© 2019 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 131/19 Einzelfragen zu PISA-Studien Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 2 Einzelfragen zu PISA-Studien Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 131/19 Abschluss der Arbeit: 1. November 2019 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Grundlagen 4 1.1. PISA-Studien als Instrument der empirischen Bildungsforschung 4 1.2. Rechtliche Grundlagen 4 2. Die Entwicklung des Schulwesens seit Einführung der PISA-Studien aus der Sicht eines politischen Akteurs 5 2.1. Der Konstanzer Beschluss der Kultusministerkonferenz 5 2.2. Die ersten PISA-Berichte 2001/2 und Folgeentscheidungen 6 2.3. Konkrete Maßnahmen 8 2.4. Die Veränderungen des deutschen Schulsystems seit PISA 9 2.5. Notwendige Weiterentwicklungen 11 2.6. Verpflichtende Bildungsstandards und deren Kontrolle durch Verfassungsänderung 13 3. Kritik an den PISA-Studien 14 3.1. Grundlegend methodische Kritik 14 3.2. Politische-ideologische Kritik 15 3.3. Kritik an fehlender Praxisorientierung 16 3.4. Kritik an der Gesamtschule – Chancengleichheit versus Chancengerechtigkeit 17 4. Weiterführende Literatur 18 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 4 1. Grundlagen 1.1. PISA-Studien als Instrument der empirischen Bildungsforschung Empirische Bildungsforschung zielt auf die methodisch kontrollierte Beobachtung der Wirklichkeit von (Schul-)bildung, die damit nach wissenschaftlichen Maßstäben diskutiert werden kann. Dies verkennt nicht, dass das „Sein“ das „Sollen“ nicht bestimmen kann. Jedoch dürfte es für eine erfolgsversprechende (Bildungs-)politik zumindest hilfreich sein, sich der Strukturen des Seins zu vergewissern. In diesem Sinne haben die PISA-Studien ihre Wurzeln unter anderem in dem Bemühen, die empirischen Bildungsdaten einzelner Staaten international vergleichbar zu machen. Für die Verortung der PISA-Studien (PISA: Abkürzung für „Programme for International Student Assessment“) in der Tradition empirischer Bildungsforschung seien beispielhaft folgende Quellen genannt: Einen Querschnitt aktueller Themen der empirischen Bildungsforschung enthält der von Birgit Spinath herausgegebene Sammelband „Empirische Bildungsforschung“. Der Beitrag von Hans Anand Pant und Petra Standt ist dabei den PISA-Studien und ihrer Zielsetzung gewidmet.1 Dabei erläutern die Autoren unter anderem, dass PISA nicht auf die Ebene der einzelnen Schule ziele, sondern ein Instrument der Bestandsaufnahme sei, das auf der Systemebene ansetze. Die Beiträge im Tagungsband „Empirische Bildungsforschung“ diskutieren unter anderem die Verortung der PISA-Studien in der Tradition empirischer Bildungsforschung in historischer, vergleichender und methodischer Perspektive.2 1.2. Rechtliche Grundlagen Die (völker-)rechtlichen Grundlagen der PISA-Studien stellen Armin von Bogdandy und Matthias Goldmann in ihrem Aufsatz "Die Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt durch Politikbewertung - Die PISA-Studie der OECD als Muster einer neuen völkerrechtlichen Handlungsform" dar.3 Danach beruht die Durchführung der PISA-Studien auf einer verbindlichen Entscheidung des Rates der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).4 Besonders 1 Birgit Spinath (Hrsg.), Empirische Bildungsforschung (Springer 2014), online verfügbar im Angebot der Bibliothek des Deutschen Bundestages. 2 Jörg-Dieter Gauger / Josef Kraus, Hrsg. (2010). Empirische Bildungsforschung. verfügbar unter: https://www.kas.de/im-plenum/detail/-/content/empirische-bildungsforschung 3 Armin von Bogdandy/Matthias Goldmann, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 2009, S. 51. 4 Zu den Einzelheiten ebenda: S. 62 ff. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 5 betonen die Autoren, dass die PISA-Studien Raum für dezentrale Strukturen lassen und damit dem Prinzip des „national ownership“ Rechnung tragen.5 2. Die Entwicklung des Schulwesens seit Einführung der PISA-Studien aus der Sicht eines politischen Akteurs Jürgen Zöllner war zuständiger Bildungsminister in Rheinland-Pfalz und Sprecher der SPD-geführten Bundesländer in der KMK. Er war ein wichtiger Akteur, der sich für die Einführung der PISA-Tests in Deutschland stark machte. Das nachfolgende Kapitel beschreibt die Entstehung, Weiterentwicklung und Fortführung der PISA-Tests sowie die bildungspolitischen Diskussionen und konkreten Maßnahmen, die als Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der PISA-Tests gezogen wurden. Sein im Jahr 2016 veröffentlichter Aufsatz bietet eine Beschreibung der Entwicklung des Schulwesens seit Einführung der PISA-Studien, die nachfolgend dargestellt wird. 2.1. Der Konstanzer Beschluss der Kultusministerkonferenz „Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beschloss Mitte der 90er-Jahre, Schulleistungsuntersuchungen in den Mitgliedstaaten und Partnerstaaten durchzuführen . Ziel war es, alltags-und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten Fünfzehnjähriger zu messen. Es sollten jeweils die Bereiche Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften untersucht und einer dieser Bereiche sollte jeweils vertieft werden. Beginnend im Jahr 2000 sollte die Untersuchung alle drei Jahre vorgenommen werden. Ab 2009 würde sich der Zyklus wiederholen . Daneben, nicht für alle Staaten verbindlich, war beabsichtigt, die Kompetenz in Querschnittsthemen , wie z.B. Lernstrategien, selbstreguliertes Lernen, Problemlösung oder informationstechnische Grundbildung, näher zu hinterfragen. Zusätzlich bestand die Möglichkeit diese internationale PISA-Studie um nationale Tests zu ergänzen . Diese nationale Ergänzung wird als PISA-E bezeichnet. Hier bestand für Deutschland die Möglichkeit die Stichprobe so auszuweiten, dass die Ergebnisse getrennt nach Schularten und Bundesländern ausgewertet werden konnten. (…) Die Kultusministerkonferenz (KMK) musste also 1997 darüber entscheiden, ob und in welcher Form Deutschland sich an dieser PISA-Studie beteiligte. Einige Bildungspolitiker/-innen erkannten die Chance, dass PISA zur allgemeinen Versachlichung der Diskussion beitragen und eine Standortbestimmung ermöglichen könnte.“6 5 Ebenda, S. 93 f. 6 Zöllner, Jürgen (2016). Schule im Kontext der empirischen Wende – ist eine Veränderung festzustellen? S. 18. Aus: Bonsen, Martin; Priebe, Botho (2016). PISA – Folgen und Fragen. Anstöße zur Qualitätsentwicklung im Bildungssystem. Klett/Kallmeyer 2016 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 6 „Allen Beteiligten war dabei sehr wohl bewusst, dass PISA sicher keine Rückkoppelung über die Leistungsfähigkeit des gesamten Bildungssystems geben würde. (…) Allerdings war vielen Insidern klar, dass CDU-geführte Länder mit ihrem traditionell gegliederten Schulsystem in Anbetracht der Ausrichtung von PISA besser abschneiden würden. Das barg politischen Sprengstoff, sodass die Vorbereitung eines möglichen Beschlusses insbesondere auf der SPD-Seite sehr mühsam war.“7 Jürgen Zöllner gelang es jedoch einen entsprechend erweiterten Antrag zur Beteiligung an PISA einzubringen und für diese Initiative Akzeptanz auf SPD-Seite zu erreichen. Zöllner fasst die damalige Entscheidung wie folgt zusammen: „Es ist den Verantwortlichen hoch anzurechnen, dass am Ende nicht kurzsichtige Parteipolitik, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die nachfolgenden Generationen entschieden , das Herz über die Hürden zu werfen und sich einem vermutlich unangenehmen Befund zu stellen. Dazu gehörte Mut, den Politik oft vermissen lässt - hier war er schließlich doch vorhanden. (…) Entscheidend aus meiner Sicht war dabei nicht der Beschluss der Teilnahme als solche, denn hier hätte sich Deutschland wohl nicht ohne Gesichtsverlust ausklinken können. Wirklich wichtig und mutig war die Entscheidung, die Stichprobe so groß anzulegen, dass tatsächlich Vergleiche zwischen den einzelnen Ländern der Bundesrepublik Deutschland von Substanz, Schmerzfaktor und damit Veränderungspotenzial möglich würden. Damit war klar, dass es eine Aufwertung der Schulpolitik in jedem Land der Bundesrepublik geben würde, und die Protagonisten des Beschlusses, die seine Tragweite durchschauten, hegten die Hoffnung, dass die so viel gescholtene bildungspolitische Kleinstaaterei in Deutschland unter Druck geraten würde und dieser Druck vielleicht sogar über einen Wettbewerb zwischen den Ländern zur Weiterentwicklung des gesamten Systems genutzt werden könnte.“8 2.2. Die ersten PISA-Berichte 2001/2 und Folgeentscheidungen Am 4. Dezember 2001 wurde der erste PISA-Bericht der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt. Begleitet wurde dies durch große öffentliche Aufmerksamkeit. Zu den Ergebnissen bemerkte Jürgen Zöllner: „Die Leistungen der deutschen Schüler/-innen im Lesen, in der Mathematik und den Naturwissenschaften erwiesen sich im internationalen Vergleich als unterdurchschnittlich. Noch schlimmer : 25 Prozent der 15-Jährigen konnten nicht richtig lesen und schreiben, waren also einer Risikogruppe zuzuordnen. Besonders schlecht stand es mit der Bildungsgerechtigkeit. In keinem anderen Land war die Schulleistung so eng an die soziale Herkunft gekoppelt wie in Deutschland. (…) 7 Ebenda: S. 19. 8 Ebenda: S. 19f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 7 - In allen untersuchten Kompetenzbereichen (Lesekompetenz, mathematische Kompetenz, naturwissenschaftliche Kompetenz) lagen die mittleren Ergebnisse für die 15-Jährigen in Deutschland deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. - Die Streuung der Leistungen war in Deutschland breiter als in den meisten OECD-Staaten, im Bereich Lesekompetenz sogar am größten überhaupt. - Der Anteil derjenigen, die nur das unterste, elementare Kompetenzniveau erreichen oder sogar noch darunter bleiben, war in Deutschland größer als in vielen anderen OECD-Staaten. Dies betraf insbesondere die Lesekompetenz. Deutschland lag hier auf dem fünftletzten Platz. - Im oberen Leistungsbereich entsprachen die durchschnittlichen Leistungen deutscher Schüler /-innen weitgehend denen in anderen Staaten. - Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Kompetenz-Erwerb war bei uns in allen drei untersuchten Bereichen statistisch besonders eng. Im Bereich der Lesekompetenz war er im Vergleich zu allen anderen OECD-Staaten am engsten. - Jugendliche mit Migrationshintergrund schnitten noch deutlich schlechter ab.“9 „Im Juni 2002 kamen dann die Ergebnisse der vertiefenden nationalen Zusatztestung, PISA-E, die eine Auswertung nach Ländern und Schulformen ermöglichte. Wie zu erwarten, sah es letztlich überall schlecht aus. Nur Bayern und Baden-Württemberg waren in allen drei Bereichen über dem OECD-Durchschnitt. Sachsen leicht darüber im Lesen und der Mathematik, Rheinland-Pfalz nur leicht darüber im Lesen. Erwähnenswert erscheint mir noch der hohe Zusammenhang der Leseleistung mit den Leistungen in den anderen Bereichen. Dieser Befund erhöhte nochmals erheblich den Druck auf die KMK, Perspektiven für die weitere Entwicklung des deutschen Schulsystems aufzuzeigen. Noch im selben Jahr entschied die KMK sich dann für sieben Handlungsfelder: 1. Verbesserung der Sprachkompetenz im vorschulischen Bereich, 2. bessere Verzahnung von Vorschule und Grundschule mit dem Ziel frühzeitiger Einschulungen , 3. bessere Grundschulbildung, hier insbesondere Lesekompetenz und Verständnis mathematisch -naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, 4. Förderung Bildungsbenachteiligter insbesondere von solchen mit Migrationshintergrund, 5. Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage verbindlicher Standards sowie ergebnisorientierter Evaluation, 9 Ebenda: S. 20f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 8 6. Verbesserung der Professionalität der Lehrertätigkeit, insbesondere der diagnostischen und methodischen Kompetenz, 7. Ausbau schulischer und außerschulischer Ganztagsangebote.“10 2.3. Konkrete Maßnahmen Die Ganztagsschulen waren zu diesem Zeitpunkt noch umstritten. Weitere Empfehlungen, Konkretisierungen und Ergänzungen erfolgten im Laufe der folgenden Jahre immer wieder im Zusammenhang mit neuen PISA-Runden. Beispielhaft seien hier nur einige der seit 2003 eingeführten Maßnahmen genannt. Zur Förderung mathematischer und naturwissenschaftlicher Kompetenzen wurden neue Rahmenlehrpläne im Sekundarbereich I eingeführt und die Stundentafeln in den Naturwissenschaften der Jahrgangsstufen 5 und 6 erhöht. Zur Förderung der Lesekompetenz wurde die Teilnahme am KMK-Projekt Pro Lesen zur Förderung der Lesekompetenz in allen Unterrichtsfächern sowie das Fortbildungsprogramm mit dem Schwerpunkt Deutsch als Zweitsprache eingeführt. Zur Lehrerbildung und Lehrerfortbildung wurden der Praxisbezug im Studium verstärkt und die regionalen /schulinternen Fortbildungen zum Anfangsunterricht, zur Professionalisierung didaktischmethodischer Kompetenzen der Lehrkräfte weiterentwickelt.11 Zu einer verbesserten Evaluation wurden Sprachstandsfeststellungen vor Eintritt in die Schulanfangsphase durchgeführt sowie die verbindliche Entwicklung von Schulprogrammen und ab 2009 interne Evaluationsberichte vorgeschrieben. Weitere Strukturmaßnahmen betreffen die individuelle Förderung und Kooperationen, wie die Sprachförderung für Kinder mit Sprachförderbedarf vor Schuleintritt, die Ausstattung aller Grundschulen mit offenen Ganztagsangeboten, die Einrichtung eines Netzwerks zur Begabungsförderung und anderes mehr.12 „Zur positiven Weiterentwicklung des deutschen Schulsystems war es notwendig, dass - der Vorschulbereich zur echten Bildungseinrichtung wird, - er enger mit der Grundschule verzahnt wird, - die Grundschule aufgewertet wird und fachwissenschaftliche Aspekte, insbesondere Deutsch, an Bedeutung gewinnen, - spezielle Förderangebote vorgehalten werden müssen (individuelle Förderung) - zur Beurteilung von Schulleistung nachvollziehbare und überprüfbare Parameter notwendig sind (…), 10 Ebenda: S. 21. 11 Vergleiche ebenda: S. 22f. 12 Vergleiche ebenda: S, 23. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 9 - die Qualität der Aus- und Weiterbildung der Lehrer/-innen eine zentrale Einzelmaßnahme sein muss und - das Wissen, dass bessere Förderung nur dann gelingen kann, wenn mehr Zeit zur Verfügung steht, auch umgesetzt wird — das heißt: den Ganztagsschulen gehört die Zukunft. Diese Handlungsfelder haben ohne Zweifel die entscheidenden und richtigen Ansatzpunkte für tiefgreifende schulpolitische Entwicklungen der darauffolgenden Jahre geliefert, und sie sollten auch ein wesentlicher Bezugspunkt für die Beurteilung der in dieser Zeit eingetretenen Veränderungen im deutschen Schulsystem sein. Darüber hinaus stehen seit 2004 den Ländern mit der Verabschiedung der Bildungsstandards der KMK für ausgewählte Fächer an Schnittstellen des Bildungssystems neben den verschiedenen internationalen Konzeptionen (PISA, IGLU, TIMSS) ein bundesweit geltender Referenzrahmen zur Verfügung. Bundesweit geltende Bildungsstandards , die von der Kultusministerkonferenz in den Jahren 2003, 2004 bzw. 2012 verabschiedet wurden, gibt es derzeit - für den Primarbereich (Jahrgangsstufe 4) für die Fächer Deutsch und Mathematik, - für den Hauptschulabschluss (Jahrgangsstufe 9) für die Fächer Deutsch, Mathematik und Erste Fremdsprache (Englisch/Französisch), - für den Mittleren Schulabschluss (Jahrgangsstufe 10) für die Fächer Deutsch, Mathematik, Erste Fremdsprache (Englisch/Französisch), Biologie, Chemie und Physik, - für die Allgemeine Hochschulreife für die Fächer Deutsch, Mathematik und die fortgeführte Fremdsprache (Englisch/Französisch). Wichtig in diesem Zusammenhang ist noch der sogenannte ´Plöner Beschluss der KMK` von 2006, auch künftig an PISA teilzunehmen, aber ferner regelmäßig eine Überprüfung des Erreichens der KMK-Bildungsstandards in einem Ländervergleich durchzuführen. Zudem wurde entschieden , regelmäßig in einem dreijährigen Zyklus eine Bildungsberichterstattung Bildung in Deutschland vorzulegen.“13 2.4. Die Veränderungen des deutschen Schulsystems seit PISA Der Stellenwert von Schulpolitik hat sich in Bezug auf die allgemeine Politik geradezu umgekehrt . „Mussten sich die zuständigen Minister/-innen im Allgemeinen vor PISA noch regelmäßig gegen Kürzungen der Bildungsetats bei Haushaltsverhandlungen wehren, sind heute die Ministerpräsidenten /-innen und Finanzminister/-innen quasi in einem öffentlichen Rechtfertigungsdruck, wenn jeweils nicht noch größere Steigerungsraten der Bildungsetats in den Haushalten vorgenommen werden. Mit Bildungspolitik kann man heute Wahlen verlieren. (…) 13 Ebenda: S. 24f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 10 Das neue Gewicht von Bildungspolitik und die Anstrengungen der Bildungspolitiker/-innen in den Ländern, wenngleich unterschiedlich aufgrund des Bildungsföderalismus, so doch im Wesentlichen entlang der genannten Handlungsfelder, zeitigte auch positive Auswirkungen auf die folgenden PISA-Ergebnisse Deutschlands im internationalen Vergleich. So sieht es nach PISA 2012 für Deutschland kurz zusammengefasst wie folgt aus: Deutschland ist zum ersten Mal in allen drei Bereichen, Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften signifikant über dem OECD-Durchschnitt, in Mathematik und Lesen mit weiter steigender Tendenz. Die Erfolge im unteren Leistungsbereich sind nach OECD besonders auffällig. Weniger Schüler haben kein Grundkompetenzniveau und selbst die Schwächsten sind besser als früher . Mehr besonders Leistungsstarke in Mathematik und Naturwissenschaften, weniger Leistungsschwache in allen Bereichen, in Mathematik und Lesen mit weiter positiver Tendenz. Nur im Bereich der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und bei Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen besteht noch eindeutiger Handlungsbedarf. Auch beim Problemlösen sind unsere Schüler/-innen inzwischen besser als der OECD-Durchschnitt. Noch besser sieht der europäische Vergleich aus. In Mathematik sind nur Liechtenstein, die Schweiz, die Niederlande und Estland signifikant besser als wir, im Lesen Finnland, Irland, Polen und Estland und in den Naturwissenschaften nur Finnland und Estland. Soweit so gut. Aber PISA ist kein Selbstzweck, sondern nur ein Indikator für eine Teilaufgabe des Bildungssystems. Wie hat sich dieses nun weiterentwickelt?“14 Insgesamt lassen sich hier aus Zöllners Sicht folgende klare Entwicklungslinien aufzeigen: - „Krippen und Kitas als Bildungseinrichtungen und die grundlegende Bedeutsamkeit frühkindlicher Bildung sind überall ins Bewusstsein gedrungen. Bildungsprogramme für Kitas sind erstellt und weitgehend verbindlich; an ihrer Implementierung wird gearbeitet. (…) - Die Grundschulen sind aus ihrer im Vergleich zu den weiterführenden Schulen finanziell schlechten Situation befreit und nach den Kitas in ihrer weichenstellenden Bedeutung für die gesamte Bildungslaufbahn eines Kindes erkannt worden (…) - Sonderangebote für bildungsbenachteiligte Kinder und Jugendliche sind überall in unterschiedlichen Formen als notwendig erkannt und werden entwickelt. - Der fundamentalistische Grabenkampf im Schulsystem zwischen Befürwortern und Gegnern eines gegliederten weiterführenden Schulsystems ist weitgehend beendet. (Die) Entwicklung in ein zweigliedriges weiterführendes Schulsystem ist nicht aufzuhalten. (…) - Der Weg zur Bildungsgerechtigkeit führt zwingend in die Ganztagsschule und wird inzwischen überall, wenn auch unterschiedlich schnell und unterschiedlich konsequent, beschritten . (…) 14 Ebenda: S. 25f. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 11 - Die Quantität und Bedeutung empirischer Forschung ist gestiegen. Ihre Ergebnisse werden in Medien sowie von einer bestimmten Schicht von bildungspolitischen Akteuren aufmerksamer wahrgenommen. Ja sogar noch etwas mehr. Eine empirische Wende der Bildungspolitik hat stattgefunden. - (…) Das Interesse vieler Eltern an der Qualität von den Bildungseinrichtungen Kita und Schule ist erheblich gewachsen. Das ist begrüßenswert. Es hat bisweilen allerdings zu Übertreibungen geführt, die die Mitverantwortung der Familie für Bildungsanstrengungen des Kindes allein zulasten der Bildungseinrichtung und ihres pädagogischen Personals verlagern .“15 2.5. Notwendige Weiterentwicklungen Nach Zöllners Ansicht besteht kein Grund, sich mit den bisher erreichten Erfolgen zufrieden zu geben. Stattdessen identifiziert er vier wesentliche Bereiche in denen noch erheblicher Handlungsbedarf besteht, um auch zukünftig eine erfolgreiche Schulpolitik betreiben zu können. Der erste Bereich betrifft die Lehrerausbildung und Lehrerweiterbildung. „Letzten Endes treten alle Ausstattungs- und Organisationfragen hinter der Bedeutung der Kompetenz des pädagogischen Personals eines funktionierenden Wechselspiels zwischen Lehrkraft und Schüler/-innen zurück. (…) Im Zusammenhang mit PISA wurde klar, dass eine Verbesserung der Professionalität der Lehrtätigkeit insbesondere der berufswissenschaftlichen, diagnostischen und methodisch-didaktischen Kompetenzen notwendig sind.“16 Im Einzelnen handelt es dabei um die Diagnosekompetenz, z. B. zur Erkennung leseschwacher Schüler, die Förderungskompetenzen, die eine individualisierte Förderung ermöglicht, die Differenzierungskompetenz , die den Lehrkräften einen verbesserten Umgang mit Heterogenität ermöglicht , die fachdidaktische Kompetenz sowie die Evaluationskompetenz, da „die Lehrkräfte nicht gewohnt sind und schon gar nicht gelernt haben, die eigene Arbeit zu evaluieren bzw. evaluieren zu lassen. Fremd- und Selbstevaluation sollten schon in den beiden ersten Phasen der Lehrerbildung als zur Berufsausübung gehörig vermittelt werden.“17 Der zweite Bereich betrifft die Verbesserung der Kita-Qualität. Da die frühkindliche Bildung für Hirnentwicklung, Lernhaltung und zukünftige Bildungsverläufe von hoher Bedeutung ist, muss auch dem Beruf des Erziehers ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Förderprogramme von Bund und Ländern zur Krippen- und Kita-Gründung sorgen zwar für einen begrüßenswerten Zuwachs an Platzkapazitäten; für die anspruchsvolle Bildungsarbeit sind aber professionelles Personal und gute eine Ausstattung erforderlich. Der Lehrkräftemangel 15 Ebenda: S.27f. 16 Ebenda: S. 28. 17 Vergleiche ebenda: S. 29. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 12 soll von den Ländern dazu genutzt werden, Möglichkeiten für einen Quereinstieg in den Erzieherberuf zu schaffen. Neben dem Quereinstieg für tatsächlich Befähigte ist ein zusätzlicher Ausbildungsgang für Erzieherassistenten notwendig. Evaluationen sollten auch in Kitas selbstverständlich sein, veröffentlicht werden und bei erkennbaren Problemen zu Konsequenzen führen.18 Der dritte Bereich betrifft die Chancengerechtigkeit. Dazu zählt die möglichst frühzeitige Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen , insbesondere die Sprachförderung von Flüchtlingen in einer personell gut ausgestatteten Kita bzw. Ganztagsgrundschule. Die Nichtteilnahme an Sprachkursen oder Schulabsentismus dürfen nicht folgenlos bleiben. Ganztagsschulen in sozialen Brennpunkten können scheiternde Bildungsverläufe eher verhindern . Gescheiterte Bildungsverläufe führen zu gesellschaftliche Folgekosten, die im Nachgang erheblich höher zu Buche schlagen als eine vernünftige Ausstattung der Ganztagsschule. Chancengerechtigkeit bedeutet aber auch zusätzliche Angebote für besonders begabte Kinder einzuführen , da die spezielle Förderung von besonderen Begabungen von zentraler Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unseres gesamten Gesellschaftssystems ist.19 Der vierte Bereich betrifft die verbindliche Überführung von empirischen Ergebnissen in die Praxis . Die Verweigerung von Weiterbildungsmaßnahmen muss zu Konsequenzen für das Bildungspersonal führen. Es muss auch möglich werden, zeitlich befristet und leistungsorientiert zu vergüten und nicht fähiges Personal von der Bildungsverantwortung zu entlassen. Andererseits sollte der Quereinstieg begabter Personen in den Lehrerberuf weiter erleichtert werden.20 Der fünfte Bereich betrifft den Mut zur Umsetzung. Es gibt ausreichend viele Messungen, Erhebungen, wissenschaftlichen Studien sowie Grundsatzund Strategiepapieren von Ministerien und Qualitätsinstituten über das Wissen um die notwendigen Veränderungsbedarfe. „Es mangelt nicht an Erkenntnis, wohl aber am Mut und der Kraft zur Umsetzung und der Bereitschaft, damit verbundene Widerstände zu überwinden und Aufgeregtheiten auszuhalten. Mut zur Umsetzung bedeutet auch Mut zur Umschichtung von Mitteln z.B. aus der individuellen Förderung über Kindergeld, Herdprämie u. ä. hin zur besseren Ausstattung unserer Kitas und Schulen.21 18 Vergleiche ebenda: S. 29f. 19 Vergleiche ebenda: S. 20f. 20 Vergleiche ebenda: S. 31. 21 Vergleiche ebenda. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 13 2.6. Verpflichtende Bildungsstandards und deren Kontrolle durch Verfassungsänderung Der Autor tritt für eine Verfassungsänderung ein, da ein gutes Bildungssystem nur durch verpflichtende Bildungsstandards und deren einheitlicher Kontrolle gewährleistet werden könne. Da die nationalen Bildungsstandards der KMK nur als Rahmenstandards für die einzelnen Bundesländer zu verstehen sind, besteht bisher keine verpflichtende Rückkoppelung oder Kontrolle. „Einige Länder streben an, einen einheitlichen Aufgaben-Pool fürs Abitur zu bilden. Seit 2011 wird ein Staatsvertrag diskutiert, mit dem die Bundesländer untereinander vergleichbare Aufgaben verbindlich beschließen sollen. Eine Einigung ist nicht in Sicht. Auch hier nur ein lauwarmes Ergebnis. Die Länder wollen ihre Abituraufgaben sammeln und vom IQB bewerten lassen. Ab 2017 soll diese Aufgabensammlung für die Kernfächer Deutsch, Mathematik sowie in der fortgeführten Fremdsprache (zum Beispiel Englisch und Französisch) bereit stehen. Aber aus diesem Pool können sich die Länder bedienen, aber sie müssen es nicht. Verbindlich ist der gesamte Beschluss freilich nicht. Verbindlichkeit wäre durch einen Staatsvertrag zu erreichen. Dass es dazu kommen wird, bezweifle ich vor dem Hintergrund der föderalen Länderzuständigkeit in Schulfragen. Selbst wenn er zu Stande kommt, die KMK kann — da kein Verfassungsorgan — die notwendige Einheitlichkeit bei den Standards, d. h. Zielen und deren konsequente Kontrolle im Konfliktfalle, nicht durchsetzen. Bezogen auf Standards und deren Kontrolle, muss aus meiner Sicht ein Weg gefunden werden, Einheitlichkeit und Verbindlichkeit zu sichern. Nach meinen Erfahrungen ist dies nur unter Beteiligung des Bundes, wie zum Beispiel im Wissenschaftsbereich über die GWK22, zu erreichen. Dazu ist eine kleine Verfassungsänderung notwendig. Sie würde weder soweit gehen wie die diskutierte pauschale Aufhebung des Kooperationsverbots noch würde sie solche Einflussnahmen des Bundes ermöglichen wie sie vor der Verfassungsänderung 2006 bestanden. Schon damals stellte aber niemand die primäre Zuständigkeit der Länder für die Bildungspolitik in Frage. Zur Erinnerung die Formulierung Artikel 91b Absatz 1 GG 1. Satz bis 2006: ´Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen bei der Bildungsplanung und bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung von überregionaler Bedeutung zusammenwirken`. Die heutige Formulierung: ´Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenwirken`. Man müsste nur die früher vorhandene ´Bildungsplanung` ersetzen durch ´der Setzung von Bildungsstandards sowie deren laufender Überprüfung und` beziehungsweise in die jetzige Fassung einfügen. Artikel 91b Absatz 1 GG 1. Satz hieße dann neu formuliert: 22 Gemeinsame Wissenschaftskonferenz Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 14 ´Bund und Länder können auf Grund von Vereinbarungen in Fällen überregionaler Bedeutung bei der Setzung von Bildungsstandards sowie deren laufender Überprüfung und der Förderung von Wissenschaft, Forschung und Lehre zusammenwirken.`“23 3. Kritik an den PISA-Studien Schon bald nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 setzte eine massive und vielfältige Kritik an den Ergebnissen der PISA-Studie ein. Diese in ihrer ganzen Bandbreite aufzuzeigen , würde den Rahmen dieser Dokumentation weit übersteigen. Gleichwohl lassen sich bei der Lektüre der verschiedenen Publikationen doch gewisse Entwicklungslinien erkennen, mit welchen variierenden Schwerpunkten die Kritiker die PISA-Studien begleiteten. 3.1. Grundlegend methodische Kritik Bei den ersten beiden PISA-Studien 2000 und 2003 wurden teilweise die wissenschaftlichen Grundlagen, Implikationen und Deutungen der PISA-Studien kritisiert. Ein beredtes Zeugnis dieser Kritik findet sich in der Veröffentlichung „PISA & Co – Kritik eines Programms“ aus dem Jahr 2007.24 Darin beschreiben insgesamt zehn Autoren ihre Kritik an PISA aus den verschiedensten Blickwinkeln. Kritisch beleuchtet wird zum Beispiel die „Ideologie von PISA“, der „(un)heimliche Einfluss der Testideologie auf Bildungskonzepte“ und vieles andere mehr. Einen besonderen Schwerpunkt setzt die Publikation auf den Aussatz von Joachim Wuttke, der sich vor allem mit mathematischen und statistischen Fragen auseinandersetzt und den Machern der PISA-Studien sogar methodische Fehlberechnungen vorwirft.25 Von grundsätzlicher Kritik ist auch der Beitrag von Peter Bender mit dem Titel „Was sagen uns PISA & Co, wenn wir uns auf sie einlassen?“26 Er vergleicht die PISA-Studie mit TIMSS und anderen Bildungsstudien und erklärt, dass die aus den errechneten Punkten erstellten Länderrankings und der innerdeutsche Ländervergleich problematisch seien. Auch er begründet seine Aussagen mit mathematisch-statistischen Verzerrungen, die zu ungewissen Ergebnissen geführt hätten . 23 Ebenda: S. 32f. 24 Jahnke, Thomas; Meyerhöfer, Wolfram (2007). PISA & Co – Kritik eines Programms. 2. erw. Auflage. Hildesheim / Berlin 2017. 25 Wuttke, Joachim (2007). Die Insignifikanz signifikanter Unterschiede: Der Genauigkeitsanspruch von PISA ist illusorisch. Aus: Ebenda. In einer Replik erklärte Prof. Dr. Manfred Prenzel, Sprecher der deutschen Konsortien für PISA 2003 und PISA 2006, „dass die von Joachim Wuttke verfasste Fundamentalkritik falsch“ sei. Prenzel, Manfred (2007). Wie solide ist PISA? Oder Ist die Kritik von Joachim Wuttke begründet? http://archiv.ipn.unikiel .de/PISA/Wie_solide_ist_PISA.pdf. Die Auseinandersetzung wurde von den Beteiligten nicht weiter verfolgt. 26 Bender, Peter (2007). Was sagen uns PISA & Co, wenn wir uns auf sie einlassen? Aus: Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 15 Neben dieser eher methodischen Kritik übt der Autor aber auch Kritik an der inhaltlichen Konstruktion der im Test verwendeten Antworten auf die Fragen, da sie seiner Ansicht nicht nur ungenau , widersprüchlich und sogar falsch seien, sondern auch dem eigentlichen Untersuchungszweck , wie z. B. die „Mathematical Literacy“ zu testen, verfehlten.27 3.2. Politische-ideologische Kritik Die PISA-Studien wurden und werden bis heute auch aus politisch-ideologischer Sicht kritisiert. Als Beispiel soll hier die im Jahr 2009 von dem Soziologen Richard Münch veröffentlichte Publikation „Globale Eliten, lokale Autoritäten“ dienen.28 In dieser Schrift vertritt der Autor die These, dass die globale Verbreitung der wissenschaftlichtechnischen Zivilisation lokale Lebenswelten aus ihrem historischen Zusammenhang reiße und ihrer Legitimation beraube. Um weiterhin ihre Geltung zu behaupten, müsse sich wissenschaftliches Wissen „als nützliche Ressource zur Akkumulation von ökonomischem, politischem oder sozialem Kapital beweisen.“ Auf diese Weise werde eine „Weltkultur“ erzeugt, „die eine solche Verbindlichkeit erlangt, dass sie selbst Nationalstaaten, Organisationen und Individuen in ihrer legitimen Struktur, Identität und Verantwortlichkeit konstituiert.“29 Als aktuelles Beispiel führt der Autor die PISA-Testreihen sowie den Bologna-Prozess zur Schaffung eines europäischen Hochschulraumes an, in deren Folge die nationalen Bildungssysteme einer weit über Europa hinaus global einheitlichen Bildungskonzeption unterworfen würden. Lokale Bildungskulturen müssten sich nun dem internationalen Vergleich mit Bildungsstandards unterziehen, ohne die zuvor eigene Geltung und Würde für sich beanspruchen zu können. Beispiele für die oben beschriebenen Mechanismen biete eine Untersuchung von PISA und Bologna. „Dazu gehört auch die Durchsetzung einer globalen wissenschaftlich-technischen Governance von Experten, von der die nationalen und lokalen Formen der Herrschaft von Parlamenten, Parteien und Verbänden verdrängt werden. Gleichzeitig ist eine im Vergleich zu den kollektiven Solidaritäten der nationalen Wohlfahrtsstaaten zunehmende Re-Kommodifizierung der individuellen Lebensführung und der Verteilung von Lebenschancen zu beobachten. Die Bildung wird den nationalen Eliten (also den Lehrerverbänden, den Bildungspolitikern der Parteien und den Ministerialbeamten ) von einer transnationalen Koalition aus Forschern, Managern und Unternehmensberatern aus der Hand gerissen. Schließlich hat die Bildung nicht länger die Funktion der Reproduktion der ständischen Strukturen der Fachbildung, vielmehr wird sie auf die Vermittlung von Grundkompetenzen verpflichtet, die notwendig sind, um sich auf dem offenen Markt zu behaupten. Sie dient nun der Produktion und Reproduktion von Humankapital, das Rendite er wirtschaften soll. Das ist Sinn und Zweck des neuen Bildungs-Kapitalismus. 27 Bender, Thomas 2007: S. 315f. 28 Münch, Richard (2009). Globale Eliten, lokale Autoritäten. Bildung und Wissenschaft unter dem Regime von PISA, McKinsey & Co. Frankfurt am Main 2009. 29 Ebenda: S. 29. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 16 Die PISA-Studie sowie ihre Wirkungen auf die nationale Bildungspolitik und der Bologna-Prozess sind Teil und zugleich treibende Kraft einer großen Transformation der Bildung. Das alte Paradigma , in dem Bildung als Kulturgut und Fachwissen verstanden wurde, wird nun vollständig durch ein neues, ökonomistisches Leitbild abgelöst. Dieser Prozess wird durch die Ausdifferenzierung transnationaler Akteursnetzwerke (Bildungsforscher) und Institutionen (OECD, EU) vorangetrieben , die zunehmend symbolische Macht ausüben und nationale Akteure (Philologenverbände ) und Institutionen (Kultusministerien, Schulämter) aus der herrschenden Position drängen . Erleichtert wird diese tiefgreifende Transformation dadurch, dass sie auf dem Weg einer self-ful-filling prophecy genau diejenigen Legitimations-, Erwartungs-, Sozialisation- und Governance -Strukturen erzeugt, auf die sie angewiesen ist. Für eine möglicherweise sehr lange Übergangszeit entsteht ein hybrides Bildungssystem, das weder die alten noch die neuen Ziele erreicht. Die Veränderungen vollziehen sich in den Bahnen des nationalen Entwicklungspfades. Diese hybride Form der weltkulturell induzierten Modernisierung hat jedoch insbesondere in Deutschland ein Schul- und Hochschulsystem hervorgebracht , das von massiven Widersprüchen gelähmt wird.“30 3.3. Kritik an fehlender Praxisorientierung Ein von Anfang an von Lehrkräften und anderen in der Bildungspraxis engagierten Personen kritisierter Umstand ist die Tatsache, dass die PISA-Untersuchungen keine Handlungsanweisungen und Antworten auf praxisorientierte Fragestellungen bieten würden. Für die Einordnung dieser Kritik ist jedoch zu berücksichtigen, dass solche Handlungsanweisungen auf Einzelschulebene nicht Ziel der PISA-Studien waren. Die Leistungsfähigkeit der PISA- Untersuchungen auf Systemebene wird daher von dieser Kritik nicht berührt. Aus der Perspektive der Kritiker habe sich die Hoffnung, dass Schulen selbstständig und flächendeckend datengestützte Entwicklungskreisläufe implementieren, weitestgehend nicht erfüllt. Dies beträfe auch schulinterne Lernstandserhebungen. die von vielen Lehrkräften im Verein mit den Lehrerverbänden vehement abgelehnt und in den Schulen schon gar nicht sachadäquat genutzt würden. Eine weitere Möglichkeit, die schulische Praxis zu verbessern, bietet das Instrument der Evaluation . In seinem Beitrag aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „Viel bewegt, aber was wurde gewonnen ?“ zieht der Autor Ulrich Heinemann eine eher negative Bilanz.31 „Selbstevaluation ist an deutschen Schulen nach wie vor ein Fremdwort und die Fremdevaluation , also Inspektion bzw. Qualitätsanalyse, wird längst systemgerecht adaptiert, ist mithin für weitergehende schulische Veränderungen ohne rechte Wirkung. Dagegen sind das Unterlaufen 30 Ebenda: S. 30f. 31 Heinemann, Ulrich (2016), Viel bewegt, aber was wurde gewonnen? Aus: Bonsen, Martin; Priebe, Botho (2016). PISA – Folgen und Fragen. Anstöße zur Qualitätsentwicklung im Bildungssystem. Klett/Kallmeyer 2016. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 17 der Reform oder die Reform-Camouflage dominante Entwicklungszüge in der Realität der Einzelschulen . Das reicht vom ´Nichtstun` bzw. ´So-tun-als-ob` über das ´Alles-beim-Alten-lassen` bis zur ´kalkulierten Anpassung`, etwa durch empirisch-beobachtbare Auslagerung von Förderangeboten in den außerunterrichtlichen Bereich“.32 „Das Gros der Lehrerschaft zeigt sich in diesem Zusammenhang so gar nicht Reform-aufgeschlossen und verteidigt hartnäckig sein traditionelles pädagogisches Einzelkämpfertum gegen die als Zumutung empfundene Aufforderung zur Teambildung in der ´lernenden Organisation` Schule. Standard und Kompetenz, sowie Output und Wirkungsorientierung werden als Angriff auf die pädagogische Freiheit empfunden. (…) Die meisten Lehrkräfte, vor allem die älteren, treffen sich hier mit den Überzeugungen eines Großteils der Elternschaft, der keine neue Schulreform will und nach wie vor die traditionellen Erziehungs- und Bildungswerte schätze. Starke Unterstützung findet diese Haltung bei den Lehrerverbänden, die sich gegen zu viel Kontrolle und Wettbewerb wehren und die Politik mahnen, die Schulen nicht mit einer neuen Aufgabe nach der nächsten zu überziehen.“33 3.4. Kritik an der Gesamtschule – Chancengleichheit versus Chancengerechtigkeit In den 1970er Jahren entstand eine lebhafte bildungspolitische Diskussion über die Einführung von Gesamtschulen. Befürworter waren die SPD-geführten Bundesländer, die sich mit der Einführung von Gesamtschulen mehr Chancengleichheit versprachen. Das konservativ-liberale Lager aus CDU und FDP sprach sich unter dem Motto der Chancengerechtigkeit für den Erhalt des dreigliedrigen Schulsystems aus. Bereits aus den ersten PISA-Untersuchungen wurde abgeleitet, dass die Gesamtschulen ihren Anspruch auf mehr Chancengerechtigkeit, bessere Förderungsbedingungen u. ä. nicht erreicht hätten . Dies führte zwischen Befürwortern und Gegner erneut zu einer heftigen Debatte um die Beurteilung über den Stellenwert und die Konzeption von Gesamtschulen als Alternative zum herkömmlichen dreigliedrigem Schulsystem. Bemerkenswert an dieser Diskussion war jedoch, dass sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Gesamtschulen ihre Argumente aus den beiden genannten PISA-Studien ableiteten.34 Die damalige Auseinandersetzung um das Thema Gesamtschule ist inzwischen einer nüchternen Blickweise gewichen. Durch den zwischenzeitlichen Rückgang der Schülerzahlen und die Tatsache , dass die Gesamtschule in der Regel als Ganztagsschule konzipiert ist, haben sich die Positionen der oben genannten Parteien insofern angenähert, dass zur Verbesserung der schulischen Bildung in Deutschland die Ganztagsbeschulung für alle Schularten Vorteile bietet und entsprechend auf alle Schulen erweitert werden soll. 32 Ebenda: S. 44. 33 Ebenda: S. 44f. Die Behauptungen zu der Häufigkeit der zitierten Auffassungen von Lehrern und Eltern werden soweit ersichtlich nicht durch empirische Daten belegt. 34 Vergleiche dazu: Kahl, Kerstan, Spiewak (2005). Gesamtschule: Pisa gegen Pisa. In: Zeit online vom 17. Februar 2005. https://www.zeit.de/2005/08/C-Interview Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 131/19 Seite 18 Im Jahr 2002 nahmen rund 10 Prozent aller Schülerinnen und Schüler ein Ganztagsangebot in Anspruch, 2016 waren es bereits 42,5 Prozent.35 *** 4. Weiterführende Literatur Klieme, Eckhard; u.a. (2010). PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster, New York, München Berlin 2010. Köller, Olaf; u.a. (2016). 15 Jahre PISA. Ergebnisse und Perspektiven. Schulmanagement-Handbuch Band 157. 35 Jahrgang, März 2016. 35 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland KMK (2018). Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland. - Statistik 2012 bis 2016 -. Berlin, 21.03.2018, S. 12. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen /GTS_2016_Bericht.pdf