Vor- und Nachteile der Gesamtschule bzw. des dreigliedrigen Schulsystems - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 8 -231/2006 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Vor- und Nachteile der Gesamtschule bzw. des dreigliedrigen Schulsystems Ausarbeitung WD 8 -231/2006 Abschluss der Arbeit: 23.11.2006 Fachbereich WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. - 3 - 1. Einleitung Um die Vor- und Nachteile der Gesamtschule bzw. des dreigliedrigen Schulsystems in der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit langem eine intensive, nicht selten ideologisch geprägte Diskussion. Sie setzte ein mit den Vorschlägen des Deutschen Bildungsrates zur Einführung von Gesamtschulen Anfang der sechziger Jahre und ist bis heute nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gelangt. Mit der Veröffentlichung der Ergebnisse der Pisa-Studien gewann die Debatte eine neue Brisanz. Während die Kritiker des dreigliedrigen Systems ihre Haltung bestätigt sahen, betonen die Befürworter, dass die Gesamtschule nach wie vor keine sinnvolle Alternative sei. Derzeit zeichnet sich eine neue politische Debatte um dieses Thema ab. Im Folgenden werden die wichtigsten Argumente für die eine wie die andere Schulform an Hand aktueller Stellungnahmen exemplarisch gegenüber gestellt. 2. Pro-Gesamtschule In einem Überblicksartikel zur Gesamtschule heißt es: „Die Gesamtschule in Deutschland ist eine Form der weiterführenden Schule, die Kinder nach der Grundschule besuchen können. Sie ist in mehreren Bundesländern eine Alternative zum traditionellen dreigliedrigen Schulsystem (mit Hauptschule, Realschule , Gymnasium) geworden. (…) Unterschieden werden integrierte Gesamtschulen und kooperative Gesamtschulen. In den integrierten Gesamtschulen werden die Schülerinnen und Schüler in einzelnen Fächern nach Leistung und Anforderungen in verschiedene Kurse aufgeteilt. In der kooperativen Gesamtschule gibt es nebeneinander Klassen des Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialzweiges. Einzelne Fächer wie Sport werden gemeinsam unterrichtet. (…) Befürworter (der Gesamtschule) betonen die Idee des gemeinsamen Lernens für ein besseres Zusammenleben in der Gesellschaft und die differenzierteren Lernangebote und Lernanregungen in einer Ganztagsschule. Zunehmend finden sich heute auch Stimmen, die an ein 'Heraufziehen' der schlechteren Schüler durch die besseren glauben und somit auch von einem Leistungs-Gesichtspunkt her die Gesamtschule befürworten. (…) Innerhalb des deutschen Schulsystems sind Gesamtschulen nicht unumstritten, manche Bundesländer (z.B. Sachsen) bieten sie überhaupt nicht an. Von vielen Erziehungswissenschaftlern und zunehmend auch von Wirtschaftswissenschaftlern , wird allerdings insbesondere die integrierte Gesamtschule als zukunftsweisend betrachtet.“1 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Gesamtschule - 4 - Zuletzt hat der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, vehement für die Gesamtschule Stellung bezogen: „Das dreigliedrige Schulsystem, mit dem wir weltweit nahezu allein stehen, passt nicht mehr in die heutige Zeit. Es reflektiert die Drei-Klassen-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts . Früher sprach man ehrlicherweise von der Volksschule, der Mittelschule und der Oberschule. Damit gab man implizit zu, dass man für das Volk, die Mittelschicht und die Oberschicht drei verschiedene Schulen vorgesehen hatte. Heute spricht man verschämt von der Hauptschule, der Realschule und dem Gymnasium. Die Verwendung der neuen Namen ändert aber kaum etwas daran, dass mit dem deutschen Schulsystem die bestehende Ungleichheit der Gesellschaft zementiert wird. Deutschland selektiert seine Schüler für die drei Schulformen bereits im Alter von zehn Jahren, während praktisch alle anderen Länder sie über die Pubertät hinaus, also bis zum Alter von etwa 14, 15 Jahren, zusammenhalten und erst dann aufteilen. Und das meistens auch nur so, dass einige Schüler die gemeinsame Schule früher verlassen als andere. Die frühe Selektion maximiert den Einfluss der Eltern und minimiert die Bedeutung der tatsächlichen Begabung der Kinder.“ 2 Sinn räumt an: „Das deutsche System hat freilich nicht nur Nachteile. Die frühe Aufspaltung der Schüler ermöglicht es, die Begabten besonders gut zu fördern. So ist das deutsche Abitur noch immer als ein besonders hoch qualifizierter Abschluss einzustufen, wie er sonst in kaum einem anderen Land erzielt werden kann. Das französische Bakkalaureat oder der angelsächsische Highschool-Abschluss sind vergleichsweise inferiore Titel, die von jeweils mehr als der Hälfte aller Schüler erreicht werden. Dennoch reicht der Vorteil der besseren Begabtenförderung nicht aus, den offenkundigen Nachteil zu kompensieren, dass Begabungsreserven bei den Arbeiterkindern nicht ausgeschöpft werden. Auf den deutschen Gymnasien finden sich viele, die dort eigentlich nicht hingehören, und unter Handwerkern und Arbeitern gibt es viele, die das Zeug zum Akademiker gehabt hätten – wären sie rechtzeitig gefördert worden.“3 2 http://www.cesifo.de/portal/page?_pageid=36,105298&_dad=portal&_schema=PORTAL &item_link=echo-WiWo-13-03-06.htm 3 Ebenda - 5 - Sinn verweist auf neue Forschungsergebnisse aus dem IFO-Institut4 und fordert: „Deutschland muss die Diskussion um die Gesamtschule noch einmal führen. (…) Weil wir durch unser Schulsystem die Chancengleichheit mit den Füßen treten, brauchen wir einen exzessiven Sozialstaat, um das wünschenswerte Maß an Gleichheit wenigstens im Nachhinein herzustellen. Die Unterprivilegierten holen sich auf dem Wege der demokratischen Umverteilung, was ihnen bei der Ausbildung verwehrt wurde. Das ist teuer und leistungsfeindlich. Die hohe deutsche Arbeitslosigkeit und das miserable Wachstum haben genau hier ihre zentrale Ursache. Wie viel besser wäre es doch, verringerten wir die Ungleichheit im Vorhinein bei der Ausbildung unserer Schüler.“5 Nachdrücklich für die Gesamtschule setzt sich seit langem die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ ein. In der nachfolgenden Stellungnahme werden alle wesentlichen Argumente gegen das dreigliedrige Schulsystem und für die Gesamtschule zusammengefasst : „Wir wollen leistungsfähige Schulen, in denen alle Kinder eine an ihren Stärken und Schwächen orientierte Förderung erhalten. Denn wir wissen: Nur dadurch haben alle Kinder und Jugendlichen später gute Chancen auf beruflichen Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe. Doch PISA- und andere Studien zeigen uns deutlich: Von diesem Ziel sind wir meilenweit entfernt. Im internationalen Vergleich sind die schulischen Leistungen nur mittelmäßig. Die „Risikogruppe“ derjenigen, die wegen mangelhafter Lernerfolge kaum Chancen auf ein selbstständiges Leben haben, ist (…) erschreckend hoch. Das ist nicht die Schuld der Kinder, sondern vor allem des Schulsystems: In keinem anderen Land ist der Schulerfolg der Kinder so abhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft ihrer Eltern. Kinder aus ärmeren Familien haben es oft schwerer und sie werden in der Schule nicht entsprechend gefördert – selbst wenn sie genauso gute Leistungen bringen. Die Verteilung auf die Schulformen erfolgt eher nach sozialen Gründen als nach Leistung und Begabung. So werden Kindern Lebenschancen verweigert, Begabungen gehen verloren.“6 4 „Wie mein Mitarbeiter Ludger Wößmann in umfangreichen ökonometrischen Studien auf der Basis der Pisa-Daten der OECD herausgefunden hat, gibt es empirisch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die frühe Aufspaltung der Schüler einen positiven Einfluss auf die durchschnittlichen Pisa-Test- Ergebnisse hatte. Seine Untersuchungen zeigen vielmehr, dass die frühe Aufspaltung die durchschnittlichen Schülerleistungen eher noch etwas verringert hat. Auf jeden Fall führt die frühe Aufspaltung zu einer massiven Vergrößerung der Ungleichheit bei den Leistungen der geprüften Schüler .“ Vgl. dazu: Schütz, Gabriella, Wößmann, Ludger, Chancengleichheit im Schulsystem (2005) in: http://www.cesifo-group.de/portal/page?_pageid=36,327090&_dad=portal&_schema=PORTAL &item_link=ifowp-17-abstract.htm 5 Ebenda. Vgl. auch: „Wenn die höhere Ungleichheit als Preis für eine höhere durchschnittliche Schülerqualität angesehen werden könnte, ließe sich das deutsche System vielleicht noch rechtfertigen. Da dieses System jedoch die Ungleichheit vergrößert, ohne den Durchschnitt zu verbessern, gehört es in den Abfalleimer der Geschichte.“ 6 http://www.gew-hamburg.de/ - 6 - In der Stellungnahme der GEW wird festgehalten: „Für diese Misere gibt es eine Reihe von Gründen: Instabile Familienverhältnisse und unzureichende Deutschkenntnisse, mangelnde Unterrichtsqualität, Überforderung von Lehrerinnen und Lehrern, starre Strukturen in Schulen und Verwaltungen und eine viel zu geringe Ressourcenausstattung der Bildungseinrichtungen. Doch eine ganz entscheidende Ursache ist offensichtlich unser vielfach gegliedertes Schulsystem. In fast allen anderen Ländern gibt es das schon längst nicht mehr – schon gar nicht in den erfolgreichsten ! Dort lernen die Kinder länger gemeinsam – und dadurch lernen alle mehr und besser! Unser Schulsystem aus dem vorletzten Jahrhundert basiert auf früher Auslese statt auf Chancengleichheit durch individuelle Förderung. Es gibt nicht drei oder vier Typen von Kindern – jedes Kind ist einzigartig in seinen Stärken und Schwächen, seinen Begabungen und Interessen. Manche sind schneller und starten früher durch, andere brauchen mehr Zeit und Hilfe. Wenn unterschiedliche Kinder zusammen kommen, lernen sie voneinander und gemeinsam mehr. Es geht um die Anerkennung von Unterschieden . In den erfolgreichen Ländern gibt es deshalb eine Schule, in der jedes Kind individuell gefördert wird, ohne Sortieren, Sitzen bleiben und Abschulen.“7 3. Pro-Dreigliedriges Schulsystem Das gegliederte Schulsystem hat in der Bundesrepublik Deutschland eine lange Tradition: „Das dreigliedrige Schulsystem gehört zu den Grundpfeilern des deutschen Schulwesens und meint generell das System der allgemein bildenden weiterführenden Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. Im engeren Sinne fasst dieser Begriff die drei im Hamburger Abkommen festgelegten allgemein bildenden Schulformen der Sekundarstufe (II) zusammen (Hauptschule, Realschule und Gymnasium). Die Verwendung des Begriffs gilt heute allerdings als überholt, da diese Systematik seit dem Ende der 1960er-Jahre sowie seit der Deutschen Einheit durch die Einführung der Gesamtschule bzw. durch die Errichtung von Sekundar-, Regional-, Regel- oder Mittelschulen kontinuierlich modifiziert worden ist. Treffender spricht man vom gegliederten Schulwesen .“8 Zur Entwicklung des deutschen Schulsystems nach 1945 wird angemerkt: 7 Ebenda 8 http://de.wikipedia.org/wiki/Dreigliedriges_Schulsystem - 7 - „In den westlichen Besatzungszonen und den Westsektoren Berlins (…) setzten sich die Kultusminister der neugegründeten Bundesländer durch und erhielten das Dreigliedrige Schulsystem aufrecht. (…) Seit den 1970er Jahren etablierten sich unterschiedliche Gesamtschultypen parallel zum Gegliederten System. Nach der Wiedervereinigung wurde von den neuen Ländern das Dreigliedrige System aus Westdeutschland weitgehend übernommen. (…) Durch die PISA-Studien Ende der 1990er und in den 2000er Jahren wurde die soziale Auslesefunktion des Dreigliedrigen Systems aufgezeigt. Seitdem gibt es deutliche Kritik von Seiten der OECD und anderer Institutionen.“9 Ein charakteristisches Plädoyer für die Vorzüge des gegliederten Schulsystems findet sich einem Beitrag der Hessischen Kultusministerin Karin Wolff aus dem Jahr 2005: „Wer als Antwort auf PISA und andere Bildungsstudien auf die Einheitsschule setzt, der (…) betrachtet Bildung (…) aus einem gänzlich falschen Blickwinkel. Bei der Qualitätsverbesserung unseres Bildungswesens dürfen Organisationsfragen nicht im Vordergrund stehen. Es geht um die persönliche und berufliche Entwicklung junger Menschen und darum, jeden einzelnen bestmöglich auszubilden. Schule muss vom Kind her gedacht werden. Nicht alle Kinder können auf dem gleichen Weg zum gleichen Ziel gelangen . Sie haben verschiedene Begabungen, unterschiedliche Stärken und Schwächen. Deshalb ist eine Differenzierung erforderlich. Die individuelle Förderung jedes Kindes ist nur über ein vielfältiges schulisches Angebot möglich, das alle zu ihren jeweils besten Leistungen führt. Wer glaubt, die Strukturfrage sei das Allheilmittel, scheint (…) zu faul, die tatsächlichen Herausforderungen - guter Unterricht, gute Lehrerbildung, frühe Bildung - anzunehmen.“10 Zu den durch die PISA-Studie ausgelösten Debatten wird angemerkt: „Die Befürworter der Einheitsschule führen gerne die Ergebnisse von PISA als Argument gegen das geteilte Schulsystem an. Auch hier liegen sie völlig falsch: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern lassen sich nicht mit Schulsystemen erklären. Schon die Auswertung der deutschen Schullandschaft zeigt, dass Länder wie Bayern und Baden-Württemberg mit einem klar gegliederten Schulwesen die besten Ergebnisse erzielen. International liegen Gesamtschulen im vorderen und hinteren Bereich. (…) Befürworter der Einheitsschule übergehen außerdem stillschweigend eine weitere Tatsache , die in vielen internationalen Studien festgestellt wurde: In homogenen Lerngruppen - auch dies ist übrigens sehr relativ - wird ein größerer Bildungserfolg erzielt. Die PISA-Zahlen für Deutschland sprechen eine deutliche Sprache: Sie zeigen eindeutig die Überlegenheit von Gymnasien und Realschulen im Vergleich zu den Gesamtschulen. 9 Ebenda 10 http://www.bundestag.de/dasparlament/2005/30-31/Thema/021.html - 8 - Die durchschnittliche Schulleistung eines Gesamtschülers rangiert nach PISA gerade einmal zwischen der eines Haupt- und eines Realschülers. Die richtige Reaktion auf PISA ist, unsere Schulen dort zu reformieren, wo sie Schwächen aufweisen und unser differenziertes Schulsystem gezielt zu stärken.“11 Zu den entschiedenen Verteidigern des mehrgliedrigen Schulsystems gehört seit langen der „Deutsche Philologenverband“ (DPhV). In einer jüngsten Stellungnahme wird dezidierte Kritik am Konzept der Gesamtschule geübt: „Sowohl die Gemeinschafts- oder Gesamtschule als auch die Orientierungsstufe sind Modelle, die in Deutschland bereits mehrfach gescheitert sind und zwar sowohl leistungsmäßig als auch hinsichtlich der Akzeptanz durch Eltern und Schüler. Dies haben nicht zuletzt die PISA-Ergebnisse in Deutschland drastisch aufgezeigt. Diese Vorschläge gehen in die völlig falsche Richtung: Zum einen beschäftigen sich SPD und PDS schon wieder nur mit strukturellen Fragen, obwohl doch inzwischen alle wissen, dass die Qualität der Schulen nur über eine inhaltliche Verbesserung weiter zu steigern ist. Zum anderen schlägt die NRW-SPD dann mit der Orientierungsstufe genau das Modell vor, das in Niedersachsen erst kürzlich auf Drängen der Eltern abgeschafft worden ist“, so der DPhV-Bundesvorsitzende. Besonders pikant sei überdies (…), dass dabei auch noch das Gymnasium, das bei der PISA-Studie zur internationalen Spitzengruppe gehörte , zerschlagen werden solle. Dies zeige, dass es den Urhebern dieser Vorschläge um wirkliche Qualitätsverbesserung wohl auch gar nicht gehe, sondern um die Durchsetzung ideologischer Ziele.“12 Weiter wird von Seiten des Deutschen Philologenverbandes betont: „Wir erleben derzeit leider die Rückkehr der Ideologien in die Schulpolitik. Dabei hat PISA schonungslos aufgezeigt, dass nicht die Struktur, sondern die Verbesserung der Unterrichtsqualität im Zentrum der Bemühungen stehen muss. Seinen Erfolg bei PISA verdankt Finnland seinem herausragenden individuellen Förderprogramm und nicht der Struktur, denn auch die fünf Staaten, die bei PISA am schlechtesten abgeschnitten haben , besitzen integrierte Schulsysteme. Wollen wir uns dort einreihen?“ Fruchtlose Strukturdebatten lenken aus Sicht des Deutschen Philologenverbandes den Blick von den wirklich bedeutsamen inhaltlichen Fragen ab. Statt diese Debatten weiter zu führen und damit die Zukunftschancen der Schülerinnen und Schüler aufs Spiel zu setzen, sei es dringlicher, die Qualität des bestehenden Schulsystems zunehmend weiter zu verbessern . Dazu gehöre, die vielfach geforderte individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler in allen Schulformen konkret werden zu lassen und die Umsetzung der quali- 11 Ebenda 12 http://www.teachersnews.net/te68/index.nsf/url/41B8592F8C1A4F12C12572170034E35A?Open Document - 9 - tätsorientierten Bildungsreformen wie etwa die Einführung der Bildungsstandards nicht durch Scheindebatten zu gefährden.“13 4. Individuelle Förderung Sowohl die Befürworter der Gesamtschule wie des dreigliedrigen Schulsystems berufen sich darauf, dass die von ihnen favorisierte Schulform eine bessere individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler ermögliche. Die Gesamtschul-Verfechter verweisen häufig auf ausländische, insbesondere skandinavische Erfahrungen: „Was sind (…) unsere Erfahrungen in Schweden mit über vierzig Jahren Gesamtschule? Es hat sich gezeigt, dass die befürchteten Probleme nicht eingetreten sind. In ganz unterschiedlichen internationalen Schulleistungsstudien erreichen die schwedischen Schüler gute Ergebnisse. Die besten zehn Prozent der Schüler unseres Landes können es gut mit denen anderer Länder aufnehmen. Und woran kann das liege(n)? Eine der Erklärungen ist interessanterweise gerade das einheitliche, nicht gegliederte Schulsystem. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass es wirksam sei, nur genügend verschiedene Schulformen anzubieten und die Schüler dann entsprechend zu verteilen. So braucht man sich nicht auf jeden einzelnen Menschen, der da kommt, einzustellen, man hat sich ja schon eingestellt, in dem man verschiedene Schulformen anbietet. In einem einheitlichen Schulsystem bleibt den Lehrern nichts anderes übrig, als sich individuell auf die Schüler einzurichten.“14 Die bessere individuelle Förderung wird aber ebenso von den Befürwortern des mehrgliedrigen Schulsystems für sich beansprucht. Von ihnen werden die Vorzüge einer frühen Aufteilung herausgestellt. Zum Teil aber auch auf aktuelle Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems hingewiesen: „’In dritter und letzter Lesung hat der Landtag NRW am 22. Juni 2006 mit den Stimmen der schwarz-gelben Koalition das neue Schulgesetz verabschiedet. Damit stehen die 13 Ebenda. In einer weiteren Stellungnahme beruft sich der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands auf eine Studie des Forschungsinstituts Desi zu den Englischleistungen deutscher Schüler: „Die Desi-Studie zeigt einmal mehr, dass die deutsche Gesamtschule gescheitert ist. Meidinger forderte , die Mittel, die für den Erhalt der Gesamtschule aufgewendet werden, sollten „besser in den Ausbau der Hauptschule als echte Förderschule investiert werden“. Die Studie weise nach, „dass die Gesamtschule doppelt versagt hat, leistungsmäßig und in der sozialen Förderung.“ Die Studie im Auftrag der Kultusministerkonferenz hatte die Leistungen von Schülern in den Fächern Deutsch und Englisch an Schulen in Deutschland erfasst. Dabei waren deutliche Leistungsunterschiede bei Schülern der neunten Jahrgangsstufe zu Tage getreten. So gab es in den Gymnasien eine starke Leistungsspitze , während deutliche Defizite in Hauptschulen, integrierten Gesamtschulen und Schulen mit mehreren Bildungsgängen festgestellt wurden.“ http://www.dphv.de/informationen/default_ info.cfm. 14 http://www.ganztagsschulen.org/_downloads/m1_v7_ekholm.pdf - 10 - Schulen in Nordrhein-Westfalen vor weit reichenden Änderungen. (…) Mit dem neuen Schulgesetz schaffen wir echte Chancengerechtigkeit. Die Zeiten, in denen das Portemonnaie der Eltern über den Bildungserfolg der Kinder bestimmt hat, sind vorbei’, betonte (die Bildungspolitikerin) Pieper-von Heiden. Denn mit dem neuen Schulgesetz sind die Weichen für eine zukunftsweisende und individuelle Förderung der Kinder gestellt. Mehr Eigenverantwortung, mehr Leistung, mehr individuelle Förderung und mehr Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Schulformen - das seien die Leitlinien, auf denen das Gesetz basiere, erklärten die FDP-Bildungsexperten. Sie zeigten sich überzeugt davon, dass mit dem Schulgesetz auch inhaltlich sicher die besten Voraussetzungen für ein erfolgreiches dreigliedriges Schulsystem geschaffen seien. ‚Mit dem neuen Schulgesetz sind die Weichen für eine zukunftsweisende Bildung und individuelle Förderung unserer Kinder endlich gestellt’".15 Hier wird u.a. auf die folgenden Maßnahmen verwiesen: „Sitzenbleiben, Individuelle Förderung: Im Schulgesetz ist festgelegt, dass die Schule den Unterricht so zu gestalten hat, dass die Versetzung der Regelfall ist. Daher sind alle weiterführenden Schulen verpflichtet, Konzepte und Förderangebote zu entwickeln und anzubieten sowie Kinder Lernschwächen zeigen, die ihre Versetzung gefährden könnten . Dazu dürfen auch weiterführende Schulen Lernstudios einrichten. Die Förderung der Kinder muss zeitgleich mit dem Eintreffen des "blauen Briefs" erfolgen. Die Schule muss jedoch den Bedürfnissen der Schüler mit Lernschwächen ebenso gerecht werden wie denen besonders begabter Kinder. Durchlässigkeit: Generell gilt das Prinzip der Durchlässigkeit für das dreigliedrige Schulsystem in Nordrhein-Westfalen. Im Verlauf der Sekundarstufe I wird der Aufstieg leistungsfähiger Schüler in eine andere Schulform deutlich stärker gefördert als bisher. Nach jedem Schulhalbjahr in den Klassen 5 und 6 entscheidet die Klassenkonferenz, ob Eltern ein «Aufstieg« ihrer Kinder empfohlen werden soll. Insbesondere leistungsstarke Haupt- und Realschüler sollen nach jedem Halbjahr die Möglichkeit zum Aufstieg zur Realschule oder dem Gymnasium haben. Künftig müssen die Zeugnisse daher entsprechende Empfehlungen enthalten. Voraussetzung für den Aufstieg ist ein Notenschnitt von 2,0 in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Englisch.“16 15 Vgl. dazu: http://www.das-neue-nrw.de/webcom/show_article.php/_c-675/_nr-1/i.html 16 Ebenda - 11 - 5. Schlussbemerkungen Abschließend soll auf zwei in der Diskussion wenig beachtete Aspekte hingewiesen werden: Zum einem lässt sich die Effektivität der Gesamtschule in Deutschland, gerade der von ihnen geleisteten individuellen Förderung so lange nicht wirklich beurteilen, wie sie nicht die einzige Schulform ist. Bislang ist die Gesamtschule eine Schulform neben anderen und die Schüler, die sie besuchen, eine von vorne herein bestimmte, nicht - repräsentative Gruppe. Zum anderen wird wenig beachtet, dass gerade in Ländern mit langjähriger Gesamtschultradition eine besonders große Vielfalt an – oft exzellenten privaten Schulen besteht . Dieses Schulangebot wird z.B. in Großbritannien von Eltern, die sich die hohen Kosten einer Privatschule finanziell leisten, intensiv genutzt. Ein Hauptargument für die Privatschulen ist in aller Regel der Hinweis auf die viel intensivere individuelle Förderung der Kinder.