; Jopp et al., Proximale Tibiaepiphyse im Magnetresonanztomogramm . Neue Möglichkeit zur Altersbestimmung bei Lebenden?, Rechtsmedizin 2010, S. 464 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 8 Auch zur Anwendung von Ultraschall zur Beurteilung des Lebensalters gibt es bereits Studien.19 Das Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik (IBMT) hat kürzlich einen mobilen Ultraschall -Handscanner vorgestellt.20 Dieser soll zukünftig zur Identifizierung minderjähriger Opfer von Menschenhandel dienen. Im Altersfeststellungsverfahren nach dem AufenthG und dem SGB VIII wird Ultraschall – soweit ersichtlich – bisher nicht angewandt. Der Humangenetiker Steve Horvath stellte 2013 eine Methode zur Feststellung des Lebensalters mittels Genanalyse vor. Die Analyse erfolgt durch eine Untersuchung von Zellen, die etwa mittels Abstrich der Mundschleimhaut entnommen werden.21 Horvaths Methode wurde vor kurzem erstmals in Deutschland eingesetzt. Es handelte sich dabei um einen Fall aus dem niedersächsischen Landkreis Hildesheim, bei dem Horvath feststellte, dass der Untersuchte, der sich als minderjährig ausgegeben hatte, mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent zwischen 26,4 und 29 Jahren alt war. 3. Kosten und Aufwand der Untersuchung Zu den Kosten der in Frage kommenden Untersuchungen lassen sich keine einheitlichen Angaben finden. So gab der Hamburger Senat im Jahr 2010 an: „Die der Behörde für Inneres – Einwohner -Zentralamt – in Rechnung gestellten Kosten für die vom IfR [Institut für Rechtsmedizin] im Rahmen der Dienstaufgaben erbrachten Untersuchungen für die Altersüberprüfung einschließlich der Erstellung des Abschlussgutachtens liegen bei 111,56 Euro brutto pro Fall.“22 Welche Untersuchungen dabei im Einzelnen durchgeführt wurden, ließ sich nicht feststellen; der Senat ging aber davon aus, „dass nur in Ausnahmefällen keine Röntgenuntersuchung erfolgte.“23 19 Eine Übersicht der Studien findet sich bei Schulz et al., Sonographische Untersuchungen verschiedener Skelettregionen . Forensische Altersdiagnostik bei lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Rechtsmedizin 2014, S. 480 ff., abrufbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s00194-014-0988-8.pdf (Stand: 22. Januar 2018). 20 Presseinformation der Fraunhofer-Gesellschaft, Kampf gegen Menschenhandel: Fraunhofer IBMT und Partner stellen mobilen, smartphonefähigen Ultraschall-Handscanner zur Identifizierung minderjähriger Opfer vor, 26. Oktober 2017, abrufbar unter https://www.fraunhofer.de/de/presse/presseinformationen/2017/oktober/medica -2017-fraunhofer-zeigt-ultraschall-handscanner.html (Stand: 22. Januar 2018). 21 Stawski, Das Alter lesen, in: Stern, 11. Januar 2018, S. 48 ff., dort auch zum Folgenden. 22 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Mehmet Yildiz (DIE LINKE.) und Antwort des Senats vom 5. Februar 2010, Drs. 19/5214, S. 8, Nr. 11, abrufbar unter http://www.fluechtlingsrat-hamburg.de/content/KA_MUF_dieLinke_195214_050210.pdf (Stand: 22. Januar 2018). 23 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Mehmet Yildiz (DIE LINKE.) und Antwort des Senats vom 5. Februar 2010, Drs. 19/5214, S. 7, Nr. 9d, abrufbar unter http://www.fluechtlingsrat-hamburg.de/content/KA_MUF_dieLinke_195214_050210.pdf (Stand: 22. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 9 Aus der Antwort des Hamburger Senats auf eine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2017 ergeben sich dagegen andere Kosten.24 Nach Angaben des Senats wurden im Jahr 2016 in Hamburg 58 Altersfeststellungsverfahren durchgeführt. Daraus hätten sich Kosten von 47.090,40 Euro ergeben, mithin im Schnitt Kosten von 811,90 Euro pro Fall. In verschiedenen aktuellen Zeitungsberichten werden noch weit höhere Kosten angegeben. So heißt es etwa in der Süddeutschen Zeitung: „Für jedes Altersgutachten bezahlt die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie etwa 1500 Euro.“25 Der zeitliche Aufwand der Untersuchungen variiert, da unter Umständen verschiedene Untersuchungsmethoden angewandt werden. Presseberichte gehen von einem Aufwand von etwa zwei Stunden aus.26 Die Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung wies 2017 in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage darauf hin, dass keine statistische Erfassung der Dauer der Untersuchungen erfolge.27 Das gemeinsame Centrum für Altersdiagnostik der Charité biete im Regelfall einen Untersuchungstag im Monat an, je nach Auftragslage auch mehrere . Vom Untersuchungstag bis zur Versendung des Gutachtens vergingen zwischen drei und fünf Wochen. 4. Eingriff in die körperliche Unversehrtheit Die Anordnung ärztlicher Untersuchungsmethoden kann einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG darstellen und unterliegt daher dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit .28 Die Frage der Verhältnismäßigkeit könnte insbesondere in Bezug auf Röntgenuntersuchungen problematisch sein. Dass Röntgenstrahlung ein potentielles Gesundheitsrisiko darstellt, 24 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage der Abgeordneten Jennyfer Dutschke (FDP) und Antwort des Senats vom 7. März 2017, Drs. 21/8549, S. 3, Nrn. 9 und 10, abrufbar unter https://www.buergerschaft-hh.de/ParlDok/dokument/57269/minderj%C3%A4hrige-unbegleitetefl %C3%BCchtlinge.pdf (Stand: 22. Januar 2018). 25 Ludwig, Bundesärztekammer lehnt systematische Alterstests für Flüchtlinge ab, in: Süddeutsche Zeitung, 2. Januar 2018, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-bundesaerztekammer-lehntsystematische -alterstests-fuer-asylbewerber-ab-1.3810234 (Stand: 22. Januar 2018). Kosten von 1500 Euro werden auch angegeben bei Rosenfelder, Kinder mit Bärten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Januar 2018, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/altersfrage-bei-fluechtlingen-kinder-mit-baerten- 15377977-p3.html (Stand: 23. Januar 2018) sowie Stawski, Das Alter lesen, in: Stern, 11. Januar 2018. 26 So etwa Rosenfelder, Kinder mit Bärten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Januar 2018, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/altersfrage-bei-fluechtlingen-kinder-mit-baerten-15377977-p3.html (Stand: 23. Januar 2018). 27 Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Rissmann (CDU) vom 25. April 2017 und Antwort, Kinder, die keine sind: Wie ist der derzeitige Stand der Altersfeststellung in Berlin, Drs. 18/11097, S. 2, abrufbar unter https://kleineanfragen.de/berlin/18/11097-kinder-die-keine-sind-wie-ist-der-derzeitige-stand-der-altersfeststellung -in-berlin (Stand: 23. Januar 2018), dort auch zum Folgenden. 28 Siehe dazu Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 – 3000 – 008/18, Gesetzliche Grundlagen einer Untersuchung zur Altersbestimmung, 22. Januar 2018, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 10 ist wissenschaftlich unbestritten. Aus diesem Grund wurde 1987 die Röntgenverordnung29 erlassen , die Regelungen für Errichtung und Betrieb von Röntgenanlagen und für die Anwendung der Strahlung beim Menschen festlegt. Der Bundesgerichtshof stellte 1997 in einem Grundsatzurteil fest, dass Röntgenuntersuchungen ohne medizinische Indikation unter Umständen eine gefährliche Körperverletzung darstellen können und führte zur Begründung aus: „Die Einwirkung der Röntgenstrahlen führt zu somatisch faßbaren nachteiligen Veränderungen der Körperbeschaffenheit, auch wenn klinisch erkennbare Schäden nicht oder nicht sogleich wahrnehmbar sind. […] Die einmalige, kurzzeitige oder nur gelegentlich wiederholte ordnungsgemäße Anwendung von Röntgenstrahlen mag in der Regel noch nicht als Körperverletzung zu beurteilen sein. Anders ist es aber, wenn die Zerstörung der Zellstrukturen durch Röntgenuntersuchungen – insbesondere auch bei Menschen, die bereits früher häufig ionisierenden Strahlen ausgesetzt waren – die Gefahr des Eintritts von Langzeitschäden nicht nur unwesentlich erhöht.“30 Die für die Altersfeststellung eingesetzte Röntgenstrahlendosis unterscheidet sich je nach untersuchtem Körperteil.31 Die geringste Strahlung wird mit 0,0001 Millisievert (mSv) für das Handradiogramm eingesetzt und beim Orthopantomogramm (Röntgenaufnahme des Ober- und Unterkiefers ) 0,026 mSv. Die höchste Strahlendosis wird mit 0,4 mSv bei der Computertomographie der Schlüsselbeine eingesetzt. Zum Vergleich lässt sich anführen, dass die natürliche Strahlenexposition in Deutschland bei durchschnittlich 2,1 mSv pro Jahr liegt.32 Von rechtsmedizinischer Seite wird darauf hingewiesen, dass die Risikozunahme durch die Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung im Bereich anderer Alltagsrisiken liege, etwa der Teilnahme am Straßenverkehr.33 Eine „oberhalb des Üblichen liegende Gesundheitsgefährdung durch Röntgenstrahlenexposition im Rahmen der Altersdiagnostik“ sei daher nicht anzunehmen. Ebenso äußerte sich auch das Verwaltungsgericht Hamburg im Jahr 2009. In § 49 Abs. 6 AufenthG ist ausdrücklich festgeschrieben, dass durch eine angeordnete Untersuchung „kein Nachteil für die Gesundheit“ zu befürchten sein darf. Das Verwaltungsgericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass „nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine im Rahmen 29 Verordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgenstrahlen (Röntgenverordnung - RöV) vom 8. Januar 1987, zuletzt geändert durch Verordnung vom 11. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2010), abrufbar unter http://www.gesetze-im-internet.de/r_v_1987/ (Stand: 23. Januar 2018). 30 Bundesgerichtshof, Urteil vom 3. Dezember 1997, BGH 2 StR 397/97, abrufbar unter https://www.hrr-strafrecht .de/hrr/2/97/2-397-97.php3 (Stand: 23. Januar 2018). 31 Die folgenden Werte sind entnommen aus Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt , 29. Januar 2016, S. 44 ff. (46), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). 32 Meier et al., Altersdiagnostik und Strahlenexposition, Rechtsmedizin 2015, S. 30 ff. (32). 33 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (46), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 11 des Üblichen liegende Gesundheitsgefährdung des zu Untersuchenden durch Röntgenbestrahlung hinzunehmen und nicht als Gesundheitsnachteil im Sinne der Vorschrift aufzufassen ist.“34 Im Gegensatz zur Röntgenstrahlung gilt Ultraschall bei korrekter Anwendung als gesundheitlich unbedenklich. Gesundheitsrelevante Wirkungen können erst bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte auftreten.35 Bei der Magnetresonanztomographie tritt ebenfalls keine Strahlenbelastung auf. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA warnte jedoch 2015 davor, dass der häufig in Kontrastmitteln verwendete magnetische Stoff Gadolinium sich bereits nach wenigen Anwendungen im Gehirn absetzen könne.36 Weitere Untersuchungen der FDA ergaben letztlich keine Hinweise auf mögliche Gehirnschäden aufgrund der Ablagerungen.37 Den geringsten körperlichen Eingriff dürfte die Methode mittels genetischer Analyse nach Horvath darstellen, da für die benötigten Zellen bereits ein Wangenabstrich genügt.38 34 VG Hamburg, Beschluss vom 22. Juli 2009, 3 E 1152/09, zitiert nach: Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Bericht des Innenausschusses über die Drucksache 19/5708, Drs. 19/7277, 14. September 2010, S. 5, abrufbar unter http://www.fluechtlingsrat-hamburg.de/content/Bericht%20der%20Innenausschusssitzung %20zu%20MUF_140910.pdf (Stand: 23. Januar 2018). 35 Mögliche gesundheitliche Auswirkungen und empfohlene Schwellenwerte finden sich in der Empfehlung der Strahlenschutzkommission, Ultraschallanwendung am Menschen, 2012, S. 9 f. und 14 ff., abrufbar unter https://www.ssk.de/SharedDocs/Beratungsergebnisse_PDF/2012/Ultraschall.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 23. Januar 2018). 36 U.S. Food & Drug Administration, Gadolinium-based Contrast Agents for Magnetic Resonance Imaging (MRI): Drug Safety Communication – FDA Evaluating the Risk of Brain Deposits With Repeated Use, 27. Juli 2015, abrufbar unter https://www.fda.gov/safety/medwatch/safetyinformation/safetyalertsforhumanmedicalproducts /ucm456012.htm (Stand: 23. Januar 2018). 37 Deutsches Ärzteblatt, Gadolinium: FDA findet keine Hirnschäden durch MRT-Kontrastmittel, 24. Mai 2017, abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/75948/Gadolinium-FDA-findet-keine-Hirnschaeden-durch- MRT-Kontrastmittel (Stand: 23. Januar 2018). 38 Stawski, Das Alter lesen, in: Stern, 11. Januar 2018, S. 48 ff (48). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 12 5. Zuverlässigkeit der Altersfeststellung und Kritik Die exakte medizinische Ermittlung des Lebensalters einer Person ist nicht möglich. Das Alter kann vielmehr nur näherungsweise geschätzt werden.39 Im Gutachten werden daher üblicherweise das wahrscheinlichste Alter und/oder das Mindestalter angegeben.40 Die Angabe des Mindestalters soll verhindern, dass ein zu hohes Alter der Person ermittelt wird. Das angegebene Alter liege somit „praktisch immer unter dem tatsächlichen Alter.“41 Die Zuverlässigkeit der eingesetzten Untersuchungsmethoden ist nicht unumstritten.42 So wird in Bezug auf die Handuntersuchung angemerkt, dass auch bei vollständiger Verknöcherung der Wachstumsfugen ein Alter von unter 18 Jahren möglich sei.43 Zudem basiere die am häufigsten angewandte Methode nach Greulich und Pyle auf einer Referenzpopulation aus den 1930er Jahren, während das mittlere Knochenalter in den letzten 80 Jahren deutlich angestiegen sei.44 Gegen die Untersuchung der Schlüsselbeine wird angeführt, dass es für einige Altersklassen zu wenige Probandenzahlen und somit keine zuverlässigen Mittelwerte gebe.45 Zudem könnten beim selben Individuum zwischen der rechten und der linken Wachstumsfuge des Schlüsselbeins Unterschiede in der Altersdefinition von bis zu drei Jahren auftreten.46 39 Nowotny et al., Strittiges Alter – strittige Altersdiagnostik, Deutsches Ärzteblatt, 2. Mai 2014, S. A 786 ff. (A 786). 40 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (49), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). Für einen Beispielsfall siehe S. 48. 41 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (49), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). 42 Kritisch etwa Nowotny et al., Strittiges Alter – strittige Altersdiagnostik, Deutsches Ärzteblatt, 2. Mai 2014, S. A 786 ff. 43 Nowotny et al., Strittiges Alter – strittige Altersdiagnostik, Deutsches Ärzteblatt, 2. Mai 2014, S. A 786 ff. (A 786). 44 Nowotny et al., Strittiges Alter – strittige Altersdiagnostik, Deutsches Ärzteblatt, 2. Mai 2014, S. A 786 ff. (A 788). 45 Ponocny/Ponocny-Seliger, Biometrische Stellungnehme zu den Referenzpublikationen von Kellinghaus et al., 30. September 2013, abrufbar unter https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwi6uKC9i- 7YAhUFIlAKHbw4B5gQFggsMAE&url=https%3A%2F%2Fwww.asyl.at%2Fadincludes%2Fdld.php%3Fdatei %3D210.08.ma%2Cdok53biometrischestellungnahme.pdf&usg=AOvVaw0JcBAbpjIz3rN7Y_AG9dnP (Stand: 23. Januar 2018). 46 Bassed et al., The incidence of asymmetrical left/right skeletal and dental development in an Australian population and the effect of this on forensic age estimations, International journal of legal medicine 2012, S. 251 ff. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 13 Zudem können – wie oben erwähnt – Vorerkrankungen zu Abweichungen führen. Einige Störungen führen zu einer Entwicklungsverzögerung, die eine – juristisch nicht nachteilige – Altersunterschätzung zur Folge haben könnten. Einige seltene hormonelle Störungen beschleunigen dagegen die Skelettreifung, womit die Gefahr der Altersüberschätzung besteht.47 Gegenüber der Kritik gab der Vorsitzende der AGFAD zu bedenken, dass nur entscheidend sei, dass das Überschreiten einer juristisch relevanten Altersgrenze – etwa 18 oder 21 Jahre – nachgewiesen werden könne. Dies sei möglich.48 Umstritten ist auch die Frage, ob die Anwendung von Röntgenuntersuchungen zur Altersfeststellung überhaupt zulässig und vertretbar ist.49 Besonders starke Kritik wird von Seiten der Bundesärztekammer geäußert. Die Zentrale Ethikkommission sieht eine Untersuchung mit Röntgenstrahlung oder vergleichbaren Methoden als unverhältnismäßig an.50 Die Kommission führt aus, dass durch keine der von der AGFAD empfohlenen Untersuchungsmethoden mit hinreichender Zuverlässigkeit das genaue Lebensalter festgestellt werden und damit auch nicht genau angegeben werden könne, ob das Alter über oder unter 18 Jahren bzw. über oder unter 14 oder 16 Jahren liege. So könne ein adultes Handskelett bereits mit 15 Jahren vorliegen, dagegen könnten auch 20-Jährige noch immature Zahnreifestadien haben. Für den Bereich der medizinischen Altersschätzung sei bisher keine unabhängige evidenzbasierte Evaluation der Verfahren erfolgt, es gebe auch keine interdisziplinäre Leitlinie der relevanten Fachgesellschaften.51 Solange diese Stan- 47 Schmeling et al., Forensische Altersdiagnostik, in: Deutsches Ärzteblatt, 29. Januar 2016, S. 44 ff. (46), abrufbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=173611 (Stand: 22. Januar 2018). 48 Zitiert nach Heine, Bis unter die Haut, in: Das Parlament, 22. Januar 2018, S. 3. 49 Zur juristischen Diskussion siehe Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, WD 3 – 3000 – 008/18, Gesetzliche Grundlagen einer Untersuchung zur Altersbestimmung, 22. Januar 2018, S. 4. 50 Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, Medizinische Altersschätzung bei unbegleiteten jungen Flüchtlingen, Deutsches Ärzteblatt, 30. September 2016, S. A 1 ff. (A 3), abrufbar unter http://www.zentrale-ethikkommission.de/downloads/Altersschaetzung2016.pdf (Stand: 23. Januar 2018), dort auch zum Folgenden. 51 Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, Medizinische Altersschätzung bei unbegleiteten jungen Flüchtlingen, Deutsches Ärzteblatt, 30. September 2016, S. A 1 ff. (A 4), abrufbar unter http://www.zentrale-ethikkommission.de/downloads/Altersschaetzung2016.pdf (Stand: 23. Januar 2018), Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 14 dards nicht vorlägen, empfiehlt die Ethikkommission Ärzten, sich an der Empfehlung der AG- FAD zur Altersdiagnostik außerhalb des Strafverfahrens zu orientieren, die Röntgenuntersuchungen ausschließe.52 Der 114. Deutsche Ärztetag beschloss 2014, dass „Alterseinschätzungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UmF) durch Knochenröntgen oder Computertomographie medizinisch nicht vertretbar sind und zu diesem Zweck nicht mehr angewandt werden dürfen.“53 Die Untersuchungen seien „nach wissenschaftlichen Erkenntnissen so ungenau, dass damit eine Volljährigkeit nach rechtsstaatlichen Prinzipien nicht bewiesen werden kann. Knochenröntgen der Hand und Computertomographie der Sternoclaviculargelenke leisten nur eine metrische Einschätzung mit hoher Standardabweichung, die weder nach rechtsstaatlichen Prinzipien das Alter exakt einschätzt noch einem ganzheitlichen medizinischen Ansatz entspricht. Dieser beinhaltet eine komplexe physische, psychische und soziale Alterseinschätzung, die nur in einem ausreichenden Clearingverfahren zu erreichen ist.“54 Ähnliche Beschlüsse waren bereits 1995, 2007 und 2010 ergangen.55 Die European Academy of Pediatrics empfahl im Jahr 2015 allen europäischen Kinderärzten, nicht bei Altersfeststellungsverfahren mitzuwirken und diese Auffassung auch an andere Ärzte weiterzugeben.56 Neben Zweifeln an der Zuverlässigkeit der Untersuchungsmethoden äußerte die 52 Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten (Zentrale Ethikkommission) bei der Bundesärztekammer, Medizinische Altersschätzung bei unbegleiteten jungen Flüchtlingen, Deutsches Ärzteblatt, 30. September 2016, S. A 1 ff. (A 5), abrufbar unter http://www.zentrale-ethikkommission.de/downloads/Altersschaetzung2016.pdf (Stand: 23. Januar 2018). Wie bereits erwähnt, findet die Empfehlung der AGFAD zur Anwendung der Altersdiagnostik im Strafverfahren auch außerhalb des Strafverfahrens Anwendung, wenn eine Rechtsgrundlage für eine Röntgenuntersuchung vorliegt. 53 Bundesärztekammer, 117. Deutscher Ärztetag, Beschlussprotokoll, 2014, S. 275, abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer .de/fileadmin/user_upload/downloads/117DAETBeschlussprotokoll20140613.pdf (Stand: 23. Januar 2018), dort auch zum Folgenden. 54 Bundesärztekammer, 117. Deutscher Ärztetag, Beschlussprotokoll, 2014, S. 275, abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer .de/fileadmin/user_upload/downloads/117DAETBeschlussprotokoll20140613.pdf (Stand: 23. Januar 2018). Ähnlich äußern sich auch der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (BumF), die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) und das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) in einer gemeinsamen Stellungnahme , abrufbar unter https://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Soziale_Verantwortung/Stellungnahme _zur_Forderung_nach_medizinischer_Altersschaetzung.pdf (Stand: 24. Januar 2018). 55 Vgl. Bundesärztekammer, 113. Deutscher Ärztetag, Beschlussprotokoll, 2010, S. 110, abrufbar unter http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/113Beschlussprotokoll20100712a.pdf (Stand: 23. Januar 2018). 56 Sauer et al. on behalf of the Advocacy and Ethics Group of the European Academy of Paediatrics, Age determination in asylum seekers: physicians should not be implicated, European Journal of Pediatrics 2015, S. 299 ff. (302), abrufbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs00431-015-2628-z.pdf (Stand: 24. Januar 2018). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 9 - 3000 - 001/18 Seite 15 Academy auch ethische Bedenken. So sei etwa fraglich, ob die zu untersuchende Person überhaupt in der Lage sei, eine „informierte Einwilligung“ zu der Untersuchung zu leisten. Es könne angezweifelt werden, ob eine vorliegende Einwilligung ohne jeden Zwang erfolgt sei.57 *** 57 Sauer et al. on behalf of the Advocacy and Ethics Group of the European Academy of Paediatrics, Age determination in asylum seekers: physicians should not be implicated, European Journal of Pediatrics 2015, S. 299 ff. (302), abrufbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs00431-015-2628-z.pdf (Stand: 24. Januar 2018).