© 2017 Deutscher Bundestag WD 9 - 3000 - 001/17 Durchführung von Arzneimittelstudien an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 2 Durchführung von Arzneimittelstudien an Heimkindern von 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland Aktenzeichen: WD 9 - 3000 - 001/17 Abschluss der Arbeit: 23. März 2017 Fachbereich: WD 9: Gesundheit, Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Grundsätze der rechtlichen Heimaufsicht von 1945 bis 1975 5 2.1. Die Heimaufsicht von 1945 bis 1961 5 2.1.1. Aufsichtsrechtliche Regelungen zum Schutz von Pflegekindern 6 2.1.2. Öffentliche Aufsicht von Anstalten der Fürsorgeerziehung 7 2.2. Die Heimaufsicht von 1961 bis 1975 8 2.2.1. Der Umfang der Aufsicht 8 2.2.2. Aufsichtsmittel und ihre Grenzen 9 3. Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen für Arzneimittelstudien bis 1976 10 3.1. Ethische Grundsätze in Leitlinien bis 1947 11 3.2. Nationale und internationale Erklärungen nach 1945 12 3.3. Registrierungspflicht von Arzneimitteln nach dem Arzneimittelgesetz von 1961 14 3.4. Verankerung einer klinischen Prüfungspflicht von Arzneimitteln im deutschen Arzneimittelrecht durch die zweite Novelle zum Arzneimittelgesetz 1964 15 3.5. Richtlinien zur Konkretisierung der klinischen Prüfung nach § 21 Abs. 1a und b des AMG 15 3.5.1. Richtlinien der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft 15 3.5.2. Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin 16 3.5.3. Richtlinie des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit 17 3.6. Anzeigepflicht von Sera und Impfstoffen zur klinischen Erprobung 17 3.7. Zusammenfassung 18 4. Rechtliche und ethische Erwägungen 18 4.1. Arzneimittelrecht 18 4.2. Standesrecht 19 4.3. Standesethik 20 4.4. Zivilrechtliche und strafrechtliche Aspekte 22 5. Literaturverzeichnis 23 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 4 1. Einleitung Zwischen 1949 und 1975 lebten in der Bundesrepublik Deutschland etwa 700.000 bis 800.000 Kinder und Jugendliche in Heimen.1 Die Misshandlung minderjähriger Heimbewohner in diesem Zeitraum findet seit einigen Jahren öffentliche Beachtung. Die Bundesregierung richtete 2009 den „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ ein. Aufgrund der Empfehlungen des Runden Tischs2 und des nachfolgenden Berichtes zur „Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR“3 wurden 2012 die Hilfsfonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ und „Heimerziehung in der DDR in den Jahren 1949 bis 1990“ geschaffen .4 Seit 2017 besteht zudem die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“, die von der Bundesregierung , den Bundesländern sowie der katholischen und der evangelischen Kirche errichtet wurde. Die Stiftung soll Entschädigungen an Personen entrichten, die als Kinder und Jugendliche in dem durch die beiden Hilfsfonds abgedeckten Zeitraum in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie untergebracht waren.5 Weniger Beachtung fand bis vor kurzem das Problem des Einsatzes von Medikamenten in der Heimerziehung. Der Runde Tisch befasste sich damit nur eingeschränkt.6 Erst die Ende 2016 veröffentlichte Studie der Pharmazeutin Sylvia Wagner „Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern“7 hat die Thematik einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wagner wertete im Rahmen der Studie Fachzeitschriften, Dokumente aus dem Bundesarchiv und Dissertationen aus den Jahren 1945 bis 1975 aus und fand dabei Nachweise zu etwa 50 Arzneimittelstudien, die an Heimbewohnern durchgeführt wurden.8 Die Studien erfolgten zumindest teilweise im Auftrag oder mit Wissen von Behörden. Getestet wurden Impfstoffe, Psychopharmaka sowie Medikamente zur Senkung der Libido.9 Wagner fand 1 Runder Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er-Jahren“, Abschlussbericht, Berlin 2010, abrufbar unter: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht.pdf (Stand: 21.3.3017), S. 4. 2 Runder Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er-Jahren“, Abschlussbericht, Berlin 2010, abrufbar unter: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht.pdf (Stand: 21.3.3017). 3 Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hrsg.), Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, Berlin 2012, abrufbar unter: http://www.fonds-heimerziehung.de/fileadmin/user_upload/dokumente/bericht _ohne_P_web.pdf (Stand: 21.3.2017). 4 Vgl. Unterrichtung durch die Bundesregierung, Bericht zum Stand der Umsetzung der Empfehlungen des Runden Tisches Heimerziehung sowie der Empfehlungen zur Prävention und Zukunftsgestaltung, vom 22.5.2013, BT-Drs. 17/13671, abrufbar unter: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/136/1713671.pdf (Stand: 21.3.2017). 5 Siehe Homepage der Stiftung Anerkennung und Hilfe, abrufbar unter: http://www.stiftung-anerkennung-undhilfe .de/DE/Infos-ueber-die-Stiftung/infos-ueber-die-stiftung.html (Stand: 21.3.2017). 6 Vgl. den Abschlussbericht, S. 19 f. 7 Sozial.Geschichte Online, 19/2016, S. 61 ff, abrufbar unter: https://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets /DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf (Stand: 21.3.2017). 8 Wagner, S. 68 f. 9 Wagner, S. 69. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 5 in keiner Veröffentlichung Angaben dazu, dass eine entsprechende Einwilligung der Betroffenen bzw. ihrer gesetzlichen Vertreter erteilt wurde.10 Außerhalb von Wagners Studie finden sich zudem Hinweise darauf, dass in zahlreichen Fällen auch Medikamente in Heimen eingesetzt wurden , um die Kinder ruhig zu stellen und so den Heimbetrieb zu erleichtern.11 Das gesamte Ausmaß lässt sich bisher allerdings nicht beziffern; nach Veröffentlichung der Studie von Wagner haben einige Bundesländer, etwa Hessen und Nordrhein-Westfalen, mit der Aufarbeitung der Thematik begonnen.12 Auch die Bundesregierung hat ihre Unterstützung zugesagt.13 Die folgende Ausarbeitung stellt zunächst die rechtlichen Grundlagen der Heimaufsicht im untersuchten Zeitraum dar. Es folgen Ausführungen zu den rechtlichen und ethischen Hintergründen von Arzneimittelstudien zum damaligen Zeitpunkt. Dem schließen sich einige kurze rechtliche und ethische Erwägungen zu den Vorgängen an. 2. Grundsätze der rechtlichen Heimaufsicht von 1945 bis 1975 2.1. Die Heimaufsicht von 1945 bis 1961 Eine institutionelle, flächendeckende Heimaufsicht mit dem Anspruch, die Qualität der Unterbringung und damit die Unantastbarkeit der Würde der untergebrachten Kinder und Jugendlichen zu sichern, war bis zum Jahr 1961 gesetzlich nicht vorgesehen. Zwar war durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) vom 9. Juli 192214 erstmalig eine rechtseinheitliche Regelung der staatlichen Aufsicht über Einrichtungen der Jugendhilfe getroffen worden15, jedoch waren die Vorschriften im Hinblick auf eine behördliche Aufsichtsbefugnis auf Pflegekinder und Anstalten der Fürsorgeerziehung beschränkt. Daneben normierten die §§ 5 und 6 RJWG lediglich eine nicht 10 Wagner, S. 68. 11 Vgl. Runder Tisch, „Heimerziehung in den 50er und 60er-Jahren“, Abschlussbericht, S. 19 f, sowie „Ermittlung der Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik Deutschland sowie in den Jahren 1949 bis 1990 in der Deutschen Demokratischen Republik in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe bzw. Psychiatrie Leid und Unrecht erfahren haben“, Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Mai 2016. 12 Frankfurter Allgemeine Woche, „Tests an Heimkindern sollen erforscht werden“, 11.11.2016; Frankfurter Rundschau , „Politik will Arzneitests aufklären“, 1.12.2016. 13 Siehe Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) vom 25.11.2016, BT-Drs. 18/10443, S. 44. 14 RGBl. I, 633; das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, teilweise auch Jugendwohlfahrtsgesetz genannt, wurde 1922 vom Reichstag verabschiedet und trat 1924 in Kraft. Nach 1945 galt das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz fort, bis es mit der Neubekanntmachung im Jahr 1961 in Gesetz für Jugendwohlfahrt (JWG) umbenannt wurde, vgl. BGBl. I, 1205. 15 Vgl. Rebscher, Die Heimaufsicht des Landesjugendamtes nach § 78 JWG, S. 10. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 6 näher ausgestaltete Pflicht des Bundes, der Länder, der Selbstverwaltungskörper16, der Jugendämter sowie aller Organe und Einrichtungen der öffentlichen und privaten Jugendhilfe zu Beistand, gegenseitiger Unterstützung und Zusammenarbeit. 2.1.1. Aufsichtsrechtliche Regelungen zum Schutz von Pflegekindern Der Schutz von Pflegekindern17 war im dritten Abschnitt des RJWG normiert. Soweit Kinder unter 14 Jahren sich dauernd oder regelmäßig für einen Teil des Tages in fremder Pflege befanden, unterstanden sie der personellen Aufsicht des Jugendamtes (§ 24 Abs. 1 Satz 1 RJWG). Diesem oblag es auch grundsätzlich, die zur Aufnahme in eine fremde Pflege erforderliche Erlaubnis zu erteilen (§ 20 Abs. 1 Satz 1 RJWG). Abweichend davon standen nach § 28 Satz 1 RJWG sowohl die Befugnis zur Wahrnehmung der Aufsicht als auch zur Erteilung der Erlaubnis der jeweils landesgesetzlich zuständigen Behörde zu, soweit sie die Unterbringung angeordnet hatte. Die Behörde war jedoch ermächtigt, diese Befugnisse wieder auf das örtlich zuständige Jugendamt zu übertragen (§ 28 Satz 2 RJWG). Für den Fall, dass die Pflegekinder nicht in einer fremden Familie, sondern in einer Anstalt18 untergebracht waren, wurde die personelle Aufsicht durch die Landesjugendämter wahrgenommen (§ 29 Abs. 2 Halbsatz 1 i.V.m. § 24 Abs. 1 Satz 1 RJWG). Diesen standen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, den öffentlichen oder privaten Träger von der Pflicht zur Einholung einer Erlaubnis vor Aufnahme eines Pflegekindes zu befreien. So hatten die Anstalten einerseits einen Rechtsanspruch auf eine widerrufliche Befreiung, wenn keine Tatsachen vorlagen, welche die Eignung zur Aufnahme eines Pflegekindes ausschloss (§ 29 Abs. 1 RJWG). Andererseits konnten die Landesjugendämter gemäß § 29 Abs. 3 RJWG nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmen, ob sie die Vorschriften zum Schutz von Pflegekindern (Abschnitt III des RJWG) auch auf die Träger der freien Jugendwohlfahrt anwandten oder nicht.19 16 Unter einem Selbstverwaltungskörper war eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (Selbstverwaltungskörperschaft ) zu verstehen, der das Recht eingeräumt war, ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig zu verwalten. 17 Pflegekinder im Sinne des JWG waren Kinder unter 14 Jahren, die außerhalb ihres Elternhauses entweder dauernd oder für einen Teil des Tages, jedoch regelmäßig in Pflege waren, vgl. § 19 RJWG. Davon ausgenommen waren Kinder, bei denen zu Beginn des Pflegeverhältnisses feststand, dass es sich um eine unentgeltliche Pflege von nicht länger als 6 Wochen handelte, vgl. Riedel, Jugendwohlfahrtsgesetz, S. 99 f. 18 Der Begriff der Anstalt wurde durch § 29 RJWG nicht näher erläutert und durch Einführung des Begriffs der Einrichtung im Jahr 1961 zurückgedrängt. Der Einrichtungsbegriff umfasste staatliche und nichtstaatliche Institutionen , in denen Minderjährige dauernd oder zeitweise, ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut wurden oder Unterkunft erhielten. Für die Einordnung als Einrichtung war maßgebend, dass die Institution von einem Träger verantwortet wurde, bestimmte Räume und Fachpersonen für die zu betreuenden Minderjährigen zur Verfügung standen und die Leitung erkennen ließ, dass dauerhaft eine Anzahl fremder Kinder aufgenommen und ggf. erzogen werden sollten. Für die Abgrenzung zur Pflegefamilie war entscheidend, ob die Erziehung von der Familie selbst oder von einer zu diesem Zweck eingestellten Fachkraft erfüllt wurde. Solange die Erfordernisse eines institutionellen Charakters nicht erfüllt waren, war die Aufsicht über die Minderjährigen den (Pflege-)Eltern vorbehalten, vgl. Happe, S. 67 ff. Der Begriff des Heims sollte als Unterfall des Einrichtungsbegriffs im Gegensatz zum früher verwendeten Begriff der Anstalt das Merkmal der geschützten Geborgenheit und die familiäre Ausgestaltung der Unterbringung und Betreuung betonen, vgl. Potrykus, S. 482; Happe, S. 566. 19 Vgl. Von der Pfordten, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, S. 35. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 7 Auch wenn somit zwischen 1945 und 1962 eine institutionelle Heimaufsicht bundesgesetzlich nicht unmittelbar geregelt war, führten die Vorschriften des RJWG über die personelle Aufsicht von Pflegekindern dazu, dass die Pflegeanstalten als solche von den (Landes-)Jugendämtern mittelbar beaufsichtigt wurden, indem zur Überprüfung des Wohlergehens der Minderjährigen bis 14 Jahren das Lebensumfeld und die von den Einrichtungen geschaffenen Rahmenbedingungen begutachtet werden mussten.20 Relativiert wurde diese Form der mittelbaren institutionellen Aufsicht jedoch von der in § 25 Abs. 1 RJWG (i. V. m. § 29 Abs. 2 HS 1 RJWG) verankerten Möglichkeit der (Landes-)Jugendämter, die Pflegekinder von der Beaufsichtigung widerruflich zu befreien . Letztendlich blieb damit die Regelung der Aufsichtsbefugnisse gegenüber Anstalten, die Kinder in Pflege nahmen, durch § 29 Abs. 2 HS 2 RJWG dem jeweiligen Landesgesetzgeber überlassen. Einen Einblick in die landesgesetzliche Regelung zu den Heimaufsichtsbehörden gewährt Von der Pfordten21 in seinem Gutachten zu Rechtsfragen der Heimerziehung, in welchem die Ausführungsgesetzte (AG), Ausführungsverordnungen (AVO) und Verwaltungsvorschriften (VV) zur personellen bzw. institutionellen Aufsicht für einzelne Länder beispielhaft erläutert werden.22 2.1.2. Öffentliche Aufsicht von Anstalten der Fürsorgeerziehung Die Unterbringung in einer Anstalt konnte nicht nur wegen der Gefährdung des Kindeswohls, sondern auch zum Zweck der Fürsorgeerziehung nach § 63 Abs. 1 RJWG vormundschaftsgerichtlich angeordnet werden. Die Erziehung zur Fürsorge war dabei als öffentlich-rechtliche Maßnahme der Gefahrenabwehr ausgestaltet23 und sollte „der Verhütung oder Beseitigung der Verwahrlosung 24“ dienen.25 Durch § 62 RJWG wurde die Fürsorgeerziehung unter öffentliche Aufsicht gestellt, deren Umfang sich nach den §§ 69 bis 71 RJWG bestimmte. Dabei stellte das RJWG selbst nur wenige bundesrechtlich verbindliche Rahmengrundsätze auf und überließ einen Großteil der Regelung zur Durchführung der Aufsicht, wie beispielsweise die Bestimmung der Fürsorgeerziehungsbehörde (§ 70 Abs. 1 RJWG), der Landesgesetzgebung. Nach den jeweiligen Ausführungsgesetzen oder 20 Vgl. Rebscher, S. 12 ff. 21 Prof. Dr. Dr. Dietmar von der Pfordten von der Georg-August-Universität Göttingen erstellte im Auftrag des „Runden Tisch Heimerziehung“ das Gutachten „Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“. 22 Von der Pfordten, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre, S. 35 f. 23 Vgl. Von der Pfordten, S. 12. 24 Vgl. § 62 RJWG; als Verwahrlosung galt ein „erhebliches (nicht jedes) Sinken des geistigen, sittlichen oder körperlichen Zustandes des Kindes unter den Durchschnitt“, wobei die Grenzen fließend waren, vgl. Riedel, Jugendwohlfahrtsgesetz, S. 214. 25 Vgl. Riedel, S. 245. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 8 Ausführungsverordnungen der Länder zum RJWG waren entweder die Innenministerien oder die Jugendämter als Fürsorgeerziehungsbehörden zuständig.26 2.2. Die Heimaufsicht von 1961 bis 1975 Mit der Neubekanntmachung und Umbenennung des alten RJWG in Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG)27 kam es im Jahr 1961 auch zu einigen inhaltlichen Änderungen. Mit der Einführung des § 78 JWG wurde eine umfassende institutionelle Heimaufsicht gesetzlich festgelegt, womit es zu einer Verbesserung der Aufsicht von Minderjährigen unter 16 Jahren in Anstalten kommen sollte. Nunmehr führte das Landesjugendamt die Aufsicht über Anstalten und andere Einrichtungen, in denen Minderjährige dauernd oder zeitweise, ganztägig oder regelmäßig für einen Teil des Tages betreut wurden oder Unterkunft erhielten. Der Gesetzgeber weitete damit die Aufsichtsbefugnis als hoheitliche Aufgabe des Landesjugendamtes28 hinsichtlich des Umfangs wie auch bezüglich der Aufsichtsmittel aus. 2.2.1. Der Umfang der Aufsicht Der Schutzbereich der Aufsicht wurde durch die Neufassung des Jugendwohlfahrtgesetzes in gleich mehrfacher Hinsicht erweitert. So erstreckte sich die Aufsicht in sachlicher Hinsicht auch auf diejenigen Anstalten, die reine Unterkunft und keine Pflege gewährten, und in personeller Hinsicht auch auf alle Minderjährigen von mehr als 14 Jahren. Der inhaltliche Rahmen der Aufsicht wurde dabei durch § 78 Abs. 2 S. 1 JWG bestimmt. Dort hieß es: „Die Aufsicht erstreckt sich darauf, daß in den Einrichtungen das leibliche, geistige und seelische Wohl der Minderjährigen gewährleistet ist.“ Obwohl damit die Sicherstellung des Kindeswohls die richtungsweisende Maxime der Heimerziehung darstellte, waren die Aufsichtsbehörden verpflichtet, die Selbstständigkeit der Heimträger nicht mehr als nötig einzuschränken. Diese in § 78 Abs. 2 S. 2 JWG normierte Eigenverantwortung der Anstaltsträger in Zielsetzung und Durchführung ihrer erzieherischen Aufgaben sollte der Gefahr des Missbrauchs des öffentlichen Aufsichtsrechts vorbeugen und die freien Jugendhilfeträger vor der Einflussnahme in ihre erzieherische Zielrichtung bewahren .29 Diese inhaltliche Einschränkung des Aufsichtsrechts spiegelte den Rechtsgedanken des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG)30 wider, wonach dem Staat lediglich ein Wächteramt hinsichtlich des Wohls von Kindern bei ihrer Pflege und Erziehung zukommt.31 Dennoch konnte das Landesjugendamt sich neben der vordergründig beratenden und unterstützenden Tätigkeit auch seiner hoheitlichen Eingriffsmöglichkeiten bedienen, sobald ein Einrichtungsträger das geltende Recht verletzte. Bei dem Verdacht oder dem tatsächlichen Vorliegen 26 Vgl. Riedel, S. 314. 27 BGBl. I, 1205. 28 Vgl. Potrykus, Jugendwohlfahrtsgesetz, S. 481. 29 Potrykus, S. 486. 30 Für die Fassung vom 23. Mai 1949 vgl. BGBl. I, 1. 31 Rebscher, S. 16. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 9 einer Verletzung des leiblichen Wohls konnte das Landesjugendamt eine Zusammenarbeit mit dem örtlich zuständigen Gesundheitsamt anstreben, das im Rahmen des § 2 Abs. 1 JWG als zuständige Stelle neben das Landesjugendamt trat.32 Nach § 3 Nr. 3 f) des Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (GesVG)33 erstreckten sich die gesundheitspolizeilichen Aufgaben der Gesundheitsämter auch auf die Beaufsichtigung von Schulen, Waisenhäusern, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen in gesundheitlichen Fragen. Im Hinblick auf das leibliche Wohl der Minderjährigen konnten die Gesundheitsämter eine fachliche Nebenaufsicht neben der speziellen staatlichen Hauptaufsicht der Landesjugendämter vornehmen. Dies betraf vor allem den Bereich ihrer Pflichtaufgaben, zu denen auch die Aufgaben nach § 3 GesVG gehörten und die von den kommunalen Gesundheitsämtern als Auftragsangelegenheiten erfüllt wurden. Dabei unterlagen sie der Aufsicht des Regierungspräsidenten.34 Ziel der planvollen Zusammenarbeit zwischen dem Landesjugendamt und den örtlichen Gesundheitsämtern war es, frühzeitig Fälle körperlicher Misshandlung zu erkennen und dazu regelmäßig die Anstalten und das Erziehungspersonal zu kontrollieren. Rechtliche Kompetenzkonflikte wurden dabei dadurch vermieden, dass der Aufsichtsbereich des Landesjugendamtes durch die Nebenaufsicht der kommunalen Gesundheitsämter nicht beschränkt wurde.35 Damit war die staatliche Heimaufsicht in erster Linie dem Landesjugendamt zugewiesen. Die durch § 78 Abs. 2 S. 1 JWG angestrebte Gewährleistung des Wohls der Minderjährigen sollte jedoch keine unmittelbare Haftung des hinter dem Landesjugendamt stehenden Landes oder Kommunalverbandes gegenüber dem betreuten Minderjährigen beinhalten. Erst ein Verstoß gegen die allgemeine Amtspflicht der Sachbearbeiter des Landesjugendamtes, alle erforderlichen Maßnahmen zur Gewährleistung des Wohls der Minderjährigen zu veranlassen, konnte über Art. 34 GG in Verbindung mit § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zur mittelbaren Haftung des hinter dem Landesjugendamt stehenden Landes oder Kommunalverbandes führen.36 2.2.2. Aufsichtsmittel und ihre Grenzen An die Art und Weise der Aufsichtsführung durch das Landesjugendamt stellte das JWG wenig konkrete Anforderungen. So sollte das Landesjugendamt nach § 78 Ab. 5 S. 1 JWG einerseits die Eignung der Betreuungskräfte (§ 78 Abs. 3 JWG) und andererseits die Einhaltung der Meldepflichten bezüglich der Personalien der Erzieher, der Zweckbestimmung der Einrichtung und der Platz- und Todeszahlen (§ 78 Abs. 4 JWG) regelmäßig an Ort und Stelle überprüfen. Entsprechend dieser Aufgabenbestimmung reagierte das Landesjugendamt auf Meldungen und Anzeigen aus den Anstalten oder von Dritten und führte Besichtigungen durch, um sich ein Bild von der Betreuung und dem Wohl der Minderjährigen zu machen. Dabei war die genaue Anzahl der 32 Carspecken, Wege der Zusammenarbeit des Jugendamtes mit anderen Trägern der Jugendarbeit, S. 53 ff. 33 RGBl. I, 531, in Kraft bis 2006. 34 Stralau, in: Peters (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band II, S. 439 ff. 35 Rebscher, S. 75. 36 Rebscher, S. 72. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 10 durchzuführenden Besuche bundesrechtlich nicht vorgeschrieben, konnte jedoch durch Richtlinien der Länder näher bestimmt werden.37 Um dem Besichtigungszweck einer sorgfältigen Überprüfung nachzukommen, war der Aufsichtsbehörde die Befugnis eingeräumt, die Räumlichkeiten der Anstalt auch bei Verweigerung des Zutritts durch den Heimträger zu betreten. Dazu wurde in § 78 Abs. 5 S. 2 JWG das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung vom Gesetzgeber ausdrücklich eingeschränkt. Schließlich konnte das Landesjugendamt im Rahmen seiner Aufsichtsarbeit nicht nur auf die Mithilfe der örtlichen Gesundheitsämter, sondern auch auf die Unterstützung der zentralen Trägerverbände der freien Jugendhilfe38 zurückgreifen. Gemäß § 78 Abs. 6 JWG konnte den Trägerverbänden die eigenständige Überprüfung von Einrichtungen eines ihm angehörenden Heimträgers widerruflich übertragen werden, wenn dieser dem Antrag zustimme. Soweit der zentrale Trägerverband sachlich und persönlich über die Mittel verfügte, konnte er die Einhaltung der Vorschriften des § 78 Abs. 3 und 4 JWG überprüfen. Da die Durchführung der Aufsicht als hoheitliche Aufgabe jedoch den staatlichen Hoheitsträgern vorbehalten war, konnte das Prüfungsrecht nicht vollständig an die Verbände delegiert werden.39 Den Trägerverbänden kam bei der Überprüfung vielmehr eine rein passive Funktion zu. Sie wurden nicht an der Aufsicht selbst, sondern nur an einer einzelnen Funktion der Aufsicht, nämlich der Besichtigung an Ort und Stelle, beteiligt.40 Obwohl die Letztverantwortung der gesamten Heimaufsicht stets beim Landesjugendamt verblieb 41, dürfte die Möglichkeit einer gewissen Selbstkontrolle mit Interessenskonflikten verbunden gewesen sein. Diesen galt es nach Möglichkeit entgegenzuwirken, indem die Übertragung der Überprüfung unter den Vorbehalt der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen gestellt wurde, um dem Gesetzeszweck folgend das leibliche, geistige und seelische Wohl der untergebrachten Minderjährigen zu gewährleisten. 3. Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen für Arzneimittelstudien bis 1976 Die hohen, international harmonisierten Standards der modernen Arzneimittelforschung gehören zu den Errungenschaften der letzten 30 bis 40 Jahre. So dauerte es bis zum Jahr 1976, bis auf 37 Potrykus, S. 488 f. 38 Dazu zählten u.a. folgende anerkannte Wohlfahrtsverbände: Arbeitswohlfahrt-Hauptausschuss e.V., Deutsches Rotes Kreuz, Deutscher Caritas-Verband e.V., Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband e.V., Innere Mission und Hilfswerk der ev. Kirche in Deutschland, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. 39 Happe, Heimaufsicht nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz, S. 583 f. 40 Potrykus, S. 490. 41 Happe, S. 583 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 11 nationaler Ebene erstmals allgemeine Voraussetzungen für die klinische Prüfung aufgestellt wurden .42 Durch die stetige Verdichtung dieser Anforderungen unterliegt die klinische Arzneimittelforschung heute einer strengen Regulierung. Der Ursprung dieser Entwicklung liegt in berufsethischen Empfehlungen, die erst in eine gesetzliche Form überführt werden mussten. 3.1. Ethische Grundsätze in Leitlinien bis 1947 Der Weg zur Beachtung ethischer Grundprinzipien in der experimentellen Medizin begann Anfang des 19. Jahrhunderts mit einer Verfügung des preußischen Kultusministers43, die medizinische Eingriffe zu Versuchszwecken an minderjährigen oder geschäftsunfähigen Personen verbot 44. Bei allen anderen Probanden waren medizinische Eingriffe nur erlaubt, wenn zuvor eine sachgemäße Belehrung über mögliche Eingriffsfolgen durchgeführt worden war45, eine unzweideutige Zustimmung vorlag46 und der Eingriff vom Klinikvorstand oder mit dessen Ermächtigung vorgenommen wurde47. Überdies musste ein detailliertes Krankenblatt geführt werden.48 Diese Regelungen wurden später durch Forschungsrichtlinien des Reichsinnenministeriums aus dem Jahr 193149 fortgeführt. In Abgrenzung zu Heilbehandlungen50 definiert die Richtlinie wissenschaftliche Versuche als „Eingriffe und Behandlungsweisen am Menschen […], die zu Forschungszwecken vorgenommen werden, ohne der Heilbehandlung zu dienen, und deren Auswirkungen und Folgen auf Grund der bisherigen Erfahrungen noch nicht ausreichend zu übersehen sind.“51 Die Richtlinien für neuartige Heilbehandlungen galten für sie entsprechend. So sollte die Begründung und Durchführung jedes Versuchs mit den Grundsätzen der ärztlichen Ethik und den Regeln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft im Einklang stehen.52 Es galt also im Rahmen 42 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln, Arzneimittelgesetz (AMG): § 40 in der Fassung vom 24.8.1976, BGBl. I, 2445. 43 Anweisung an die Vorsteher der Kliniken, Polikliniken und sonstigen Krankenanstalten, abgedruckt im Zentralblatt der gesamten Unterrichtsverwaltung in Preußen, 1901, S. 188 f., Anlage 1. 44 I.1. der Anweisung. 45 I.2. der Anweisung. 46 I.3. der Anweisung. 47 II.1. der Anweisung. 48 II.2. der Anweisung. 49 Richtlinien für neuartige Heilbehandlungen und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen, Anlage 2. 50 Auch der Bundesgerichtshof (BGH) differenzierte später zwischen einer (neuartigen) Heilbehandlung und einem wissenschaftlichen Experiment, welches nicht entscheidend auf die Heilung des Kranken, sondern auf den damit verbundenen Forschungszweck gerichtet sei und daher anders bewertet werden müsse; vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 1956 – III ZR 175/54 -, BGHZ 20, 61-71. 51 Richtlinie Nr. 3. 52 Richtlinie Nr. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 12 einer Abwägung zu prüfen, in welchem Verhältnis die Schäden, die entstehen konnten, zu dem erwarteten Nutzen standen. Dabei und in allen Phasen der Durchführung eines experimentellen Versuchs galt ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab, wenn es sich um Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren handelte.53 Dies galt umso mehr, sofern diese sich in einer sozialen Notlage befanden. Neben den allgemeinen, für alle medizinischen Eingriffe geltenden Vorschriften, legten die Richtlinien besondere Voraussetzungen für wissenschaftliche Versuche fest. So war die Vornahme eines medizinischen Versuchs an Sterbenden54 sowie bei fehlender Einwilligung55 unter allen Umständen unzulässig. Das durch die preußische Dienstanweisung aufgestellte Einwilligungserfordernis nach vorangegangener Belehrung wurde damit verschärft und galt auch in den Fällen, in denen für neuartige Heilbehandlungen eine Ausnahme von dem Erfordernis einer Einwilligung eingeräumt war.56 Überdies waren Versuche an Kindern oder Jugendlichen unter 18 Jahren nicht statthaft, wenn dadurch für sie auch nur die geringste Gefährdung bestand.57 Die besondere Verantwortung, die von Vertretern der Ärzteschaft erwartet wurde, sollte dabei schon im Rahmen des akademischen Unterrichts gelehrt werden.58 Dazu gehörte auch, dass jeder wissenschaftliche Versuch am Menschen nur die ultima ratio, mithin die letzte der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung stehende Möglichkeit, bildete und zuvor alle Methoden des Laborversuchs und des Tierexperiments zur Aufklärung und Absicherung erschöpft sein mussten.59 3.2. Nationale und internationale Erklärungen nach 1945 Der im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses60 verhandelte Fall United States v. Rose aus dem Bereich der experimentellen Medizin führte dazu, dass amerikanische Ärzte Grundsätze über die Zulässigkeit medizinischer Versuche am Menschen aufstellten, die mit der Urteilsbegründung in 53 Richtlinie Nr. 6. 54 Richtlinie Nr. 12 d). 55 Richtlinie Nr. 12 a). 56 Eine Einwilligung war bei neuartigen Heilbehandlungen entbehrlich, wenn es sich um eine unaufschiebbare Maßnahme zur Erhaltung des Lebens oder zur Verhütung einer schweren Gesundheitsschädigung handelte, vgl. Richtlinie Nr. 5. 57 Richtlinie Nr. 12 c). 58 Richtlinie Nr. 14. 59 Richtlinie Nr. 12 b). 60 Vom 9. Dezember 1945 bis zum 20. August 1947 fand der Nürnberger Ärzteprozess als erster von zwölf Prozessen gegen Verantwortliche des Deutschen Reichs zur Zeit des Nationalsozialismus im Nürnberger Justizpalast vor einem amerikanischen Militärgericht statt. Der Mitangeklagte Gerhard Rose wurde für schuldig befunden, an Fleckfieberversuchen zum Zwecke des Testens von Impfstoffen in den Konzentrationslagern Buchenwald und Natzweiler beteiligt gewesen zu sein und zu lebenslanger Haft verurteilt, vgl. Deutsch, Das internationale Recht der experimentellen Humanmedizin, S. 572. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 13 den sog. Nürnberger Codex61 überführt wurden. Der Codex umfasste zehn Punkte, welche die Voraussetzungen von medizinischen Experimenten am Menschen festlegten. Dazu gehörten die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson62, die Durchführung des Versuchs durch wissenschaftlich geschulte Personen63 sowie die Ausrichtung des Versuchs an verwertbaren Erkenntnissen für das Wohl der Gesellschaft, welche auf keinem anderen Weg erlangt werden konnten64. Weiterhin musste der mit dem Experiment verfolgte Zweck die zu erwartenden Gefahren überwiegen, sodass der Versuch einzustellen war, wenn durch ihn eine gesundheitliche Schädigung oder der Tod der Versuchsperson drohte. Anders als die aus den Jahren zuvor stammenden ethischen Grundsätze65 unterschied der Nürnberger Codex nicht zwischen wissenschaftlichen Experimenten und therapeutischen Versuchen. Als weitere Schwachstelle wurde die nicht eindeutige Regelung im Hinblick auf Versuche an Kindern und geistig Erkrankten bewertet.66 Der Codex legte insoweit nur fest, dass die Versuchsperson „die gesetzmäßige Fähigkeit haben mu[sste], [ihre] Einwilligung zu geben“. Damit war zum einen nicht geklärt, wo die Grenzen der Einwilligungsfähigkeit verliefen, zumal diese nicht wie die der Geschäftsfähigkeit gesetzlich definiert waren und auch nicht zwingend mit diesen einhergehen mussten. Zum anderen blieb die Frage unbeantwortet, ob bei fehlender bzw. beschränkter Einwilligungsfähigkeit die Einwilligung der Versuchsperson durch die eines gesetzlichen Vertreters bzw. Betreuers ersetzt werden konnte. Letztlich erlaubte der Codex sogar die Durchführung von potenziell die Versuchsperson schädigenden Versuchen, wenn der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson diente.67 Trotz dieser Mängel wurde der Nürnberger Codex in den Folgejahren nicht nachgebessert. Stattdessen wurde im Jahr 1964 die sog. Deklaration von Helsinki68 auf der Generalversammlung des Weltärztebundes verabschiedet. Damit reagierte die internationale Ärzteschaft auf die eingetretenen Fortschritte in der Wissenschaft und den politischen Bemühungen, die Gesetzgebung über Arzneimittel zu reformieren. Inhaltlich betonte die Deklaration, die in späteren Jahren mehrmals überarbeitet wurde, dass bei Versuchen am Menschen die Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft niemals Vorrang vor den möglichen Risiken und dem wahrscheinlichen Nutzen für die Versuchsperson hätten. So fand eine Verschärfung der bisherigen Regelungen dadurch statt, dass Versuche mit unvorhersehbaren Risiken untersagt wurden und die Versuchspläne vorab einem 61 Der Kodex ist abgedruckt in Mitscherlich/Mielke (Hrsg.) Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a.M. 1960, S. 272 f; Anlage 3. 62 Nürnberger Codex 1947, Nr. 1. 63 Nürnberger Codex 1947, Nr. 8. 64 Nürnberger Codex 1947, Nr. 2. 65 Siehe dazu 3.1. 66 Vgl. Deutsch, Das internationale Recht der experimentellen Humanmedizin, S. 573. 67 Nürnberger Codex 1947, Nr. 5. 68 Abgedruckt im Deutschen Ärzteblatt 1964, 2533; die spätere Neufassung der Deklaration von Helsinki vom 10.10.1975 ist abgedruckt im Deutschen Ärzteblatt 1975, Seite 3163. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 14 Ausschuss zur Begutachtung, jedoch nicht zur Genehmigung, zugeleitet werden sollten69. Überdies lag die letzte Verantwortung des Versuchs stets bei dem versuchsleitenden Arzt, auch wenn der Proband seine Einwilligung erteilt hatte.70 Bei Minderjährigen und anderen nicht (voll) Geschäftsfähigen konnte die Einwilligung durch den jeweils nach nationalem Recht zuständigen Vertreter erteilt werden.71 3.3. Registrierungspflicht von Arzneimitteln nach dem Arzneimittelgesetz von 1961 Die Registrierung von industriell hergestellten Arzneimitteln (sog. Arzneispezialitäten) wurde in Deutschland zum ersten Mal durch das Arzneimittelgesetz (AMG) aus dem Jahr 196172 vorgeschrieben . Durch die Arzneimittelregistrierung sollte sichergestellt werden, dass auch die Herstellung von Arzneimitteln außerhalb von Apotheken an bestimmte persönliche und betriebliche Voraussetzungen gebunden war. Überdies sollte den zuständigen Behörden dadurch die Möglichkeit gegeben werden, die Einhaltung der Gesetzesvorschriften zu überwachen, um den Verbraucher vor gesundheitlichen Schädigungen sowie vor Irreführung und Täuschung zu bewahren.73 Die Pflicht zur Registrierung war rein formell ausgestattet und enthielt keine materiellen Anforderungen , etwa im Hinblick auf die therapeutische Wirksamkeit eines vom Hersteller als Arzneimittel deklarierten Stoffes. Der Bundestagsausschuss für Gesundheitswesen begründete dies damit , dass eine materielle Prüfung durch das Bundesgesundheitsamt das Herausbringen neuer Arzneispezialitäten verzögern und somit die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie dem Ausland gegenüber gefährden würde.74 Aufgrund dessen wurde für die Registrierung zwar eine Reihe von Unterlagen verlangt, die zeigen sollten, dass das herstellende Unternehmen die nötige Sorgfalt bei der Prüfung und Erprobung eines neuen Mittels walten ließ. Die Verantwortung der Prüfung im Hinblick auf die Wirksamkeit lag jedoch allein beim Hersteller.75 Nur soweit die Arzneispezialität einen Stoff von bisher allgemein unbekannter Wirksamkeit enthielt, hatte der Hersteller gemäß § 21 Abs. 1 Nr. 4 AMG einen Bericht über Art, Umfang und Ergebnis der pharmakologischen und ärztlichen Prüfung der Arzneispezialität einzureichen. Darüber hinaus musste jedoch keine Vorlage der Protokolle der experimentellen und klinisch wissenschaftlichen Prüfung erfolgen.76 69 Nr. 2 der Allgemeinen Grundsätze, Deklaration von Helsinki 1975. 70 Nr. 3 der Allgemeinen Grundsätze, Deklaration von Helsinki 1975. 71 Nr. 11 der Allgemeinen Grundsätze, Deklaration von Helsinki 1975. 72 BGBl. I, 533; zum Arzneimittelbegriff vgl. § 1 Abs. 1 AMG 1961; zum Begriff der Arzneispezialität vgl. § 4 AMG 1961. 73 Vgl. die amtliche Begründung zum Arzneimittelgesetz, in: BT-Drucksache 3/654, S. 15. 74 Vgl. den schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für Gesundheitswesen, BT-Drucksache 3/2421, S. 2. 75 Vgl. den schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für Gesundheitswesen, BT-Drucksache 3/2421, S. 2. 76 Eine solche Vorlagepflicht hatte der von der SPD-Fraktion eingereichte Gesetzesentwurf zum AMG vorgesehen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 15 3.4. Verankerung einer klinischen Prüfungspflicht von Arzneimitteln im deutschen Arzneimittelrecht durch die zweite Novelle zum Arzneimittelgesetz 1964 Die Anforderungen an die Registrierungspflicht von industriell hergestellten Arzneimitteln wurden erst im Jahr 1964 durch das zweite Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes77 verschärft . Nach dem neu eingefügten § 21 Abs. 1a AMG hatte der Hersteller bei der Anmeldung einer Arzneispezialität, die Stoffe allgemein unbekannter Wirksamkeit enthielt, einen ausführlichen Bericht über die pharmakologische und die klinische, in besonderen Fällen auch über die sonstige ärztliche, zahnärztliche oder tierärztliche Prüfung einzureichen. Dieser Bericht musste Art, Umfang und Zeit der Prüfung durch entsprechende Unterlagen belegen. Überdies musste der Hersteller schriftlich versichern, dass die Arzneispezialität entsprechend dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ausreichend und sorgfältig geprüft worden war. Die damit durch das deutsche Arzneimittelrecht vorgeschriebene klinische Prüfung von Arzneimitteln lag vollständig in der Verantwortung der Hersteller und sonstiger Personen, welche die Arzneimittelspezialität in den Verkehr brachten. Das Bundesgesundheitsamt musste sich bei der Registrierung einer Arzneimittelspezialität auf die vorgelegten Nachweise über die pharmakologische Prüfung und ärztliche Erprobung verlassen und hatte von eigenen Prüfungen und Erprobungen abzusehen.78 3.5. Richtlinien zur Konkretisierung der klinischen Prüfung nach § 21 Abs. 1a und b des AMG Obwohl das AMG in der Fassung von 1964 zur Zulassung eines neuen Arzneimittels einen Bericht über dessen klinische Prüfung verlangte, legte das Gesetz selbst keine Prüfungsmaßstäbe fest. Dies führte dazu, dass der jeweilige Hersteller allein aufgrund der gesetzlichen Regelung nicht erkennen konnte, welche Anforderungen an die Prüfung gestellt wurden und welche fachlichen Kenntnisse der prüfende Arzt vorweisen musste, um den wissenschaftlichen Anforderungen zu genügen. Anstatt jedoch selbst die Voraussetzungen und Grenzen der klinischen Prüfung zu konkretisieren, berief sich der Gesetzgeber auf die Empfehlungen außerstaatlicher Einrichtungen .79 3.5.1. Richtlinien der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft In pharmakologischer Hinsicht nimmt der Gesetzesentwurf der Bundesregierung auf die Richtlinien der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft80 Bezug, die nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis herausgegeben und auf dem Laufenden gehalten werden sollten.81 77 BGBl. I, 365. 78 Vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drucksache 4/1370, S. 4. 79 Vgl. Hasskarl/Kleinsorge, Arzneimittelprüfung. Arzneimittelrecht, S. 5 f. 80 Die „Richtlinien der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft für die Prüfung neuer Arzneimittel“ wurden dem Bundesministerium für Gesundheitswesen am 21.12.1962 übersandt. Sie sind abgedruckt in: Hasskarl/Kleinsorge, Arzneimittelprüfung. Arzneimittelrecht, S. 152 f. 81 Vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes, BT-Drucksache 4/1370, S. 4. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 16 Um eine pharmakologisch-toxische Prüfung eines neuen Arzneimittels auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis durchzuführen und das Risiko bei der Prüfung auf ein Minimum zu beschränken, forderten diese Richtlinien eine pharmakologische Ausbildung des Prüfers . Weiterhin bestimmten die Richtlinien, dass bei Versuchen am gesunden Menschen mit sicher unwirksamen Dosen begonnen und anschließend die Dosierung unter Einhaltung genügend langer Intervalle stufenweise gesteigert werden musste.82 Die Richtlinien enthielten jedoch keine Hinweise, welche Methoden bei der Prüfung angewandt werden sollten. Dies wurde damit begründet, dass sich die Auswahl der Methode nach der Natur des jeweiligen Arzneistoffes und dem jeweiligen Anwendungsgebiet richte und insofern der Fortschritt auf dem Gebiet neuer Arzneimittel nicht beeinträchtigt werden sollte. Die Deutsche Pharmakologische Gesellschaft betonte bei ihren Abschlussempfehlungen jedoch die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Prüfungsmethoden, um die Sicherheit bei der Anwendung neuer Arzneimittel zu erhöhen. Auch sei es wünschenswert, die Prüfungsmethoden zu standardisieren und der Registrierungsbehörde das Recht einzuräumen, die Zulassung auszusetzen, wenn Zweifel an den Ergebnissen der Prüfung oder der Verträglichkeit der Substanz bestünden.83 3.5.2. Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für innere Medizin Zur Konkretisierung des Begriffs der klinischen Prüfung im Sinne von § 21 Abs. 1a AMG a.F. wurde auf die Richtlinien für die klinische Prüfung von Arzneimitteln der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin84 zurückgegriffen. Die klinische Prüfung war demnach der Abschnitt der Arzneimittelprüfung, der sich an die pharmakologische Prüfung eines neuen Medikaments, das erstmalig beim Menschen angewandt wurde, anschloss. Der prüfende Arzt musste dafür hohe Anforderungen erfüllen, insbesondere musste er eingehend über die Prüfungssubstanz informiert sein und die Krankheit, bei der das Medikament wirken sollte, aus langjähriger Erfahrung kennen . Für das bei der Zulassungsbehörde einzureichende Prüfungsprotokoll legten die Richtlinien fest, dass der Ablauf der klinischen Prüfung inklusive der aufgetretenen Nebenwirkungen in allen Einzelheiten protokolliert werden musste. Außerdem sollten alle Nebenwirkungen der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in Göttingen mitgeteilt werden, um eine möglichst schnelle Aufklärung des Kausalzusammenhangs zu ermöglichen. Letztlich handelte es sich bei dieser Aufforderung, wie bei jeder Richtlinie der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, nur um einen allgemeinen Grundsatz und keinen verbindlichen Kodex.85 Auch die Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin waren darauf bedacht, die Förderung des Fortschritts auf dem Gebiet der Arzneimittelforschung nicht zu behindern. Sie sprachen sich daher gegen einen allgemein verbindlichen Kodex für die klinische Prüfung am 82 Vgl. Hasskarl/Kleinsorge, S. 152 f. 83 Vgl. Hasskarl/Kleinsorge, S. 152 f. 84 Abgedruckt in Klinische Wochenschrift 1965, Heft 12, S. 698 ff. 85 Vgl. Hasskarl/Kleinsorge, S. 7. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 17 Menschen aus. Überdies schränkten sie den Umfang der Aufklärungspflicht ein, indem sie in Anlehnung an den Mediziner Paul Martini bestimmten, dass die Aufklärung nicht in dem Sinne verstanden werden müsse, dass der Versuchsperson alle entfernten und unwahrscheinlichen Risiken mitgeteilt werden müssten. Dies würde die Person nur unnötig verängstigen und sei bei vielen Kranken „schon wegen ihres Bildungsstandes ausgeschlossen“.86 3.5.3. Richtlinie des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit Eine materielle Prüfungsmöglichkeit der klinischen Prüfungen nach § 21 Abs. 1a AMG a.F. erhielt das Bundesgesundheitsamt erst durch die Richtlinie über die Prüfung von Arzneimitteln87, die der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Jahr 1971 bekannt gab. Das Bundesgesundheitsamt wurde dadurch angewiesen, eine Arzneispezialität vor ihrer Registrierung nach Maßgabe der Richtlinie zu prüfen. So konnte es die vom Hersteller vorgelegten Prüfungsergebnisse inhaltlich kontrollieren und im Zweifel weitere Unterlagen anfordern. Gleichzeitig setzte die Richtlinie einen europäischen Richtlinienvorschlag88 um, der darauf abzielte , den freien Warenverkehr auf dem Gebiet der Arzneispezialitäten zu verbessern. Der Bundestagsausschuss für Jugend, Familie und Gesundheit übernahm Teile des Vorschlags89 und trug damit zur Harmonisierung des europäischen Arzneimittelrechts bei.90 Inhaltlich legte die Richtlinie fest, dass ärztliche und klinische Prüfungen von Arzneimitteln grundsätzlich in einer Krankenanstalt durchgeführt werden sollten. Daneben war genau festgelegt, welche Angaben über den Untersuchungsleiter, den Probanden und die Ergebnisse der Untersuchungen dem Bundesgesundheitsamt vorgelegt werden mussten. Letztlich mussten bei der Einstufung eines Wirkstoffes als unbedenklich die therapeutischen Vorteile gegen die möglichen Risiken abgewogen werden. 3.6. Anzeigepflicht von Sera und Impfstoffen zur klinischen Erprobung Das heutige Paul-Ehrlich-Institut wurde 1896 als Institut für Serumforschung und Serumprüfung gegründet. Seit 1972 ist das Institut als selbstständige Bundesoberbehörde für die Prüfung und 86 Siehe Klinische Wochenschrift 1965, Heft 12, S. 698 ff. 87 Abgedruckt in: Bundesanzeiger Nr. 113 vom 25. Juni 1971. Die Richtlinie wurde vom Beirat Arzneimittelsicherheit beim Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit erarbeitet und stellte eine Fortentwicklung der Richtlinien über die Prüfung von Arzneimitteln der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft (vgl. dazu 1.5.1.) und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (vgl. dazu 1.5.2.) dar. 88 Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaft für eine Richtlinie des Rates über die analytischen, pharmakologisch-toxikologischen und klinischen Vorschriften und Protokolle für Arzneimittelversuche, der dem Bundestag zum Zwecke der Unterrichtung gemäß § 2 Satz 2 des Gesetzes zu den Europäischen Verträgen vorlag, vgl. BT-Drucksache 6/2764. 89 Der erste Teil des Richtlinienvorschlags, der die physikalisch-chemischen, biologischen oder mikrobiologischen Prüfungen von Arzneimitteln behandelte, wurde nicht in die deutsche Richtlinie übernommen. 90 Vgl. Hasskarl/Kleinsorge, S. 7 f.; folgende weitere Bestimmungen der Europäischen Gemeinschaft sollten zu einer Angleichung der verschiedenen Arzneimittelvorschriften der Mitgliedsländer führen: Erste pharmazeutische Richtlinie (Amtsblatt der EG vom 9.2.1965, S. 365), Zweite pharmazeutische Richtlinie (Amtsblatt der EG vom 9.6.1975, S. 13) und die sog. EG-Prüfrichtlinie (Amtsblatt der EG vom 9.6.1975, S. 1). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 18 Zulassung von Sera und Impfstoffen91 nach Maßgabe der arzneimittelrechtlichen Vorschriften zuständig .92 Das Institut durfte nach § 19a Abs. 2 AMG a.F. die Zulassung unter anderem nur dann erteilen, wenn das Serum bzw. der Impfstoff vom Hersteller nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ausreichend klinisch oder sonst ärztlich erprobt worden war. Sera und Impfstoffe, die nicht zur Anwendung am oder im menschlichen Körper in den Verkehr gebracht werden sollten, sondern zur klinischen oder sonstigen ärztlichen Erprobung abgegeben wurden, mussten vom Hersteller beim Paul-Ehrlich-Institut angezeigt werden.93 Diese Anzeigepflicht war vom Gesetzgeber jedoch rein formell ausgestaltet und wurde insbesondere im Hinblick auf die vorzulegenden Unterlagen auch nicht näher konkretisiert. 3.7. Zusammenfassung Zwischen 1945 und 1975 gab es in der Bundesrepublik Deutschland keine Genehmigungs- oder Registrierungsstellen für klinische Studien mit Arzneimitteln und Impfstoffen. Vielmehr bildeten ethische Leitlinien sowie nationale und internationale Erklärungen der Ärzteschaft lange Zeit die einzigen Grundlagen für die Forschung am Menschen. Erst mit der Einführung der klinischen Prüfungspflicht im Jahr 1964 mussten die Arzneihersteller einen Prüfungsbericht bei der Registrierung eines neuen Arzneimittels vorlegen. Das Bundesgesundheitsamt erhielt auf diesem Weg jedoch nur einen Einblick in die klinischen Studien derjenigen Arzneimittel, die es erfolgreich bis zur Zulassung geschafft hatten. Zudem war die Registrierungspflicht für Arzneimittel, ebenso wie die Anzeigepflicht für Sera und Impfstoffe, zunächst nur rein formell ausgestaltet. Die Möglichkeit , die durchgeführten klinischen Studien auch materiell zu überprüfen, wurde dem Bundesgesundheitsamt erst durch die Richtlinie des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit im Jahr 1971 eingeräumt. Bei den Voraussetzungen und Grenzen klinischer Arzneimittelstudien musste stets zwischen dem Schutz des Probanden auf der einen und der Notwendigkeit der Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel auf der anderen Seite abgewogen werden. Häufig wurde dieser Zielkonflikt zugunsten Letzterem gelöst und damit ein gewisses Risiko für die Personen, die sich für die klinische Prüfung eines Arzneimittels zur Verfügung stellten, in Kauf genommen. Dem Schutz des gesunden oder kranken Menschen, der sich für die klinische Erprobung eines neuen Arzneimittels freiwillig zur Verfügung stellt, wurde im Arzneimittelrecht erst durch das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelrechts aus dem Jahr 1976 ein hoher gesundheitspolitischer Stellenwert eingeräumt. 4. Rechtliche und ethische Erwägungen 4.1. Arzneimittelrecht Die Durchführung von klinischen Studien war, wie oben dargestellt, im untersuchten Zeitraum nur in Grundzügen gesetzlich geregelt. Die Voraussetzungen der klinischen Prüfung und der 91 Zum Serabegriff vgl. § 3 Abs. 1 AMG 1961; zum Impfstoffbegriff vgl. § 3 Abs. 2 AMG 1961. 92 Artikel 1 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Sera und Impfstoffe. 93 § 19a Abs. 1 AMG a.F. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 19 Schutz der Probanden wurden erst 1976 im Zuge der Neuauflage des AMG in den §§ 40 ff. AMG gesetzlich verankert. Dabei wurde auch in § 40 Abs. 1 Nr. 2 AMG a.F.94 festgelegt, dass die klinische Prüfung nur nach Einwilligung der Versuchsperson nach Aufklärung über Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung möglich sei. Bei Minderjährigen mussten nun gemäß § 40 Abs. 4 Nr. 4 AMG a.F.95 die gesetzlichen Vertreter oder Pfleger einwilligen. War der Minderjährige in der Lage, „Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung einzusehen und seinen Willen hiernach zu bestimmen“, so musste auch seine Einwilligung schriftlich eingeholt werden, § 40 Abs. 4 Nr. 4 Satz 3 AMG a.F.96 Im untersuchten Zeitraum bestanden diese Regelungen zum Schutz der Versuchspersonen nicht. 4.2. Standesrecht Die Grundsätze des ärztlichen Verhaltens sind in den Berufsordnungen der Ärzte festgelegt. Standesordnungen für Ärzte, die die beruflichen Pflichten regelten, gab es seit dem 19. Jahrhundert.97 1937 wurde die „Berufsordnung für die Deutschen Ärzte“ erlassen,98 die erstmals die Berufspflichten überregional verbindlich festschrieb.99 Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte die Reichsärztekammer ihre Tätigkeit ein. Stattdessen wurde 1946 der Nordwestdeutsche Ärztekammerverband gegründet, der 1947 eine Erweiterung zur Arbeitsgemeinschaft der westdeutschen Ärztekammern erfuhr und schließlich 1955 in Bundesärztekammer umbenannt wurde.100 Auf dem 53. Deutschen Ärztetag wurde 1950 die „Berufs- und Facharztordnung für die deutschen Ärzte“101 beschlossen. Diese war nicht verbindlich für den einzelnen Arzt, sondern sollte als Vorbild für entsprechende Regelungen der Landesärztekammern dienen.102 Dementsprechend lehnten die Landesärztekammern seit 1950 ihre Berufsordnungen an die jeweilige Musterberufsordnung der Bundesärztekammer an, wie es bis heute üblich ist.103 Die Verhaltensregeln der ärztlichen Berufsordnungen gegenüber Patienten beschränkten sich im untersuchten Zeitraum auf die allgemeine Verpflichtung zur gewissenhaften Berufsausübung. Die klinische Forschung am Menschen wurde in den Berufsordnungen nicht geregelt. Auf dem 94 Jetzt § 40 Abs. 1 Nr. 3 AMG. 95 Jetzt § 40 Abs. 4 Nr. 3 AMG. 96 Jetzt § 40 Abs. 4 Nr. 4 Satz 4 AMG. 97 Zur Geschichte des Standesrechts der Ärzte und weiterer freier Berufe siehe Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, Berlin/New York 1991, zugleich Habilitation, Universität Göttingen, 1989. 98 Berufsordnung für die Deutschen Ärzte, Deutsches Ärzteblatt 1937, S. 1031 ff. 99 Taupitz, S. 289. 100 Taupitz, S. 294 f. 101 Berufs- und Facharztordnung für die deutschen Ärzte, Ärztliche Mitteilungen 1950, S. 410 ff. 102 Taupitz, S. 296. 103 Taupitz, S. 299 f. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 20 72. Ärztetag wurde 1969 ein Antrag, der die Einführung eines neuen Paragrafen zu „Experimenten an Menschen“ forderte, abgelehnt. Zur Begründung wurde auf die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen sowie auf die Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung und die Deklaration von Helsinki verwiesen.104 Mangels spezieller Regelungen kann man die Vorfälle in den Heimen standesrechtlich daher nur an der Pflicht zur gewissenhaften Berufsausübung messen. Da auch zum untersuchten Zeitpunkt die Notwendigkeit der Aufklärung und Einwilligung des Patienten sowie der medizinischen Indikation vorausgesetzt wurde,105 liegt es nahe, in Fällen, in denen Medikamente ohne Indikation abgegeben wurden oder keine hinreichende Aufklärung und Einwilligung erfolgte, einen Verstoß gegen standesrechtliche Pflichten zu sehen. Es muss jedoch beachtet werden, dass rein berufsrechtliche Regelungen keine Rechtswirkung nach außen entfalten . Sie erlangen eine Rechtswirkung erst durch die Übernahme in allgemeine Rechtsvorschriften , etwa des Strafrechts oder des Zivilrechts.106 4.3. Standesethik Die ärztliche Ethik in Bezug auf Arzneimittelstudien stützte sich zum untersuchten Zeitpunkt, wie bereits ausgeführt,107 maßgeblich auf den Nürnberger Kodex und die Deklaration von Helsinki . Der Nürnberger Kodex sollte ursprünglich die Urteilsbegründung im Nürnberger Ärzteprozess stützen, wurde aber in den folgenden Jahren weltweit als eigenständiges Werk anerkannt.108 Er enthält einige Grundsätze, die bis heute als maßgeblich gelten, hat dabei jedoch keine Rechtsverbindlichkeit .109 Der Kodex verbietet jede Forschung ohne Einwilligung der Versuchsperson. Wie oben110 ausgeführt, ist die Frage der Einwilligungsfähigkeit problematisch. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) ist derjenige einwilligungsfähig, der Art, Bedeutung und Tragweite einer ärztlichen Maßnahme erfassen kann.111 Eine feste Altersgrenze besteht dabei nicht, vielmehr muss im Einzelfall entscheiden werden.112 Diese Auffassung wird auch im Nürnberger Kodex vertreten, nach dem die Versuchsperson in der Lage sein muss, Wesen und Zweck des Versuchs sowie etwaige Gefahren und Folgen für die Gesundheit zu verstehen. Da diese Fähigkeit bei Säuglingen und Kleinkindern ausgeschlossen ist, wären Studien an diesen 104 Bundesärztekammer, Medizinethik in der Berufsordnung, abrufbar unter: http://www.bundesaerztekammer .de/recht/berufsrecht/muster-berufsordnung-aerzte/medizinethik-in-der-berufsordnung/ (Stand: 21.3.3017). 105 Vgl. Arbab-Zadeh, Der Arzt in den Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 152. 106 Lippert, in: Ratzel/Lippert, Kommentar zur Musterberufsordnung der Deutschen Ärzte (MBO), S. 90. 107 Siehe 3.2. 108 Groß, in: Lenk/Duttge/Fangerau, Nürnberger Kodex, S. 559. 109 Groß, in: Lenk/Duttge/Fangerau, Nürnberger Kodex, S. 561. 110 Siehe 3.2. 111 Vgl. etwa BGH, Urteil vom 5.12.1958, VI ZR 266/57, BGHZ 29, 33 ff.; Urteil vom 16.11.1971, VI ZR 76/70, NJW 1972, 335 ff. 112 Wachenhausen, in: Kügel/Müller/Hofmann, § 40 AMG, Rn. 112. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 21 Altersgruppen wegen Einwilligungsunfähigkeit als Verstoß gegen den Nürnberger Kodex einzuschätzen . Es muss jedoch beachtet werden, dass auch die heutige Forschung mit einwilligungsunfähigen Kindern wohl nicht im Einklang mit dem Kodex stehen würde, da eine Einwilligung durch den gesetzlichen Vertreter anstelle des Probanden, wie sie heute bei Minderjährigen generell vorgeschrieben ist,113 im Kodex nicht vorgesehen ist. Wie diese Problematik zeigt, war der Nürnberger Kodex, vielleicht aufgrund der Tatsache, dass er als Teil eines Urteils verfasst wurde, „nicht ganz auf die Wirklichkeit der klinischen Forschung ausgerichtet“114. Dies wird auch als ein Grund dafür angesehen, dass heute die Deklaration von Helsinki115 wesentlich mehr Bedeutung für die Forschung am Menschen hat als der Nürnberger Kodex.116 Die Deklaration hat seit 1964 bereits mehrere Revisionen durchlaufen und hat bis heute Bestand. Verbindlich ist die Deklaration in Deutschland zwar bis heute nicht, da eine Übernahme in das nationale Recht bisher nicht erfolgt ist. Jedoch schreibt § 15 Abs. 3 der Musterberufsordnung für Ärzte117 die Beachtung der Grundsätze der Deklaration bei der Forschung vor. Die Deklaration unterscheidet sich in einigen Punkten vom Nürnberger Kodex. Sie beinhaltet bereits die auch heute noch bedeutsame118 Unterscheidung zwischen Heilversuch („clinical research combined with professional care“) und klinischem Experiment („non-therapeutic clinical research“). Der Heilversuch ist nach Punkt II der Deklaration ein Versuch, der an einer kranken Person durchgeführt wird, um nicht nur die Forschung voranzubringen, sondern auch der Person zu helfen. Das klinische Experiment nach Punkt III ist dagegen ein Versuch, der nur zu Forschungszwecken durchgeführt wird. Die Unterscheidung ist wichtig, da die Deklaration von 1964 die Frage der Einwilligung je nach Art des Versuchs unterscheidet. Im Falle eines klinischen Experiments muss nach Punkt III 3a in jedem Fall eine Einwilligung erfolgen, beim Heilversuch soll sie nach Punkt II 1 dagegen nur erfolgen.119 Geht man naheliegender Weise von einem klinischen Versuch aus, so wäre bei fehlender Einwilligung ein Verstoß gegen die Grundsätze der Deklaration anzunehmen . 113 Siehe § 40 Abs. 4 AMG. 114 Deutsch, Recht und Ethik der klinischen Forschung am Menschen, S. 781; vgl. diesen Aufsatz auch zur generellen Problematik von ethischen Richtlinien. 115 Abgedruckt im Deutschen Ärzteblatt 1964, S. 2533. 116 So etwa Deutsch, Recht und Ethik der klinischen Forschung am Menschen, S. 781. 117 (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte in der Fassung des Beschlusses des 118. Deutschen Ärztetages 2015 in Frankfurt am Main, Deutsches Ärzteblatt 2015; 112(31-32): A-1348 / B-1132 / C-1104. 118 Vgl. Kern, S. 139. 119 Bei Einwilligungsunfähigen soll die Einwilligung in beiden Fällen durch den gesetzlichen Vertreter erfolgen. Beim klinischen Versuch soll die Einwilligung außerdem nach Punkt III.3c schriftlich erteilt werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 22 4.4. Zivilrechtliche und strafrechtliche Aspekte Maßgebend für die zivilrechtliche Beurteilung ärztlichen Fehlverhaltens sind die vertragliche Haftung nach §§ 280 ff. und die deliktische Haftung nach §§ 823 ff. BGB120.121 Nach § 823 Abs. 1 BGB ist derjenige, der vorsätzlich oder fahrlässig den Körper eines anderen widerrechtlich verletzt , zum Ersatz des daraus entstandenen Schadens verpflichtet. Die Frage, ob eine Behandlung widerrechtlich im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist, hängt von der Einwilligung des Patienten bzw. seines gesetzlichen Vertreters in die Behandlung ab.122 Neben dem Ersatz eines materiellen Schadens ist auch der Ersatz immaterieller Schäden möglich, insbesondere durch Gewährung eines Schmerzensgeldes. Schon in der ersten Fassung des BGB wurde in § 253 Abs. 1 BGB bestimmt, dass „[w]egen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, […] Entschädigung in Geld nur in den durch das Gesetz bestimmten Fällen gefordert werden“ kann.“ Zugleich wurde in § 847 Abs. 1 BGB a.F.123 normiert: „Im Falle der Verletzung des Körpers oder der Gesundheit sowie im Falle der Freiheitsentziehung kann der Verletzte auch wegen des Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, eine billige Entschädigung in Geld verlangen.“ Etwaige Ansprüche dürften jedoch verjährt sein. Bis zum Schuldrechtsmodernisierungsgesetz124, das am 1.1.2002 in Kraft trat, betrug die Verjährungsfrist von deliktischen Ansprüchen gemäß § 852 BGB a.F. drei Jahre ab dem Zeitpunkt „in welchem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt,“ jedoch in jedem Fall „ohne Rücksicht auf diese Kenntnis in dreißig Jahren von der Begehung der Handlung an.“ Die Verjährungsfrist für vertragliche Ansprüche, also auch für Ansprüche aus einem ärztlichen Behandlungsvertrag, betrug generell 30 Jahre, § 195 BGB a. F. Strafrechtlich kann eine ärztliche Behandlung eine Körperverletzung nach §§ 223 ff. Strafgesetzbuch (StGB)125 darstellen.126 Die strafrechtliche Rechtswidrigkeit einer ärztlichen Behandlung beurteilt sich ebenso wie die zivilrechtliche Widerrechtlichkeit nach dem Vorliegen einer Einwilligung des Patienten bzw. seines gesetzlichen Vertreters.127 Ob eine medizinische Indikation vorliegen muss, ist hingegen umstritten. So wird teilweise angenommen, eine Einwilligung des Patienten rechtfertige einen Eingriff auch dann, wenn keine Indikation vorliege.128 In jedem Fall dürfte 120 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), in der Fassung vom 2.1.2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), zuletzt geändert am 21.2.2017 (BGBl. I S. 258). 121 Vgl. Lafontaine, in: Herberger/Martinek/Rüßmann et. al, § 630a BGB, Rn. 533. 122 Lange, in: Herberger/Martinek/Rüßmann et al., § 823 Abs. 1 BGB, Rn. 61. 123 Seit 2002 ist der immaterielle Schaden in § 253 Abs. 2 BGB geregelt. 124 Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001 (BGBl. I S. 3138). 125 Strafgesetzbuch (StGB), in der Fassung vom 13.11.1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert am 1.3.2017 (BGBl. I S. 386). 126 Vgl. Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, § 138, Rn. 1 ff. 127 Vgl. Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, § 138, Rn. 42 ff. 128 Eser/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, § 223 StGB, Rn. 50; so auch Ulsenheimer, in: Laufs/Kern, § 138, Rn. 42. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 23 auch strafrechtlich bereits die Verjährung eingetreten sein. So verjährte im untersuchten Zeitraum eine einfache Körperverletzung gemäß § 67 Abs. 2 StGB a.F. nach fünf Jahren.129 5. Literaturverzeichnis Arbab-Zadeh, Amir, Der Arzt in den Ländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Eine vergleichende Untersuchung der ärztlichen Ausbildung, Rechts- und Standeskunde, Köln/Berlin 1967. Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ (Hrsg.), Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR, Berlin 2012, abrufbar unter: http://www.fonds-heimerziehung.de/fileadmin/user_upload /dokumente/bericht_ohne_P_web.pdf (Stand: 21.3.2017). Carspecken, Ferdinand, Wege der Zusammenarbeit des Jugendamtes mit anderen Trägern der Jugendarbeit , Berlin 1957. Deutsch, Erwin, Das internationale Recht der experimentellen Humanmedizin, NJW 1978, S. 570 ff. Deutsch, Erwin, Recht und Ethik der klinischen Forschung am Menschen: Entwicklung und gegenwärtiger Stand, VersR 2002, S. 781 ff. Frings, Bernhard, Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1970, Münster 2012. Happe, Günter, Heimaufsicht nach dem Jugendwohlfahrtsgesetz, 2. Aufl., Münster 1984. Herberger, Maximilian/Martinek, Michael/Rüßmann, Helmut et al. (Hrsg.), juris Praxiskommentar BGB, Band 2 – Schuldrecht, 8. Aufl. 2017, § 630a BGB. Kern, Bernd-Rüdiger, Die arzneimittelrechtliche Forschung an Minderjährigen und nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen, in: Kern, Bernd-Rüdiger/Lilie, Hans (Hrsg.), Jurisprudenz zwischen Medizin und Kultur. Festschrift zum 70. Geburtstag von Gerfried Fischer, Frankfurt a.M. 2010, S. 138 ff. Kügel, Wilfried/Müller, Rolf-Georg/Hofmann, Hans-Peter (Hrsg.), Arzneimittelgesetz, 2. Aufl., München 2016. Hasskarl, Horst/Kleinsorge, Hellmuth, Arzneimittelprüfung. Arzneimittelrecht, 2. Aufl., Stuttgart et al. 1979. Laufs, Adolf/Kern, Bernd-Rüdiger (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., München 2010. 129 Diese Verjährungsfrist besteht bis heute, siehe § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 9 - 3000 - 001/17 Seite 24 Lenk, Christian/Duttge, Gunnar/Fangerau, Heiner (Hrsg.), Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, Berlin/Heidelberg 2014. Mitscherlich, Alexander/Mielke, Fred (Hrsg.,) Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a.M. 1960. Peters, Hans (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Zweiter Band – Kommunale Verwaltung, Berlin et al. 1957. Potrykus, Gerhard, Jugendwohlfahrtsgesetz, 2. Aufl., München 1972. Ratzel, Rudolf/Lippert, Hans-Dieter, Kommentar zur Musterberufsordnung der Deutschen Ärzte (MBO), 5. Aufl. Heidelberg et al. 2010. Rebscher, Georg Erich, Die Heimaufsicht des Landesjugendamtes nach § 78 JWG, Dissertation, Universität Marburg 1968. Riedel, Hermann, Jugendwohlfahrtsgesetz, 2. Aufl., Berlin 1955. Runder Tisch Heimerziehung, Abschlussbericht, Berlin 2010, abrufbar unter: http://www.rundertisch -heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht.pdf (Stand 21.3.2017). Schönke, Adolf/Schröder, Horst (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 29. Aufl., München 2014. Taupitz, Jochen, Die Standesordnungen der freien Berufe, Berlin/New York 1991, zugleich Habilitation , Universität Göttingen, 1989. Von der Pfordten, Dietmar, Expertise zu Rechtsfragen der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre. Gutachten im Auftrag des „Runden Tisch Heimerziehung“, Göttingen 2010, abrufbar unter: http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Expertise_Rechtsfragen.pdf (Stand: 21.3.2017). Wagner, Sylvia, Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte. Arzneimittelstudien an Heimkindern, Sozial.Geschichte Online, 19/2016, S. 61 ff., abrufbar unter: https://duepublico .uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf (Stand: 21.3.2017). ***