Deutscher Bundestag Zur Berechnung negativer Stimmgewichte Methodik und Ergebnisse der Prüfung aktueller Wahlrechtsmodelle Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 8 – 3000 – 127/2011 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 2 Zur Berechnung negativer Stimmgewichte Methodik und Ergebnisse der Prüfung aktueller Wahlrechtsmodelle Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 8 – 3000 – 127/2011 Abschluss der Arbeit: 28./30. September 2011 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Wahlrechtsreform: Aktueller Stand 4 1.1. Auftrag und Inhalt der folgenden Darstellung 4 2. Hintergrund: Zur Reststimmenverwertung 6 2.1. Fassung gemäß Drs. 17/6290 vom 28.06.2011 6 2.2. Neufassung gemäß BT-Drs. 17/7069 vom 22.09.2011 7 2.3. Bedeutung der Änderung für die Sitzverteilung 8 2.3.1. Wahljahr 2009 8 2.3.2. Wahljahr 2005 9 3. Zur Methodik der Berechnung negativer Stimmgewichte 10 3.1. Was suchen? Definitionen von negativem Stimmgewicht (NStG) 10 3.1.1. Absolutes NStG 10 3.1.1.1. Absolutes NStG „erster Ordnung“ – Wirkung auf die Partei selbst 10 3.1.1.2. Absolutes NStG „zweiter Ordnung“ – Wirkung auf andere Partei 11 3.1.1.3. Effekte höherer Ordnung und Mischformen von absolutem NStG 11 3.1.2. Relatives NStG 12 3.1.3. Einzel-Fazit: Welche Definition ist die „richtige“? 13 3.2. Wie und wo suchen? Vorgehensweise bei der Berechnung 14 3.2.1. Variation der Zweitstimmen, „ceteris paribus“ 14 3.2.2. Wählerzahlen als neue Einflussgröße: konstant oder variabel? 15 3.3. Wie intensiv suchen? 17 3.3.1. Parameter Intervallbreite 17 3.3.2. Parameter Schrittweite 17 3.4. Wie über die Suche berichten? 18 3.4.1. Kriterium: Anzahl negativer Sprungstellen 18 3.4.2. Kriterium: Anzahl betroffener Landesverbände 18 3.4.3. Kriterium: Anzahl betroffener Wähler 19 3.4.4. Einzel-Fazit: Berichtskriterien 19 3.5. Zwischen-Fazit: Suchmethoden 20 4. Ergebnisse der Berechnungen: Wahljahr 2009 20 5. Gesamt-Fazit 22 6. Anhang: Dokumentation weiterer Daten 23 6.1. NStG-Anzahlen für frühere Bundestagswahlen 23 7. Quellen und Literatur 26 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 4 1. Wahlrechtsreform: Aktueller Stand Das Bundesverfassungsgericht hat am 3.7.2008 für Recht erkannt, dass das bisher geltende Bundeswahlgesetz (BWahlG) punktuell gegen die Verfassung verstößt. Die Entscheidungsformel lautete 1: – „1. § 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes in der Fassung des Siebzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 11. März 2005 (Bundesgesetzblatt I Seite 674) verletzt Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann. – 2. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, spätestens bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen. – …“ In den gut drei Jahren, die seit dem Urteil vergangen sind, haben die Fraktionen im Deutschen Bundestag insgesamt fünf Gesetzentwürfe zur Lösung dieses Problems der sogenannten „negativen Stimmgewichte2“ vorgelegt: Bündnis 90 / Die Grünen im Februar 2009 (BT-Drs. 16/11885), Bündnis 90 / Die Grünen erneut im Februar 2011 (BT-Drs. 17/4694), die SPD im Mai 2011 (BT- Drs. 17/5895), die Linke ebenfalls im Mai 2011 (BT-Drs. 17/5896) sowie die Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und FDP in einem gemeinsamen Entwurf Ende Juni 2011 (BT-Drs. 17/6290). In der ersten Beratung des Koalitionsentwurfs im Zuge der Plenarsitzung des Bundestages am 30.06.2011 wurde die Materie zur weiteren Behandlung federführend an den Innenausschuss überwiesen. Dieser hielt am 5.9.2011 eine öffentliche Anhörung3 zur Wahlrechtsreform ab. Die Meinungen der 8 (bzw. 7) geladenen Experten (Juristen, Mathematiker, Politikwissenschaftler) zu allen Entwürfen divergierten stark. Kritik am Koalitionsentwurf entzündete sich u.a. am vorgeschlagenen § 6 Abs. 2a BWahlG, mit dem eine neuartige Reststimmenverwertung eingeführt wird; der mathematische Mechanismus wie auch die verbale Formulierung dieser Reststimmenverwertung wurden von der Mehrheit der Experten als wenig überzeugend bewertet. Zur Sitzung des Innenausschusses am 21.09.2011 legten die Vertreter der Koalition im Ausschuss daraufhin einen Änderungsantrag vor, mit dem dieser Absatz umformuliert und in einem Detail des Zuteilungsmechanismus ‘ auch inhaltlich neu ausgerichtet wird. Der Innenausschuss beschloss daraufhin am 21.09.2011 mit der Mehrheit der Koalition, den so geänderten Gesetzentwurf dem Plenum des Bundestages zur Annahme zu empfehlen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht auf BT-Drs. 17/7069). 1.1. Auftrag und Inhalt der folgenden Darstellung Im Folgenden soll untersucht werden, welche Folgen für die Sitzverteilung sich aus mathematischer Sicht ergeben, wenn der Gesetzentwurf der Koalition vom 28.06.2011 inklusive der Änderung vom 21.09.2011 bei Bundestagswahlen zur Anwendung kommt. Von Interesse sind dabei 1 Vgl. http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/cs20080703_2bvc000107.html [28.09.2011]. 2 Im Folgenden abgekürzt als „NStG“. Die in Teilen der Fachwelt in jüngerer Zeit eingebürgerte Abkürzung „NSG“ wird hier nicht verwendet, um Verwechslungen (z.B. mit „Naturschutzgebieten“) zu vermeiden. 3 Vgl. http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a04/Anhoerungen/Anhoerung11/index.html bzw. http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a04/Anhoerungen/Anhoerung11/Protokoll.pdf [28.09.2011]. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 5 die Auswirkungen auf die Sitzverteilung und insbesondere die Frage, ob es in diesem Szenario weiterhin zu verbleibenden negativen Stimmgewichten kommen kann oder nicht. Die Untersuchung baut auf zahlreiche Vorarbeiten auf. Insbesondere ist sie in einem Zusammenhang mit den früheren Ausarbeitungen WD 8 - 3000 - 067/2011 sowie WD 8 - 3000 - 105/2011 zu sehen. Erstere (mit Datum vom April 2011) diskutierte einige Grundzüge des späteren Koalitionsmodells , wie sie Vorab-Meldungen der Presse ab dem 8.4.2011 zu entnehmen waren. Den konkreten Inhalt des Gesetzentwurfs der Koalition vom 28.06.2011 konnte hingegen erst die zweite Ausarbeitung (mit Datum vom August 2011) berücksichtigen – auch hier allerdings noch ohne Kenntnis des Änderungsantrags vom 21.09.2011. Ein Fokus der folgenden Darstellung wird daher auf den Auswirkungen dieses Änderungsantrags liegen. Zur Bearbeitung der komplexen Fragestellung stand wegen des weiteren parlamentarischen Terminkalenders nur eine sehr knappe Frist von kaum einer Woche zur Verfügung. Zwar reichte die Frist aus, um den Inhalt des o.g. Änderungsantrags in Berechnungsprogramme umzusetzen, die Berechnungen durchzuführen und die Ergebnisse darzustellen. Nicht ausreichend war die Frist jedoch für die eigentlich notwendige mehrfache und sehr sorgfältige Überprüfung aller Ergebnisse . Idealerweise sollten komplexe Berechnungen der hier vorzustellenden Art zudem von mehreren Autoren unabhängig durchgeführt werden; erst wenn die Ergebnisse im Detail übereinstimmen , können die Berechnungen als erhärtet gelten und von ihrer Korrektheit ausgegangen werden. Ein solcher Vergleich scheitert hier bereits daran, dass bisher nirgendwo eine zweite Berechnung zu derselben Fragestellung verfügbar zu sein scheint. In diesem Sinne sollten alle im Folgenden darzustellenden Ergebnisse als vorläufig interpretiert werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 6 2. Hintergrund: Zur Reststimmenverwertung 2.1. Fassung gemäß Drs. 17/6290 vom 28.06.2011 Mit dem Gesetzentwurf auf BT-Drs. 17/6290 soll u.a. ein neuer Mechanismus in § 6 Abs. 2a des Bundeswahlgesetzes eingeführt werden, der eine sogenannte „Reststimmenverwertung“ zum Gegenstand hat. Deren Zielsetzung wird vor dem Hintergrund der weiteren Änderungen verständlich , die mit demselben Gesetzentwurf eingeführt werden: Statt wie bisher zunächst auf Parteien, dann parteiintern auf Landesverbände („Partei-vor-Land“) soll die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag zukünftig zunächst auf die einzelnen Bundesländer, dann landesintern auf die verschiedenen Parteilisten verteilt werden („Land-vor-Partei“). Zudem wird die Bemessungsgröße für die Verteilung im neuen ersten Schritt von der bisher verwendeten Zahl der zuteilungsberechtigten Zweitstimmen auf die Zahl der Wähler pro Bundesland umgestellt (vgl. 2011b). Bliebe es allein bei diesen zwei Änderungen, dann könnte ein potenzielles Problem für besonders kleine Landesverbände resultieren: Soweit diese nicht mindestens einen Sitz aus eigener Kraft erringen, könnten Zweitstimmen für diese Landesverbände insofern als prinzipiell „verloren “ betrachtet werden, als sie – im Unterschied zum bisherigen Wahlrecht – auch in keinem anderen Bundesland mehr Wirkung für dieselbe Partei mehr entfalten könnten, sondern im Zweifel allenfalls einer anderen Partei in demselben Bundesland zu einem Sitzgewinn verhelfen könnten . Um dies zu verhindern, führt der Gesetzentwurf eine neuartige Verwertung solcher „Reststimmen “ ein, die pro Partei in allen Bundesländern festgestellt, auf Bundesebene aggregiert und dann in zusätzliche Sitze4 umgerechnet werden. Ein interessanter Aspekt ist das Verhältnis dieser neu geschaffenen Reststimmenmandate zu den Überhangmandaten, die wie im bisherigen Wahlrecht auch weiterhin dann entstehen können, wenn die Kandidaten eines Landesverbandes mehr Direktmandate gewinnen, als diesem Landesverband „eigentlich“ als Gesamtsitzzahl nach der Proporzrechnung zusteht. Die Anzahl dieser Überhänge pro Landesverband kann als Gedankenexperiment auch ohne Berücksichtigung der Reststimmenmandate (bzw. vor deren Zuteilung) berechnet werden. Wird die Reststimmenverwertung danach in Gedanken doch durchgeführt, dann kann es vorkommen, dass Reststimmenmandate auf Überhangmandate desselben Landesverbandes treffen. In diesem Fall hat die Vergabe des Reststimmenmandats nicht zur Folge, dass ein zusätzlicher Kandidat der Partei ins Parlament kommt. Vielmehr wird das Reststimmenmandat mit dem Überhangmandat in der Weise verrechnet, dass der Überhang „proportionalisiert“ bzw. mit Zweitstimmen/Reststimmen unterfüttert wird; das Überhangmandat „erstarkt“ so zu einem regulären Mandat. In diesen Fällen hat die Vergabe oder Nicht-Vergabe eines Reststimmenmandats für die Partei unmittelbar nach der Wahl keine spürbare Konsequenz. Ein Unterschied kann sich aber im weiteren Verlauf der Wahlperiode insofern ergeben, als beim vorzeitigen Ausscheiden eines Abgeordneten aus dem 4 Bisher hat sich keine einheitliche Bezeichnung für diese neuartigen Mandate durchgesetzt. Der Gesetzentwurf spricht unspezifisch von „weiteren Sitzen“, die Opposition von „Überlaufmandaten“, und einige der in die Anhörung vom 5.9.2011 berufenen Sachverständigen von „Erfolgswertmandaten“. Im Folgenden soll keine dieser Bezeichnungen übernommen, sondern alternativ der Begriff „Reststimmenmandate“ (RSM) eingeführt werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 7 Bundestag gemäß einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein durch Zweitstimmen gedecktes Mandat nachbesetzt werden darf, ein überhängendes hingegen nicht5. Dieser Verrechnungs-Mechanismus wurde mit dem Gesetzentwurf vom 28.06.2011 implizit eingeführt . Er hat zur Folge, dass die Anzahl der Überhangmandate gemäß dem Reformmodell tendenziell leicht geringer ausfällt als im geltenden Wahlrecht. Die Reduktion bleibt allerdings deshalb zunächst geringfügig, weil den statistischen Zufällen der Reststimmenzahlen überlassen bleibt, ob Reststimmenmandate an überhängende oder nicht-überhängende Landesverbände vergeben wurden. Im Umfeld der Anhörung am 05.09.2011 wurden mehrere konkurrierende Vorschläge gemacht, wie dies weiter optimiert werden könnte – auch im Hinblick auf den Beitrag der ursprünglichen Reststimmenverwertung zum Fortbestehen von negativen Stimmgewichten, der als nicht vernachlässigbar eingeschätzt wurde (vgl. 2011b). Grzeszick (2011) regte in seiner Stellungnahme einerseits an, die Verrechnung zu unterbinden, so dass Reststimmenmandate selbst im Falle von überhängenden Landesverbänden mit zusätzlichen Kandidaten besetzt werden könnten . Dadurch würde die Zahl der Überhangmandate im Reformmodell absehbar wieder angehoben , etwa auf das Niveau des bisher geltenden Wahlrechts. Andererseits wurde auch vorgeschlagen , die Verrechnung systematisch herbeizuführen, indem Reststimmenmandate parteiintern bevorzugt an überhängende Landesverbände vergeben und dort wo immer möglich mit Überhängen verrechnet würden. Auf die Anzahl der nach Reststimmenverwertung verbleibenden Überhänge hätte dies absehbar den gegenteiligen Effekt, nämlich eine leichte weitere Reduktion der Mandatszahl . Interessanterweise wurden die beiden gegenläufigen Vorschläge6 gleichermaßen damit begründet, dass sie zu einer weiteren Reduktion negativer Stimmgewichte beitragen könnten (vgl. Grzeszick 2011). 2.2. Neufassung gemäß BT-Drs. 17/7069 vom 22.09.2011 Die Änderung vom 21. September 2011 entscheidet sich vor diesem Hintergrund dafür, der zweiten Variante zu folgen und Reststimmenmandate bevorzugt an überhängende Landesverbände zu vergeben, zumindest solange die jeweilige Partei bundesweit noch in wenigstens einem Land Überhänge aufweist. Erst wenn alle Überhänge der Partei auf diese Weise mit Zweitstimmen unterfüttert und dann immer noch Reststimmenmandate zu vergeben sind, kommen auch die anfänglich nicht überhängenden Landesverbände der Partei zum Zuge – dann (und erst dann) in der Reihenfolge ihrer Reststimmenzahlen. Innerhalb der Gruppe der anfänglich überhängenden 5 Gemäß Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 26. Februar 1998, vgl. http://www.bundesverfassungsgericht .de/entscheidungen/cs19980226_2bvc002896.html [28.09.2011]. 6 Eine dritte Variante wäre nicht weit entfernt: So könnten Überhänge festgestellt und in die Rechnung einbezogen werden, bevor Reststimmen bilanziert und in zusätzliche Sitze umgerechnet werden. Ein Vorteil dieser Variante läge darin, dass das offizielle Ziel der Reststimmenverwertung gemäß der Begründung des Entwurfs 17/6290 – nämlich die Angleichung der Erfolgswerte – noch vollständiger erreicht werden könnte. Eine solche Lösung würde etwas stärker in Richtung von Ausgleichsmodellen (vgl. BT-Drs. 17/5895) weisen, was hier jedoch nicht weiter diskutiert werden soll. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 8 Landesverbände hingegen richtet sich die Vergabereihenfolge nach der höchsten (wohl: jeweils aktuell noch verbleibenden) Überhang-Zahl7. 2.3. Bedeutung der Änderung für die Sitzverteilung Die praktische Bedeutung der Änderung lässt sich beispielhaft anhand der Wahlergebnisse der Jahre 2009 und 2005 illustrieren: 2.3.1. Wahljahr 2009 Bei der Bundestagswahl 2009 gab es nach der seit 2008 geltenden Fassung des bisherigen Wahlsystems (d.h. mit dem Verfahren von Sainte-Laguë/Schepers) 598 reguläre Mandate und 24 Überhangmandate , davon 21 für die CDU und 3 für die CSU. Nach dem neuen System gemäß BT-Drs. 17/6920, aber noch ohne jegliche Reststimmenverwertung, hätte es ebenfalls zunächst 598 reguläre Sitze, aber 25 Überhangmandate gegeben, und zwar 22 für die CDU (eines weniger in Baden- Württemberg, dafür je eines mehr im Saarland und in Schleswig-Holstein), zwei für die CSU, und eines für die SPD (in Bremen). Die Reststimmenverwertung in der ersten Fassung (BT-Drs. 17/6290 vom Juni 2011) fügt den 596 anfänglichen Mandaten zunächst 8 Reststimmenmandate hinzu, so dass insgesamt 608 Sitze nach Zweitstimmen vergeben werden. Von den 8 RSM geht – ohne weiteres Zutun und ohne spezifische Lenkung - je eines an die SPD Bremen, die CDU Schleswig-Holstein und die CDU Saarland, wo sie jeweils auf ein Überhangmandat treffen und dieses mit Zweitstimmen unterfüttern. Alle weiteren RSM gehen an Landesverbände von Parteien, die ohnehin bundesweit keine Überhänge 7 Dies ist in einzelnen Punkten der Beschlussempfehlung auf BT-Drs. 17/7069 nicht in völliger Eindeutigkeit zu entnehmen, wird jedoch in der Gesamtschau mit deren Begründung überwiegend deutlich: Zitat aus dem geänderten Gesetzentwurf (17/7069, S. 4): „Dabei werden Landeslisten, bei denen die Zahl der in den Wahlkreisen errungenen Sitze die Zahl der nach den Absätzen 2 und 3 zu verteilenden Sitze übersteigt, in der Reihenfolge der höchsten Zahlen und bis zu der Gesamtzahl der ihnen nach Absatz 5 verbleibenden Sitze vorrangig berücksichtigt.“ Zitat aus dessen Begründung (aus 17/7069, S. 6): „Bis zu der Gesamtzahl der auf die Landeslisten dieser Partei entfallenden Überhangmandate und in der Reihenfolge der höchsten bei deren Landeslisten angefallenen Zahlen an Überhangmandaten werden die nach Absatz 2a den Landeslisten dieser Partei zuzuteilenden weiteren Sitze zunächst den Landeslisten mit Überhangmandaten zugeteilt. Erst wenn den Listen, bei denen Überhangmandate angefallen sind, bis zu der Zahl der ihnen nach Absatz 5 verbleibenden Sitze weitere Sitze nach Absatz 2a zugeteilt wurden, werden also bei einer Partei mit Überhangmandaten auch den Landeslisten ohne Überhangmandate weitere Sitze nach Absatz 2a Satz 1 zugeteilt.“ Kleine verbleibende Mehrdeutigkeiten in Details können hier nicht abschließend ausgeräumt werden: So hätte 2009 der CDU-Landesverband Baden-Württemberg zunächst 9 Überhangmandate gehabt, die CDU-Sachsen 4. Gemäß der Änderung geht das erste Reststimmenmandat der CDU nach Baden-Württemberg. Ob das zweite aber nach Sachsen geht (weil dort anfänglich die zweithöchste Überhangzahl auftrat), oder erneut nach Baden-Württemberg (weil dort auch nach Vergabe des ersten RSM immer noch die höchste Überhangzahl vorliegt), scheint auf Grundlage des zitierten Textes nicht eindeutig entscheidbar. Konkrete Mandatsrelevanz in der Praxis hat diese Frage aber wohl allenfalls in speziellen Nachrück-Situationen. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 9 (mehr) aufweisen, so dass die Frage nach einer bevorzugten Vergabe an überhängende Landesverbände keine Relevanz mehr hat. Für die Sitzzuteilung auf Grundlage der tatsächlichen Wahlergebnisse des Jahres 2009 bewirkt die Änderung vom 21.09.2011 daher keinen messbaren Unterschied gegenüber dem Gesetzentwurf vom 28.06.2011. 2.3.2. Wahljahr 2005 Bei der Sitzzuteilung auf Grundlage der Wahlergebnisse des Jahres 2005 ergibt sich ein anderes Bild. Gemäß dem damals8 gültigen Bundeswahlgesetz fielen neben den 598 regulären Sitze 16 Überhangmandate an, davon 9 für die SPD (4 in Sachsen-Anhalt, 3 in Brandenburg, je 1 im Saarland und in Hamburg) sowie 7 für die CDU (4 in Sachsen, 3 in Baden-Württemberg; vgl. Limpert 2009). Die Gesamtgröße des 16. Deutschen Bundestages lag demnach bei 614 Sitzen. Nach dem neuen System gemäß BT-Drs. 17/6920, aber noch ohne jegliche Reststimmenverwertung , hätte – neben einigen Verschiebungen einzelner Sitze – die SPD ein Überhangmandat weniger gehabt (in Brandenburg), die CDU zwei weniger (je eines in Sachsen und Baden-Württemberg ). Die Gesamtgröße des 16. Deutschen Bundestages hätte in einem solchen System inklusive der 13 Überhangmandate also bei 611 Sitzen gelegen. Durch Hinzunahme der Reststimmenverwertung in der ersten Fassung (vom 28.06.2011) kommen vor Feststellung der Überhänge zunächst 11 Reststimmenmandate hinzu, so dass die Gesamtzahl der nach Zweitstimmen vergebenen Mandate nun 609 beträgt. Die 11 RSM verteilen sich auf alle Parteien außer der CSU, nämlich CDU (3), FDP (3), Grüne (2), Linke (2) und SPD (1). Parteiintern geht keines dieser Reststimmenmandate an einen Landesverband mit Überhangmandaten, daher bleibt deren Zahl trotz Reststimmenverwertung konstant (13). Die Gesamtgröße des 16. Deutschen Bundestages hätte nach BT-Drs. 17/6290 daher bei 622 Sitzen gelegen. Die geänderte Reststimmenverwertung in der zweiten Fassung (vom 21.09.2011) führt hier zu einem andere Ergebnis: Die 3 Reststimmenmandate der CDU sowie das eine der SPD gehen sämtlich an zuvor überhängende Landesverbände, so dass keines von ihnen mit einem zusätzlichen Kandidaten besetzt werden kann. Die Gesamtgröße des 16. Deutschen Bundestages hätte gemäß BT-Drs. 17/7069 demnach 4 Sitze niedriger, d.h. insgesamt 618 Mandate betragen. 8 Gleiches gilt nach der im Jahr 2008 novellierten Fassung des Bundeswahlgesetz – zwischen dem früher üblichen Verfahren von Hare/Niemeyer und dem 2008 eingeführten Verfahren von Sainte-Laguë/Schepers besteht in diesem Einzelfall kein Unterschied. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 10 3. Zur Methodik der Berechnung negativer Stimmgewichte In diesem Kapitel sollen die methodischen Grundlagen erarbeitet und transparent gemacht werden , die der Berechnung von negativen Stimmgewichten zugrunde liegen. Auch wenn manche Details zunächst eher technisch klingen mögen, so sind doch einige der in diesem Kapitel vorzunehmenden Weichenstellungen von ausschlaggebender politischer Relevanz: Es wird sich später herausstellen, dass die vergleichende Beurteilung verschiedener Lösungsmodelle für das negative Stimmgewicht in entscheidender Weise davon abhängt, welche genaue Definition des Problems und welche Vorgehensweise für die Berechnung gewählt werden. Deshalb wird den methodischen Fragen hier an zentraler Stelle der Untersuchung der notwendige Platz eingeräumt. 3.1. Was suchen? Definitionen von negativem Stimmgewicht (NStG) Die seit 2008 mit zunehmender Intensität geführte politische und wissenschaftliche Debatte um negative Stimmgewichte hat sich im Laufe des Jahres 2011 verstärkt ausdifferenziert. Dazu hat beigetragen, dass mehrere konkurrierende Definitionen dessen, was das eigentliche Problem darstellt bzw. was die Karlsruher Richter eigentlich moniert haben, in Umlauf gekommen sind. Diese Definitionen sollen hier in einer Gesamtschau einander gegenübergestellt werden. 3.1.1. Absolutes NStG Als „absolutes“ negatives Stimmgewicht wird eine Variante des Problems bezeichnet, bei der sich die absolute Sitz-Anzahl einer Partei gegenläufig zu deren Zweitstimmenzahl entwickeln kann. Das Gegenmodell wäre eine Variante, bei der das Augenmerk hauptsächlich auf dem relativen Sitz-Anteil einer Partei, also deren Sitzzahl im Verhältnis zur Gesamtgröße des Parlaments bzw. zu den Sitzzahlen aller anderen Parteien, liegt (siehe dazu Abschnitt 3.1.2). Soweit es jedoch zunächst um absolute Sitzzahlen und deren potenziell negative Korrelation mit den Stimmenzahlen bzw. Stimmenanteilen geht, sind noch einmal weitere Untervarianten zu unterscheiden : 3.1.1.1. Absolutes NStG „erster Ordnung“ – Wirkung auf die Partei selbst Absolutes NStG kann sich einerseits so auswirken, dass eine Partei mit mehr Zweitstimmen weniger Sitze bzw. mit weniger Zweitstimmen mehr Sitze errungen hätte. Dass bzw. wie dieser Effekt im bisher geltenden Bundestags-Wahlrecht auftritt, ist in der Literatur ausführlich dokumentiert worden und braucht hier nicht erneut erläutert zu werden (vgl. Lübbert 2010). Festzuhalten ist, dass bei dieser Spielart des Problems die Zweitstimmenzahl einer Partei (bzw. eines ihrer Landesverbände) mit der Sitzzahl derselben Partei negativ korreliert ist. Betroffen ist als eine einzige Partei, während die anderen sich dabei in einer Art Beobachterrolle befinden. Wegen der Beschränkung auf eine Partei sei der Effekt im Folgenden als negatives Stimmgewicht „erster Ordnung“ bezeichnet. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 11 3.1.1.2. Absolutes NStG „zweiter Ordnung“ – Wirkung auf andere Partei Ein ähnlicher, aber leicht unterschiedlicher Effekt betrifft zwei verschiedene Parteien gleichzeitig : Zwar nicht im bisher geltenden Wahlrecht, aber in manchen Reformmodellen kann es vorkommen , dass ein Zweitstimmengewinn einer Partei A dazu führen würde, dass eine andere Partei B Sitze hinzugewinnt. Ebenso kann unter Umständen ein Zweitstimmenverlust von Partei A zu einem Sitzverlust von Partei B führen. Unter normalen Umständen wäre zu erwarten, dass ein Stimmengewinn von A die Sitzzahl von B entweder unverändert lassen oder im Zweifel verringern, nicht aber anwachsen lassen sollte. Geschieht dies aber doch, so erscheint eine solche positive Fremd-Korrelation ebenso unerwartet wie die zuvor diskutierte negative Selbst-Korrelation. Weil in diesem Falle zwei verschiedene Parteien gleichzeitig von dem Phänomen betroffen sind, sei es im Folgenden als negatives Stimmgewicht „zweiter Ordnung“ bezeichnet. 3.1.1.3. Effekte höherer Ordnung und Mischformen von absolutem NStG In ähnlicher Weise ist es möglich, Effekte zu analysieren, die drei oder mehr Parteien gleichzeitig betreffen. Als Effekt „dritter Ordnung“ wäre etwa der Effekt zu bezeichnen, bei dem Stimmengewinne für Partei A dazu führen, dass Partei B einen Sitz an Partei C abgeben muss. Ebenso können Effekte vierter und höherer Ordnung betrachtet werden. Zwar mögen Einzelfälle solcher Effekte höherer Ordnung teils exotisch wirken, jedoch steigt gleichzeitig mit der Unwahrscheinlichkeit des Einzelfalls die Anzahl der möglichen Kombinationen parallel mit der Anzahl der betroffenen Parteien so an, dass das Vorliegen eines Effekts höherer Ordnung insgesamt keineswegs unwahrscheinlich erscheint. Vielmehr kann und sollte die Suche nach solchen Effekten höherer Ordnung durchaus in die numerische Analyse einbezogen werden. Von der politischen Bewertung her liegt es allerdings nahe anzunehmen, dass etwa der genannte Effekt dritter Ordnung kein negatives Stimmgewicht im engeren Sinne darstellt. Da der Wähler von Partei A mit seiner Stimme weder der eigenen Partei schadet noch der Gesamtheit der anderen Parteien nutzt (sondern nur einer dieser anderen, nämlich C, während er gleichzeitig Partei B schadet), wird das Phänomen wohl nicht als absolutes NStG zu charakterisieren sein. Vielmehr handelt es sich wohl „lediglich“ um einen sonstigen unerwarteten Effekt9 bzw. eine weitere Paradoxie des Wahlsystems (zu Paradoxien vgl. Nurmi 1999). Paradoxien sind zweifellos unschön, doch verletzen sie nicht notwendigerweise die Gleichheit der Wahl oder sonstige Verfassungsprinzipien . Aus diesem Grunde sollten Effekte dritter und höherer Ordnung im Folgenden nicht 9 Festzuhalten ist hier, dass das Bundestagswahlsystem seit der letzten Reform im Jahr 2008, bei der das Verfahren von Hare/Niemeyer zugunsten des Verfahrens von Sainte-Laguë/Schepers aufgegeben wurde, mit Ausnahme des absoluten negativen Stimmgewichts erster Ordnung weitestgehend frei von solchen Paradoxien war. Das Verfahren von Hare/Niemeyer ist bekannt dafür, dass es in zahlreichen Fällen Anlass zu Effekten dritter Ordnung der oben diskutierten Art (mehr Stimmen für A Sitzverschiebung von B zu C) führt, die in der wahlmathematischen Literatur als „Inkonsistenzen“ bezeichnet werden und vielfach analysiert wurden (vgl. Lübbert 2009b). Seit der Reform im Jahr 2008 war das Bundestagswahlsystem frei von solche Inkonsistenzen. Einige der Reformmodelle führen solche Inkonsistenzen in nicht vernachlässigbarer Zahl erneut ein. Dies sei hier als mathematische Tatsache allerdings nur am Rande erwähnt; ob der Befund von irgendeiner verfassungsrechtlichen Relevanz sein kann, möge dahingestellt bleiben. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 12 weiter analysiert werden, auch wenn eine solche Analyse mit nur geringem rechnerischen Mehraufwand möglich wäre. Zu beachten ist aber, dass es zwischen den Effekten verschiedener Ordnung auch zu Mischformen kommen kann. So ist es etwa denkbar, dass durch einen Stimmengewinn von Partei A gleichzeitig ein Sitzverlust von A und eine Sitzverschiebung von B nach C Eintritt (Mischung von erster und dritter Ordnung). Dies zu beachten ist dann wichtig, wenn bei einer numerischen Berechnung „das Mikroskop scharf gestellt“ und auf das jeweils gewünschte Objekt fokussiert wird: Beschränkt man die Aufmerksamkeit in der Folge hypothetischer Stimmengewinne für A einzig auf Fälle, in denen A einen Sitz verliert (und sich sonst gar nichts ändert), dann läuft die Berechnung Gefahr, die gemischten Fälle außer Acht zu lassen, die aber doch eindeutig auch negatives Stimmgewicht enthalten. 3.1.2. Relatives NStG Das Gegenmodell zum absoluten ist das relative negative Stimmgewicht: Hier wird die Betrachtung nicht auf die Sitzzahl, sondern auf den Sitzanteil einer Partei (im Verhältnis zur Gesamtgröße des Parlaments) konzentriert. Natürlich sind beide Betrachtungsweisen eng miteinander verbunden. Insbesondere kann bei fest vorgegebener Parlamentsgröße kein absolutes negatives Stimmgewicht erster Ordnung auftreten, ohne dass gleichzeitig relatives NStG auftritt. Zumindest in der seit 2008 geltenden Fassung des Bundeswahlgesetzes sind beide Effekte daher praktisch identisch. Unterschiede können jedoch einerseits dann auftreten, wenn die Hausgröße variabel wird. So bieten insbesondere Ausgleichsmodelle die Möglichkeit, dass absolutes NStG auftritt, ohne dass gleichzeitig relatives NStG zu beobachten wäre: Gewinnt etwa eine Partei durch Zweitstimmenverluste ein zusätzliches Überhangmandat, das dann aber durch eine entsprechende Anzahl zusätzlicher Ausgleichsmandate für andere Parteien ausgeglichen wird, so hat sich zwar die absolute Sitzzahl, nicht aber der relative Sitzanteil von Partei A gegenläufig zu ihrer Stimmenzahl entwickelt. Eine weitere Dimension der Unterscheidung betrifft die verschiedenen Ordnungen von absolutem NStG: Absolutes NStG erster Ordnung steht wie oben diskutiert in einer engen Beziehung zum relativen NStG. Gleiches gilt aber auch für die zweite Ordnung: Geht wegen Stimmengewinnen von A ein zusätzlicher Sitz an Partei B, dann reduziert sich dementsprechend auch der Sitzanteil von A – es liegt also gleichzeitig auch relatives NStG vor. Für den Effekt dritter Ordnung gilt dies nicht mehr: Verschiebt sich ein Sitz von B zu C, so bleibt der Sitzanteil von A dadurch unberührt; es liegt also kein relatives NStG vor. Zusammenfassend stellt das relative NStG also gewissermaßen eine Synthese der absoluten Effekte erster und zweiter Ordnung dar. Auch bei Mischformen fokussiert die relative Definition die Betrachtung automatisch auf solche Fälle, die zumindest einen Anteil von „einschlägigem“ absolutem NStG erster oder zweiter Ordnung enthalten, und trennt die wohl eher „harmlosen“ Fälle purer dritter und höherer Ordnung ohne weitere definitorische Handarbeit von selbst ab. Die relative Definition kann dadurch als ein sehr effektiver Filter wirken, dem möglicherweise das Verdienst zukommt, die verfassungsrechtliche Spreu vom Weizen zu trennen. Jedoch sollen hier nur die mathematischen Prinzipien offengelegt werden, ohne dass eine rechtliche Bewertung vorgenommen werden soll. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 13 3.1.3. Einzel-Fazit: Welche Definition ist die „richtige“? Angesichts der Vielzahl der möglichen Definitionen von negativem Stimmgewicht stellt sich unvermeidlich die Frage, welche davon die „richtige“ sei. Diese Frage kann hier nicht abschließend beantwortet werden; vielmehr sollen für die numerische Untersuchung in Kapitel 4 alle einschlägigen Definitionen parallel berücksichtigt werden, so dass es dem Leser möglich wird, sich selbst ein Urteil über die Bedeutung der Festlegung auf eine bestimmte Definition zu bilden. Einige Hinweise und Argumente für bzw. gegen die jeweiligen Definition seien hier dennoch aufgeführt : Im Urteil vom 03.07.2008 hat das Bundesverfassungsgericht als Leitsatz formuliert (mit fast identischen Wortlaut auch im Tenor des Urteils).: – „§ 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes verletzt die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann“. Auch wenn hier sprachlich nicht endgültig geklärt erscheint, ob es sich bei „den Landeslisten“ tatsächlich und ausschließlich um die Landeslisten derselben Partei handeln soll, so ist im Gesamtbild wohl doch davon auszugehen, dass die hier zitierte Formulierung primär auf das absolute NStG erster Ordnung abzielt. In der Begründung des Urteils finden sich jedoch auch Formulierungen , die eine weitergehende Absicht vermuten lassen. So formuliert das Gericht (s. Randnummer 103): – „Ein Wahlsystem, das darauf ausgelegt ist oder doch jedenfalls in typischen Konstellationen zulässt, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt oder dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen , führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen“. Dieser Absatz zielt, begleitend zur ersten Ordnung, relativ eindeutig auch in Richtung des absoluten Effekts zweiter Ordnung. Unter Staatsrechtlern war im Umfeld der Anhörung vom 05.09.2011 eine Auseinandersetzung zu beobachten, ob den Formulierungen in der Urteilsbegründung eine andere rechtliche Qualität bzw. Bindungskraft zuzuschreiben sei als denen im Tenor des Urteils. Diese Frage soll hier nicht vertieft werden; festgehalten werden soll lediglich, dass das Gericht offenbar bereits im Jahr 2008 sowohl die erste als auch die zweite Ordnung des absoluten Effekts im Blick hatte. Dies gilt nicht in gleicher Weise für den relativen Effekt. Jedenfalls sind dem Urteilstext keine Hinweise darauf zu entnehmen, dass das Gericht etwa eine Unterscheidung zwischen Entwicklungen bei der Sitzzahl und dem Sitzanteil einer Partei getroffen hätte. Dies ist insofern nicht verwunderlich , als sich in der zum Zeitpunkt des Urteils geltenden Fassung des Bundeswahlgesetzes rein mathematisch kein Unterschied zwischen dem absoluten und relativen NStG einstellen konnte. Insoweit beide Effeckt damals untrennbar miteinander verknüpft waren, hätte eine Unterscheidung durch das Gericht wohl künstlich gewirkt. In einigen der nach dem Urteil entwickelten Reformmodelle entwickeln sich beide Effekte jedoch auseinander. Insofern wäre es aus heutiger Sicht zumindest denkbar, dass eine Unterscheidung nachträglich auch aus rechtlicher Perspektive zu treffen wäre. Jedenfalls erscheint die fehlende Erwähnung von Sitzanteils-Argumenten im Urteil nicht mehr notwendigerweise als gerichtliche Absage an die relative NStG-Definition . Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 14 In der Sache wäre bei einer zukünftig zu treffenden rechtlichen Unterscheidung wohl Folgendes zu bedenken: Aus der Perspektive einer Partei, ihrer einzelnen Landesverbände bzw. ihrer Kandidaten , denen wohl ein bestimmtes Interesse an Sitzen – und damit politischen Betätigungsperspektiven – für einzelne Personen und Wahlbewerber unterstellt werden kann, wenn mehr Stimmenerfolg zu weniger Sitzen führen kann. Das Interesse von Parteien und Kandidaten dürfte daher mit darauf gerichtet sein, den Effekt des absoluten negativen Stimmgewichts nach Möglichkeit zu vermeiden. Aus der Sicht von Wählern mag es anders aussehen: Diesen kann man wohl unterstellen, dass sie in vielen Fällen nicht einzelne Personen ins Parlament bringen, sondern mit ihrer Stimmabgabe primär die Mehrheitsverhältnisse beeinflussen und/oder ihrer bevorzugten Partei oder Koalition die Regierungsbildung ermöglichen wollen. Dies gilt umso mehr, als im deutschen Wahlsystem bekanntlich die Erststimme der Personenwahl gewidmet ist, während die Zweitstimme – als „maßgebende Stimme für die Verteilung der Sitze insgesamt auf die einzelnen Parteien“ gemäß offiziellem Stimmzettel-Aufdruck – der Bestimmung der Sitzverhältnisse im Parlament dient. Bei der Diskussion um negative Stimmgewichte geht es ausschließlich um das Gewicht der Zweitstimmen , daher erscheint es legitim, diese Diskussion auf die Sitzanteile der Parteien und damit auf die relative Definition des negativen Stimmgewichts auszurichten. In dieser Frage ist jedoch bisher kein Konsens in Wissenschaft wie Politik zu beobachten. Vielmehr scheint es sich abzuzeichnen, dass die Frage nach der angemessensten Detail-Definition des NStG-Problems erst durch erneuten Richterspruch abschließend geklärt werden kann. Konsens dürfte heute lediglich dahingehend bestehen, dass es begrüßenswert scheint, wenn ein Reformmodell alle Spielarten des negativen Stimmgewichts gleichzeitig abschaffen würde. 3.2. Wie und wo suchen? Vorgehensweise bei der Berechnung 3.2.1. Variation der Zweitstimmen, „ceteris paribus“ Üblich und in der Fachwelt breit etabliert ist ein Vorgehen, bei dem zur Analyse negativer Stimmgewichte die Zweitstimmenzahlen einzelner Landesverbände nacheinander variiert werden . Dabei werden jeweils die anderen Einflussgrößen – also insbesondere die Ergebnisse der Wahl nach Erststimmen (d.h. die Direktmandatszahlen), aber auch die Zweitstimmenzahlen jeweils aller anderen Landesverbände – konstant gehalten. Dieses Vorgehen scheint auch durch den Wortlaut des Urteils gedeckt, in dem ja formuliert wurde: – „§ 7 Absatz 3 Satz 2 in Verbindung mit § 6 Absätze 4 und 5 des Bundeswahlgesetzes verletzt die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl, soweit hierdurch ermöglicht wird, dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann“. Da hier explizit nur die Zweitstimmen als variable Größe benannt wurden, darf man annehmen, dass die anderen Einflussgrößen in der Analyse konstant gehalten werden sollen. So (und nur so) erscheint es methodisch möglich, den Einfluss bzw. des Gewicht der einzelnen (Zweit-)Stimme auf das Ergebnis der Sitzzuteilung zu isolieren; würden mehrere Größen gleichzeitig variiert, könnte der kausale Beitrag jeder einzelnen kaum noch treffsicher erkannt werden. Im bisher geltenden Wahlrecht hing das Ergebnis der Sitzzuteilung allein von zwei Größen ab: der Anzahl der pro Landesverband errungenen Direktmandate und der entsprechenden Anzahl an Zweitstimmen. Andere Größen – wie etwa die Wahlbeteiligung, oder etwa die genaue Zahl an Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 15 Erststimmen, mit der ein Bewerber in einem Wahlkreis die Mehrheit errang – hatten keinerlei messbaren Einfluss auf das Ergebnis und brauchten daher nicht betrachtet zu werden. Das insoweit etablierte Analyse-Verfahren beschränkt sich also auf die tatsächlich relevanten Einflussgrößen und versucht zudem, diese jeweils einzeln und separat voneinander zu betrachten , um ihren kausalen Einfluss zu isolieren und so das Gewicht einzelner Stimmen zu identifizieren . Behnke (2011) spricht in diesem Zusammenhang von „ceteris-paribus-Simulationen“; der in der Ökonomie und anderen Wissenschaften übliche Begriff „ceteris paribus“ bezeichnet dabei Szenarien, in denen „alles andere“ konstant gehalten und nur eine einzelne Größe variiert wird. 3.2.2. Wählerzahlen als neue Einflussgröße: konstant oder variabel? Die neue Herausforderung, vor der die Analyse angesichts des Koalitionsmodells steht, liegt darin , dass hier eine dritte Größe zusätzlichen Einfluss auf das Ergebnis der Sitzverteilung erhält: die Wahlbeteiligung bzw. die Anzahl der Wähler pro Bundesland. Die erste Stufe der Verteilung, nämlich die neue Oberverteilung zur Festlegung der Sitzkontingente für die Bundesländer, richtet sich bekanntlich nach der Zahl der im einzelnen Bundesland insgesamt abgegebenen Wahlzettel – also nicht (wie bisher im Ergebnis) nur nach der Zahl der zuteilungsberechtigte Zweitstimmen , sondern nun auch der Zweitstimmen für unter-5%-Parteien, der ungültigen Zweitstimmen und der Stimmzettel, die gar keine Zweitstimmenabgabe enthalten. Zu entscheiden ist daher, wie diese dritte Größe in der Simulation zu behandeln ist: Soll sie konstant gehalten werden, während die Zweitstimmenzahlen der zuteilungsberechtigten Parteien nacheinander variiert werden – wie bisher schon die Direktmandatszahlen? Oder sollen die Wählerzahlen parallel mit den Zweitstimmenzahlen für die Berechnung erhöht und erniedrigt werden – weil etwa zusätzliche Zweitstimmen für zuteilungsberechtigte Parteien eben auch zusätzlichen Zweitstimmen insgesamt bedeuten? Die Frage scheint hier nicht eindeutig entscheidbar. Dem Urteilstext ist in dieser Frage keine Hilfestellung zu entnehmen, was nicht weiter verwundert, da die Frage in Kontext des zum Zeitpunkt des Urteils geltenden Wahlrechts keinerlei Relevanz hatte. Es ist daher wohl davon auszugehen , dass die Richter damals keinen Anlass hatten, über eine Frage dieser Art nachzudenken. Heute jedoch stellt sie sich insofern mit großer Dringlichkeit, als sich später herausstellen wird, dass die im Koalitionsmodell zu verzeichnenden NStG-Fallzahlen in ausschlaggebender Weise von der Beantwortung dieser Frage abhängen. Statt einer Entscheidung in der Sache sollen hier nur einige weitere Argumente genannt werden, die für die eine oder andere Antwort auf die gestellte Frage sprechen könnten. Für ein Konstanthalten der Wählerzahlen bzw. gegen ein Ko-Variation von Wählerzahlen und Zweitstimmen könnte sprechen, dass zusätzliche Wähler vermutlich nicht nur eine zusätzliche Zweitstimme, sondern auch eine zusätzliche Erststimme abgegeben hätten. Vor allem aber müssten der Wahl insgesamt fern bleibende Wähler zwingend auch auf ihre Erststimmen verzichten. Durch beide Effekte wäre es denkbar, dass Mehrheitsentscheidungen in einzelnen Wahlkreisen „umkippen“ und sich dadurch auch die Direktmandats-Zahlen der Parteien verändern – was unstreitig gerade nicht Gegenstand der Analyse-Szenarien sein sollte. Allerdings ist zu beachten, dass Wahlkreise in vielen Fällen mit komfortablen Mehrheiten ge- Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 16 wonnen wurden, während NStG-Szenarien oft nur relativ geringe Veränderungen bei den Zweitstimmen voraussetzen – und selbst dies nur auf der aggregierten Ebene ganzer Bundesländer, keineswegs in einzelnen Wahlkreisen. Selbst in den Einzelfällen, in denen Wahlkreisentscheidungen sehr knapp ausgingen, scheint es fast immer möglich, die für NStG-Fälle im ganzen Bundesland erforderlichen Stimmenzahl-Differenzen so auf die Wahlkreise des Landes zu verteilen, dass keine der Mehrheitsentscheidungen „umkippen“ müsste (vgl. 2011b). Die gleichzeitige Variation von Wählerzahlen mit Zweitstimmenzahlen erscheint insoweit zumindest rechnerisch möglich, ohne das etablierte Analyse-Prinzip der Konstanz der Direktmandatszahlen zu verletzen . Für die gleichzeitige Variation der Wählerzahlen spricht im Übrigen, dass Zweitstimmen unmittelbar mit Wählerzahlen zusammen hängen und kaum über größere Abstände hinweg völlig unabhängig variiert werden können. Anderenfalls wäre argumentativ zu klären, was mit größeren Wählermassen passiert, die zwar hypothetisch alle weiterhin zur Wahl gehen, aber dabei keine Zweitstimmen mehr abgeben - würden diese nicht zumindest in Teilen der Wahl gleich ganz fern bleiben? Gerade im umgekehrten Fall – bei hypothetisch stark erhöhten Zweitstimmenzahlen, aber gleichbleibenden Wählerzahlen – stößt die Analyse an eine harte Grenze: Schreibt man bei der Berechnung einem bestimmten Landesverband einer Partei zusätzliche Zweitstimmen in größerer Zahl zu, so wird an einem bestimmten Punkt der Zustand erreicht, wo alle zuvor verzeichneten „sonstigen“ (d.h. für an der 5%-Hürde gescheiterte Parteien abgegebenen) und ungültigen Zweitstimmen von der betrachteten Partei „aufgesogen“ worden sind. Führt man die Analyse dann noch weiter, dann übersteigt die landesweit abgegebene rechnerische Zahl an Zweitstimmen die (konstant) zugrunde gelegte Zahl an abgegebenen Wahlzettel insgesamt – ein offensichtlicher Widerspruch. Überschlägige Berechnungen zeigen, dass die so eingezogene Begrenzung der Analyse-Szenarien in vielen Fällen bei etwa +20%, in Einzelfällen aber schon bei +8% Zunahme der Zweitstimmen eines Landesverbandes liegen würde. Will man diese Begrenzung in der Berechnung einhalten, so wären der Analyse damit gewissermaßen neue, relativ enge Leitplanken mit auf den Weg gegeben. Will man eine solche Begrenzung hingegen nicht akzeptieren, so ist festzustellen, dass die Annahme konstanter Wählerzahlen hier auf gewisse Schwierigkeiten stößt. Ein Ausweg läge allenfalls darin, der Partei A zusätzlich gutzuschreibende Zweitstimmen rechnerisch vom entsprechenden Kontingent einer anderen Partei B abzuziehen. Dann aber wäre das Prinzip der unabhängigen Variation einzelner Einflussgrößen endgültig verletzt, und es würden die Stimmenzahlen zweier oder mehrerer Parteien gleichzeitig variiert – was es erneut schwierig macht, den kausalen Einfluss einzelner Wahlentscheidungen bzw. das Gewicht einzelner Stimmen methodisch zu isolieren. Jedenfalls ist festzuhalten, dass Grenzen des rechnerisch Möglichen existieren. Unmöglich ist die gezielte Einzelveränderung einer Größe und das Konstanthalten aller anderen zumindest dann, wenn mehrere der beteiligten Größen durch Summation zueinander in einer festen Beziehung stehen. Die ist für die Wählerzahlen insoweit der Fall, als sie notwendigerweise der Summe der Zweitstimmen für zuteilungsberechtigte Parteien, für nicht zuteilungsberechtigte Parteien, der ungültigen Zweitstimmen und der gar nicht abgegebenen Zweitstimmen (d.h. der Wahlzettel, die nur eine Erststimme enthalten) entsprechen müssen. Insoweit erscheint die Variation von Zweitstimmenzahlen unabhängig von bzw. mit konstanten Wählerzahlen nur teilweise sinnvoll. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 17 Dennoch soll im Folgenden zu Vergleichszwecken immer auch so verfahren werden, dass Wählerzahlen rechnerisch auf dem am Wahltag beobachteten Niveau konstant gehalten werden. 3.3. Wie intensiv suchen? Neben den zuvor diskutierten Fragen, was und wie/wo bei der Analysen von negativen Stimmgewichten gesucht werden soll, ist weiterhin auch die Frage zu klären, wie intensiv bzw. wie genau nach inversen Effekten gesucht werden soll. Diese Frage stellt sich bei genauerer Betrachtung als für das politische Ergebnis weniger relevant heraus. Sie kann aber von Bedeutung für die Genauigkeit bzw. für die Fehlergrenzen beim Suchergebnis sein. Deshalb seien der Vollständigkeit halber die zwei wichtigsten Parameter, über die die Such-Intensität gesteuert werden kann, hier kurz diskutiert: 3.3.1. Parameter Intervallbreite Bei der Suche nach inversen Effekten, die meist von einem tatsächlichen vergangenen Wahlergebnis ausgeht und in dessen Umfeld nach einschlägigen Phänomenen sucht, muss reproduzierbar geregelt werden, wie breit die Suche angelegt werden soll. Anderenfalls wären die Suchergebnisse zwischen Wahljahren oder zwischen Reformmodellen kaum vergleichbar. Typischerweise wird dabei die Zweitstimmenzahl der einzelnen Landesverbände nacheinander und unabhängig voneinander in einem bestimmten, relativ gleichbleibenden Korridor variiert. Eine naheliegende Möglichkeit besteht darin, diesen Korridor z.B. bei +/- 20% Variation um die tatsächliche Zweitstimmenzahl herum festzulegen; jedem Landesverband wird also bis zu ein Fünftel der Zweitstimmen, die er in der Realität errungen hat, hypothetisch abgezogen oder zusätzlich gutgeschrieben . Dieser Korridor kann selbstverständlich auch breiter oder schmaler angelegt werden, sei es bei 10% oder etwa 50%. Der Vorteil eines breiteren Korridors liegt darin, dass mit mehr „Masse“ auch die errechneten NStG-Fallzahlen in der Tendenz statistisch repräsentativer werden und weniger stark von numerischen Zufällen bzw. Fluktuationen beeinflusst sein sollten. Ein Nachteil des breiteren Korridors liegt umgekehrt darin, dass die darin enthaltenen Szenarien sich mehr von der am Wahltag festgestellten politischen Realität entfernen und als zunehmend „künstlich“ empfunden werden könnten. Zudem wird die Berechnung mit breiterem Korridor auch zeitintensiver . Was statistisch stärker repräsentativ wäre, erscheint dadurch gleichzeitig politisch weniger repräsentativ . Die Kunst liegt daher darin, einen geeigneten Kompromiss zu finden, der von den beiden Polen der Nicht-Repräsentativität etwa gleich weit entfernt ist. Im Folgenden wird angenommen , dass ein Wert von +/- 20% als geeigneter Kompromiss dienen kann. Ein solcher Wert wurde zuvor auch von anderen Autoren verwendet (Wiesner 2011); dieser sich etablierenden Tradition soll hier gefolgt werden. 3.3.2. Parameter Schrittweite Ist der Korridor einmal festgelegt, so muss noch entschieden werden, mit welcher Genauigkeit innerhalb dieses Korridors gesucht werden soll. Ideale Genauigkeit ist mit einer Schrittweite von jeweils +1 Zweitstimmen zu erreichen, was bedeutet, dass immer nur einzelne Zweitstimmen Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 18 dem hypothetischen Wahlergebnis hinzugerechnet oder abgezogen werden und die Sitzverteilung unmittelbar darauf erneut durchgeführt wird. Der Preis für die so erreichbare Präzision besteht im dafür notwendigen, hohen Rechenaufwand. Im Folgenden wird daher eine größere Schrittweite gewählt: Wählerstimmen werden jeweils in „Paketen“ von je 1.000 Zweitstimmen dem hypothetischen Wahlergebnis zugefügt oder abgerechnet . Das Verfahren kann als ein dicht gestecktes Netz von Stichproben verstanden werden, das sich aber von einer vollständigen Überprüfung ein Stück weit unterscheidet. Der Preis für die 1000fache Beschleunigung des Rechenvorgangs besteht darin, dass einzelne, insbesondere kurzreichweitige Fälle von NStG so übersehen werden können, wenn sie genau zwischen zwei benachbarten Stichproben liegen. Denkbar ist also, dass das im Folgenden anzuwendende Verfahren mit 1000er-Schrittweite Einzelfälle von NStG verpasst. In diesem Sinne stellen die zu präsentierenden NStG-Fallzahlen jeweils die beobachtbare Untergrenze dar; die „volle Wahrheit“ kann unter Umständen in leicht höheren Fallzahlen bestehen. Durch exemplarischen Abgleich mit externen Berechnungen bei 1er-Schrittweite (Wiesner 2011) zeigt sich jedoch, dass die Ergebnisse in den überprüften Fällen nur geringfügig voneinander abweichen. 3.4. Wie über die Suche berichten? Sind im Rahmen der zuvor definierten Suchstrategie Fälle von NStG in den Daten gefunden worden , dann bleibt die Frage, in welcher Form über die Fundstücke Bericht erstattet werden soll. In jedem Fall ist eine Reduktion und Komprimierung der Daten vorzunehmen, da die Fülle der nach der Analyse verfügbaren Information ansonsten vom Beobachter kaum zu fassen wäre. Diese Reduktion kann aber auf verschiedene Weise geschehen; wohl auch deshalb unterscheiden sich bisher publizierte Suchergebnisse teils signifikant voneinander. 3.4.1. Kriterium: Anzahl negativer Sprungstellen Eine Möglichkeit besteht darin, schlicht die Zahl der im Rahmen der Suche angetroffenen Einzelfälle von negativem Stimmgewicht zu nennen. Jeder Einzelfall bestünde aus einer Nachricht etwa der Art: „Hätte Partei A im Bundesland X, ausgehend von 578.963 Zweitstimmen, noch 1000 Stimmen hinzugewonnen, so hätte sie deshalb einen Sitz weniger bekommen“. Die Details würden nicht weiter beachtet, nur der Fallzähler um eins heraufgesetzt. Stellt man sich den Zuteilungsmodus als eine mathematische Kurve vor, die jeder Zweitstimmenzahl eines Landesverbands die Sitzzahl der entsprechenden Partei zuordnet, dann entspricht ein solcher Fall einer lokalen „Treppenstufe“ in dieser Kurve – und zwar einer Stufe abwärts. Die Strategie zum Bericht über die Suchergebnisse bestünde also darin, die Anzahl der abwärts weisenden Treppenstufen („negative Sprungstellen“) zu zählen. 3.4.2. Kriterium: Anzahl betroffener Landesverbände Eine alternative Strategie geht so vor, dass sie nicht die Gesamtzahl von Sprungstellen zählt, sondern jeden einzelnen Landesverband als vom Problem betroffen vermerkt, sobald bei diesem nur ein einziger Fall von NSG aufgetreten ist. Weitere Fälle beim selben Landesverband fließen in den Bericht nicht mehr ein bzw. werden gar nicht mehr analysiert. Hier wird pro Landesverband also nur eine „Ja/Nein“-Beobachtung über das Vorliegen von NStG aufgezeichnet, nicht jedoch Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 19 die quantitative Information über die Gesamtzahl der Fälle. Berichtet wird also nicht über die NStG-Fallzahl, sondern über die Zahl von betroffenen Landesverbänden. Das Kriterium „betroffene Landesverbände“ scheint insbesondere den im Vorfeld der Sitzung am 21.09.2011 im Ausschuss vorgelegten Berechnungen zugrunde zu liegen. Mit einer solchen „Deckelung “ der Zählung erscheint es allerdings nur noch schwer möglich, die NSG-„Intensität“ verschiedener Modell quantitativ zu vergleichen, vor allem wenn diese mehr als nur sehr seltene Ausnahmefälle von NStG aufweisen. 3.4.3. Kriterium: Anzahl betroffener Wähler Eine weitere denkbare Strategie wäre, statt Treppenstufen oder betroffener Landesverbände die Anzahl der vom NStG betroffenen Wähler zu quantifizieren. Eine solche Strategie ist bisher in keiner der bekannt gewordenen Untersuchungen angewandt worden, und wäre möglicherweise auch nicht in einfacher Weise präzise zu definieren. Vor allem aber scheint es auch politisch nicht eindeutig, welcher Fall der schlimmere wäre: wenn viele Zweitstimmen dem NStG unterlagen (und dementsprechend viele Wähler ihre Stimmabgabe nachträglich bereuen müssten), oder wenn nur wenige Wähler betroffen waren (und dementsprechend nur ein kleinerer Personenkreis sich hätte koordinieren müssen, um den negativen Effekt zu vermeiden). Konkretes Beispiel: Im Wahljahr 2009 hätte die SPD in Bremen nur 600 Wählerstimmen weniger haben müssen, um bundesweit einen Sitz hinzuzugewinnen. Ob dieser Fall aber gravierender oder weniger gravierend als der der SPD Brandenburg ist, die über 42.000 Zweitstimmen hätte verlieren müssen, um der SPD im Bund einen Sitzgewinn zu verschaffen, ist nicht offensichtlich. Daher wird die Strategie „betroffene Wähler zählen“ hier nicht weiter verfolgt. 3.4.4. Einzel-Fazit: Berichtskriterien Verschiedene Autoren haben in der Vergangenheit unterschiedliche 0Kriterien zum Bericht über Suchergebnisse verwendet. Wohl auch deshalb waren die Ergebnisse teils nicht vergleichbar. Eine Entscheidung für ein objektiv bestes Kriterium ist nicht einfach zu treffen. Wichtig erscheint vor allem, Klarheit über das jeweils verwendete Kriterium zu schaffen, um zumindest die Möglichkeit zum Vergleich zu eröffnen. In diesem Sinne sei festgehalten, dass im Folgenden jeweils die NStG-Fallzahlen gemäß Abschnitt 3.4.1 wiedergegeben werden. Dabei bleibt zu beachten, dass die Suche nach negativen Sprungstellen bisher die einzige etablierte , aber keine unfehlbare Methode zur Diagnose von negativen Stimmgewichten in Wahlrechtsmodellen ist. Sie weist insbesondere den Nachteil auf, dass sie sich tendenziell zu stark auf kurzreichweitige Effekte bzw. „Rundungsrauschen“ (Wiesner 2011) konzentriert und dabei den Wald (d.h. systematisch bedingte, strukturelle NStG-Effekte über größere Stimmenzahl-Differenzen hinweg) vor lauter Bäumen (d.h. negativen Sprungstellen und Rundungszufällen im Bereich kleiner Stimmenzahl-Differenzen) nicht sieht. Bisher herrscht in der Fachwelt jedoch kein Konsens darüber, welche alternative Methode besser zur Diagnose geeignet sein könnte. Daher wird die Methode des Sprungstellen-Zählens – in Kenntnis ihrer methodischen Defizite – im Folgenden weiter angewendet. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 20 3.5. Zwischen-Fazit: Suchmethoden Wie der obigen Diskussion zu entnehmen ist, ist die Methodik der Berechnung negativer Stimmgewichte bisher nicht eindeutig geklärt; hier ist noch weiterer Forschungs- bzw. Konsolidierungs- Bedarf zu verzeichnen. Die hier und anderenorts vorgestellten Ergebnisse sind daher immer „cum grano salis“ zu verstehen. Mindestens in zwei methodischen Dimensionen eröffnet sich dem Betrachter eine weitgehende Entscheidungsfreiheit, nämlich bei den konkurrierenden Definitionen von NStG und bei der Vorgehensweise der Berechnung (Wählerzahlen-Variation). Endgültige Entscheidungen zwischen diesen Optionen sind auf objektiv-wissenschaftlicher Basis kaum möglich; hier konnten allenfalls argumentative Tendenzen aufgezeigt werden. Daher werden im Folgenden Berechnungen der wichtigsten denkbaren Varianten parallel durchgeführt. 4. Ergebnisse der Berechnungen: Wahljahr 2009 Auf Grundlage der im Kapitel 3 diskutierten Untersuchungsmethodik sollen nun konkrete Fallzahlen von negativen Stimmgewichten berechnet werden, zunächst ausgehend von den Ergebnissen der Bundestagswahl 2009. Analoge Berechnungen für frühere Wahljahre sind dem Anhang 6.1 ab S. 23 zu entnehmen. Tabelle 1 stellt die NStG-Fallzahlen für das Wahljahr 2009 dar. Berechnet wurden sie mit einer Intervallbreite von +/- 20% rund um die tatsächlichen Zweitstimmenzahlen jedes einzelnen Landesverbandes sowie einer Schrittweite von je 1000 Zweitstimmen. Die drei Spalten entsprechen den drei wichtigsten Definitionen negativer Stimmgewichte (vgl. Abschnitt 3.1). Die fünf Zeilen mit Zahleneinträgen entsprechen dem geltenden Wahlrecht, dem ursprünglichen und dem modifizierten Koalitionsentwurf, letztere beiden jeweils berechnet einmal mit konstanten, einmal mit variablen Wählerzahlen. Wahljahr: 2009 Fallzahlen / Anzahl negativer Sprungstellen Modell Absolutes NStG „erster Ordnung “ Absolutes NStG „zweiter Ordnung “ Relatives NStG BWahlG 2008 29 0 29 Koalitionsmodell vom 28.06.2011 (BT-Drs. 17/6290)… …bei konstanten Wählerzahlen 21 18 37 …bei variablen Wählerzahlen 31 85 95 Modifiziertes Koalitionsmodell gemäß Beschluss des Innenausschusses vom 21.09.2011 … (BT-Drs. 17/7069) …bei konstanten Wählerzahlen 0 0 0 …bei variablen Wählerzahlen 8 68 61 Tabelle 1: Fallzahlen negativer Stimmgewichte für das Wahljahr 2009 (Quelle: eigene Berechnungen; ohne Gewähr). Zur Interpretation dieser Zahlen sei Folgendes festgehalten: Im bisher geltenden Wahlrecht sind absolutes und relatives NStG untrennbar miteinander gekoppelt; wo das eine auftritt, tritt gleichzeitig das andere auf. Dies gilt allerdings nur für das absolute NStG „erster Ordnung“; vom Effekt zweiter Ordnung ist das geltende Wahlrecht grundsätzlich frei. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 21 Das Koalitionsmodell in der Fassung vom 28.06.2011 reduziert gemäß diesen Zahlen das absolute NStG erster Ordnung um etwa ein Viertel, führt gleichzeitig aber absolutes NStG zweiter Ordnung mit ähnlich hohen Fallzahlen neu ein. Das relative NStG – als Kombination beider Effekte – steigt deshalb gegenüber dem bisherigen Wahlrecht spürbar an. Dies gilt bereits im Szenario mit konstanten Wählerzahlen, beim dem es zu Verschiebungen zwischen den Bundesländern ja nur aufgrund der Reststimmenverwertung kommen kann. Die Zahlen in der entsprechenden Zeile von Tabelle 1 sind also wesentlich auf den Mechanismus der ursprünglichen Reststimmenverwertung zurückzuführen. Macht man sich die Vorgehensweise mit variablen Wählerzahlen zu Eigen, so wird die Fallzahl absoluter NStG erster Ordnung etwa auf das Niveau des bisherigen Wahlrechts zurückgeführt. Gemäß den anderen beiden NStG-Definitionen wachsen die Zahlen deutlich über das bisherige Niveau hinaus. Das modifizierte Koalitionsmodell in der Fassung vom 21.09.2011 zeigt noch einmal andere Verhältnisse : In der Betrachtungsweise mit konstanten Wählerzahlen weisen alle Szenarien Null Fälle auf – unabhängig von der verwendeten Definition von NStG. In der Betrachtungsweise mit variablen Wählerzahlen hingegen wird zwar das absolute NStG erster Ordnung auf ein Viertel bis ein Drittel des bisherigen Niveaus reduziert; gleichzeitig aber werden die anderen beiden Spielarten des NStG durch die Änderung vom 21.09.2011 nur geringfügig reduziert und verbleiben auf deutlich höherem Niveau, als dies im bisherigen Wahlsystem der Fall war. Analoge Ergebnisse für frühere Wahljahre sind dem Anhang 6.1 zu entnehmen. Bei einem Vergleich stellt sich heraus, dass die Daten gewissen statistischen Schwankungen unterworfen sind. Einige wesentliche Trends erweisen sich jedoch in dem Sinne als robust, als sie für (fast) alle Wahljahre gleichermaßen auftreten. Abschließend seien zwei Dinge angemerkt: Allgemein kann für die Daten in den hier und im Anhang dargestellten Tabellen keine Gewähr übernommen werden. Rechenfehler sind dank sorgfältiger Überprüfung der Ergebnisse und punktuellem Vergleich mit externen Ergebnissen (Wiesner 2011) unwahrscheinlich, können aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Speziell für die Zahlen in der vierten Datenzeile ist festzuhalten, dass diese hier zwar durchweg als „Null“ erscheinen, aber nicht prinzipiell bei Null liegen müssen, wie dies etwa bei einigen anderen Modellen zur Wahlrechtsreform der Fall wäre. Vielmehr zeigen Berechnungen des BMI, dass im modifizierten Koalitionsmodell auch unter der Annahme konstanter Wählerzahlen in bestimmten Einzelfällen noch negative Stimmgewichte auftreten können. Einzelfälle solcher Art waren in den hier untersuchten Konstellationen jedoch sozusagen „per Zufall“ nicht enthalten. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 22 5. Gesamt-Fazit Die Frage, ob und wie eine Änderung des in BT-Drs. 17/6290 vorgeschlagenen Mechanismus der Reststimmenverwertung dazu beitragen könnte, das Problem der negativen Stimmgewichte endgültig und vollständig zu lösen, lässt sich nicht eindeutig beantworten: Zu vieles hängt ab von der genauen Definition des Problems bzw. den Annahmen, die in die Berechnung einfließen. Der Raum der Möglichkeiten, wie er in Kapitel 3 aufgespannt wurde, ist nicht notwendigerweise vollständig , aber bereits unübersichtlich genug. Um die Komplexität auf ein beherrschbares Maß zu reduzieren, wurde im Vorfeld der in Kapitel 4 dargestellten Berechnungen die Entscheidung getroffen , die Simulationen mit einer bestimmten Intervallbreite und (relativ groben) Schrittweite durchzuführen sowie die „NStG-Intensität“ der verschiedenen Wahlrechtsmodelle über die Anzahl der negativen Sprungstellen zu quantifizieren. Legitimerweise könnten hier auch andere Entscheidungen getroffen werden, die natürlich auf der Ebene der reinen Zahlen zu anderen Ergebnissen führen würden. Jedoch deutet bisher wenig darauf hin, dass speziell der Vergleich zwischen den Modellen sich dadurch signifikant verschieben würde. Im Hinblick auf zwei weitere wichtige Parameter wurde hingegen keine Entscheidung getroffen. Vielmehr wurden alle Szenarien für die drei relevantesten Definitionen von negativem Stimmgewicht und für die beiden alternativen Vorgehensweisen bei der Behandlung der Wählerzahlen parallel durchgerechnet. Dabei stellt sich heraus, dass insbesondere die Frage, ob Wählerzahlen konstant gehalten oder aber analog zu den Zweitstimmenzahlen der Landesverbände variiert werden sollen, von ausschlaggebender Bedeutung ist. Betrachtet man die Gesamtzahl der Wähler pro Bundesland als eine am Wahltag festzustellende Konstante, die in der ex-post-Betrachtung nicht mehr zu verändern ist, so erscheint das Koalitionsmodell (in der geänderten Fassung von Ende September 2011) in einem günstigen Licht. Negative Stimmgewichte wären – über den Mechanismus der Reststimmenverwertung – dann nur noch unter relativ exotischen Randbedingungen konstruierbar, die von den hier verwendeten „gängigen“ Simulations-Szenarien abweichen. Betrachtet man die Wählerzahl pro Bundesland hingegen als eine variable Größe, die in der expost -Betrachtung gleichzeitig mit den üblichen Variationen der Zweitstimmenzahlen zu verändern wäre – und „erlaubt“ auf diese Art dem Wähler in der nachträglichen Simulation, nicht nur keine Zweitstimme abgegeben, sondern der Wahl gleich ganz ferngeblieben zu sein –, so stellen sich gänzlich andere Verhältnisse ein. Das negative Stimmgewicht in seiner absoluten Ausprägung „erster Ordnung“ verbliebe tendenziell in ähnlicher Größenordnung wie im bisher geltenden Wahlrecht, wenn auch mit deutlichen Schwankungen von Wahljahr zu Wahljahr. NStG in der absoluten Ausprägung „zweiter Ordnung“, das im bisherigen Wahlrecht gar nicht auftrat, würde mit durchaus erheblichen Fallzahlen neu eingeführt. Verwendet man schließlich das NStG in seiner relativen Ausprägung, die quasi als automatische Synthese beider Effekte betrachtet werden kann, so ist festzustellen, dass die Fallzahlen im Koalitionsmodell gegenüber dem bisherigen Wahlrecht grob um einen Faktor von ca. 3-5 ansteigen würden. Eine eindeutige Aussage ist allenfalls bezüglich des Änderungsantrages vom 21.09.2011 zu treffen : Unabhängig von den sonstigen Randbedingungen ist festzustellen, dass diese Änderung die NStG-Fallzahlen teils wenig verändert, teils aber signifikant reduziert. Die Änderung im Detail scheint insofern positiv; ob das Modell als Ganzes jedoch zur Lösung des Problems der negativen Stimmgewichte geeignet ist, bleibt in Teilen Ansichtssache. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 23 6. Anhang: Dokumentation weiterer Daten 6.1. NStG-Anzahlen für frühere Bundestagswahlen In ähnlicher Weise wie oben für das Wahljahr 2009 lassen sich NStG-Fallzahlen auch für frühere Bundestagswahlen berechnen. Für das Wahljahr 2005 ergibt sich: Wahljahr: 2005 Fallzahlen / Anzahl negativer Sprungstellen Absolutes NStG „erster Ordnung “ Absolutes NStG „zweiter Ordnung “ Relatives NStG BWahlG 2008 23 0 23 Koalitionsmodell vom 28.06.2011 (BT-Drs. 17/6290)… …bei konstanten Wählerzahlen 15 8 22 …bei variablen Wählerzahlen 34 70 85 Modifiziertes Koalitionsmodell gemäß Beschluss des Innenausschusses vom 21.09.2011 … (BT-Drs. 17/7069) …bei konstanten Wählerzahlen 0 0 0 …bei variablen Wählerzahlen 22 53 64 Das Wahljahr 2002 eignet sich für einen Modellvergleich schlechter als andere, weil hier eine Besonderheit aufgetreten ist: Die PDS errang im Land Berlin zwei Direktmandate, bundesweit jedoch kein drittes und scheiterte im Übrigen an der 5%-Hürde. Sie war daher nach Zweitstimmen nicht zuteilungsberechtigt und zog nur mit den zwei nach Erststimmen gewählten Direktkandidatinnen in den Bundestag ein. Der Umgang mit Sonderfällen dieser Art unterscheidet sich in einem Detail zwischen dem bisher geltenden Wahlrecht und dem Koalitionsmodell: Nach bisherigem Stand wurden die 2 PDS-Direktmandate, die als eine Art spezieller Überhang betrachtet werden konnten, vorab vom bundesweiten Kontingent an Gesamtmandaten (598) abgezogen, um dann nur die verbleibenden 596 Sitze nach Zweitstimmen-Proporz auf die Parteien zu verteilen. Gemäß dem Koalitionsmodell werden zukünftig jedoch weiterhin 598 Gesamtsitze nach Proporz verteilt (nun auf die Länder), und die Verrechnung bzw. der Abzug der 2 Direktmandate erst innerhalb des Landes Berlin vorgenommen. Dieser Unterschied führt dazu, dass NStG-Fallzahlen zwischen den Modellen nicht mehr direkt vergleichbar bzw. dass Vergleiche nicht in gleicher Weise aussagekräftig sind wie bei anderen Wahljahren. Daher sollen die Zahlen für das Jahr 2002 hier nicht betrachtet werden. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 24 Für das Wahljahr 1998 ergeben sich folgende Zahlen: Wahljahr: 1998 Fallzahlen / Anzahl negativer Sprungstellen Absolutes NStG „erster Ordnung “ Absolutes NStG „zweiter Ordnung “ Relatives NStG BWahlG 2008 15 0 15 Koalitionsmodell vom 28.06.2011 (BT-Drs. 17/6290)… …bei konstanten Wählerzahlen 9 5 14 …bei variablen Wählerzahlen 36 43 70 Modifiziertes Koalitionsmodell gemäß Beschluss des Innenausschusses vom 21.09.2011 … (BT-Drs. 17/7069) …bei konstanten Wählerzahlen 0 0 0 …bei variablen Wählerzahlen 32 41 55 Schließlich lauten die Zahlen für das Wahljahr 1994: Wahljahr: 1994 Fallzahlen / Anzahl negativer Sprungstellen Absolutes NStG „erster Ordnung “ Absolutes NStG „zweiter Ordnung “ Relatives NStG BWahlG 2008 29 0 29 Koalitionsmodell vom 28.06.2011 (BT-Drs. 17/6290)… …bei konstanten Wählerzahlen 1 1 2 …bei variablen Wählerzahlen 36 60 75 Modifiziertes Koalitionsmodell gemäß Beschluss des Innenausschusses vom 21.09.2011 … (BT-Drs. 17/7069) …bei konstanten Wählerzahlen 0 0 0 …bei variablen Wählerzahlen 26 69 79 In der Gesamtbetrachtung bestätigen sich so auf breiterer Datenbasis die Tendenzen, die bereits aus den Daten für 2009 ablesbar waren. Zwar liegen – in der Variante mit variablen Wählerzahlen – die Fälle von absolutem NStG „erster Ordnung“ nicht mehr unterhalb, sondern teils gleichauf, teils bis zum Doppelten über dem geltenden Wahlrecht. Ansonsten erweisen sich die Trends als robust: Die Änderung vom 21.09.2011 stellt überwiegend einen Fortschritt, jedenfalls aber keine Verschlechterung dar. Im Vergleich zum geltenden Wahlrecht führt das Koalitionsmodell absolute negative Stimmgewichte „zweiter Ordnung“ neu ein, zumindest soweit Wählerzahlen als variabel betrachtet werden. Unter der Annahme konstanter Wählerzahlen erscheint das NStG-Problem im Koalitionsmodell als weitestgehend gelöst, während mit variablen Wählerzahlen die Problematik auch durch das modifizierte Koalitionsmodell keineswegs entschärft wird, sondern im Vergleich zum bisherigen Wahlrecht teils ungefähr gleich bleibt, teils bis etwa zum Doppelten verstärkt wird. Für alle hier genannten Zahlen gelten wiederum die zuvor gemachten einschränkenden Bemerkungen bezüglich Genauigkeit und Fehlergrenzen. Weitergehende Hinweise auf das Ausmaß des Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 25 Daten-Verlässlichkeit sind bisher allenfalls einem Vergleich mit den Ergebnissen von Wiesner (2011) zu entnehmen. Dieser Vergleich bleibt dabei, mangels verfügbarer Daten für die anderen Felder, auf die Kategorie „Absolutes NStG erster Ordnung“ sowie die Modelle „BWahlG2008“ einerseits und „Koalitionsmodell vom 28.06.2011, bei variablen Wählerzahlen“ andererseits beschränkt . Bei einem solchen Vergleich stellt sich heraus, dass die Zahlen von Wiesner überwiegend mit den hier genannten übereinstimmen, teils jedoch um wenige (1-4) Einzelfälle von NStG höher liegen. Beachtet man, dass die Rechnung von U. Wiesner mit höchstmöglicher Auflösung von je +1 Zweitstimme durchgeführt wurde, während hier zur Beschleunigung der Rechnung eine gröbere Schrittweite von je +1.000 Zweitstimmen gewählt wurde, so erscheint die verbleibende Diskrepanz nach Größe und Richtung erklärbar. Es kann insofern davon ausgegangen werden , dass die Daten im Rahmen des Überprüfbaren mit denen aus Wiesner (2011) übereinstimmen ; für alle anderen Teile der hier vorgestellten Rechnungen sind bisher keinerlei Vergleichsdaten öffentlich verfügbar. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 8 – 3000 – 127/2011 Seite 26 7. Quellen und Literatur Behnke, Joachim (2011). „Dies ist das Wahlsystem meines Missvergnügens“ – Eine Kritik des Entwurfs der CDU/CSU und FDP für eine Reform des Wahlgesetzes. Im Internet: http://www.zeppelin-university .de/deutsch/lehrstuehle/politikwissenschaft/CDU_Wahlreformentwurf.pdf [26.09.2011]. BMI – Bundesministerium des Inneren (2011). 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Im Internet: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse 17/a04/Anhoerungen/Anhoerung11/Stellungnahmen_SV/Stellungnahme_01.pdf. Siehe auch “Nachtrag zur BMI-Tischvorlage” vom 09.09.2011: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a04/Anhoerungen /Anhoerung11/Stellungnahmen_weitere/Stellungnahme_02.pdf [28.09.2011]. Wiesner, Ulrich (2011). Zur Anatomie des negativen Stimmgewichts. Im Internet: http://ulrichwiesner.de/stimmgewicht/ [28.09.2011].