© 2020 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 091/20 Zur Möglichkeit der Entziehung von an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit verliehenen Doktorgraden Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. 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Einleitung Der Umgang mit akademischen Abschlüssen, die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Potsdam erworben wurden, war in der Vergangenheit wiederholt Gegenstand politischer Diskussionen , die auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch nicht abgeschlossen sind. Im Bericht der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ vom 31. Mai 1994 heißt es: „Generell geheim war die Tätigkeit an der Juristischen Hochschule Potsdam des MfS […], an der Staatssicherheitsoffiziere im Direkt- und Fernstudium zu „Diplom-Juristen" ausgebildet wurden. Die Stasi-Kaderschmiede besaß auch Promotions- und Habilitationsrecht, das sie mißbräuchlich für politische Zwecke nutzte […]. Dem Ziel, hochqualifizierte, politisch ausgerichtete „Kader" heranzubilden, wurde durch strikte politische Auswahl nachgeholfen. […] Lehre und Forschung wurden einerseits direkt von der SED gelenkt, andererseits zur „wissenschaftlichen" Steuerung von Wirtschaft, Kultur, Bildung und allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens instrumentalisiert. Die DDR ist ein Beispiel für den Versuch externer Steuerung der Wissenschaft.“1 An der Juristischen Hochschule des MfS seien nach Angaben von Günter Förster, ehemaliger Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, 174 Promotionsarbeiten von insgesamt 485 Autoren2 entstanden.3 Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sei eine erhebliche Zunahme von Kollektivarbeiten mit mehr als drei Autoren festzustellen.4 Das Niveau der Promotionsarbeiten an der Hochschule des MfS fasst Günter Förster in seiner annotierten Bibliographie wie folgt zusammen: „Die Promotionsarbeiten sind in verständlicher, teilweise einfacher Ausdrucksweise geschrieben , so daß manche eher einer journalistischen Darstellung als einer wissenschaftlichen Abhandlung gleichen; soziologische Fachtermini fehlen fast vollständig. […] Die Durchsicht der vorliegenden Dissertationen zeigt, daß ein wissenschaftlicher Standard selten erreicht wird. Einige Arbeiten entsprechen lediglich Handbüchern für die "operative Praxis". Sie behandeln praktische Fragen des IM-Einsatzes, der Sicherung der Grenzen , der Bekämpfung "feindlich-negativer" Gruppen sowie der verstärkten Grenz- und Zollkontrollen - und das alles in einer Art klaustrophoben Eigenwelt. […] Die Juristische Hochschule war keine Ausbildungseinrichtung für einen juristischen Beruf und auch keine rechtswissenschaftliche Forschungsstätte; vielmehr handelte es sich bei ihr um eine 1 Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland". Bundestagsdrucksache 12/7820. S. 72. http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/12/078/1207820.pdf. 2 Unbekannt ist, wie viele dieser Promovenden zwischenzeitlich verstorben sind. Die Anzahl der heute noch geführten Doktorgrade dürfte jedenfalls deutlich unter 485 liegen. 3 Förster, Günter (1997): Die Dissertationen an der "Juristischen Hochschule" des MfS. Eine annotierte Bibliographie . Reihe A: Dokumente Nr. 2/1994. 2. Auflage. S. 40 f. https://www.bstu.de/assets/bstu/de/Publikationen /E_foerster_dissertationen-jhs.pdf. 4 Ebenda. S. 28. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 5 akademisierte Spezialeinrichtung in Form einer "technischen" Hochschule mit maximaler ideologischer Festlegung.“5 Neben der fehlenden Einhaltung wissenschaftlicher Standards und der normhaften Annahme von Gemeinschaftsarbeiten, seien vor allem aber die Inhalte der Dissertationen problematisch. „Das waren Anleitungen zur Verletzung der Menschenrechte", so der aktuelle Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, in einem Interview aus dem Jahr 2019.6 2. Geltende Rechtslage Das Recht auf Führung von an den Hochschulen der ehemaligen DDR verliehenen Doktorgraden ergibt sich aus Artikel 37 Absatz 1 Satz 5 des Einigungsvertrages.7 „Artikel 37 Bildung (1) In der Deutschen Demokratischen Republik erworbene oder staatlich anerkannte schulische , berufliche und akademische Abschlüsse oder Befähigungsnachweise gelten in dem in Artikel 3 genannten Gebiet weiter. In dem in Artikel 3 genannten Gebiet oder in den anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) abgelegte Prüfungen oder erworbene Befähigungsnachweise stehen einander gleich und verleihen die gleichen Berechtigungen, wenn sie gleichwertig sind. Die Gleichwertigkeit wird auf Antrag von der jeweils zuständigen Stelle festgestellt. Rechtliche Regelungen des Bundes und der Europäischen Gemeinschaften über die Gleichstellung von Prüfungen oder Befähigungsnachweisen sowie besondere Regelungen in diesem Vertrag haben Vorrang. Das Recht auf Führung erworbener, staatlich anerkannter oder verliehener akademischer Berufsbezeichnungen , Grade und Titel bleibt in jedem Fall unberührt.“ An der Ausarbeitung des Einigungsvertrages für den Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturbereich wirkten auch Vertreter der Kultusministerkonferenz (KMK) mit.8 Die Rechtswirkung des Artikels 37 besteht darin, dass in der DDR verliehene Doktorgrade zu Doktorgraden werden, die in der Bundesrepublik Deutschland geführt werden dürfen. Dieses Recht auf Führung besteht ungeachtet dessen, dass die wissenschaftlichen Standards dieser Dissertationen etwa betreffend die Zitierweise, die Arbeitsweise und die Zulassung von Kollektivarbeiten von den akademischen Qualitätsanforderungen der Bundesrepublik im Falle der an der Hochschule des MfS verliehenen Doktorgrade deutlich abweichen mögen. 5 Ebenda. S. 50 ff. 6 Tagesschau.de (2019). Jahn fordert Kennzeichnungspflicht. Künftig ein "Dr. Stasi"? https://www.tagesschau .de/inland/stasi-doktortitel-101.html. 7 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag) vom 31.8.1990 (BGBl. 1990 II S. 889), der zuletzt durch Artikel 32 Absatz 3 des Gesetzes vom 27.6.2017 (BGBl. I S. 1966) geändert worden ist. https://www.gesetze-iminternet .de/einigvtr/EinigVtr.pdf. 8. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ddr-schulabschluesse-werden-anerkannt-412232. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 6 Artikel 37 des Einigungsvertrages enthält weder Sonderregelungen, die das Recht auf Führung von in der DDR verliehenen Doktorgraden unter bestimmten Bedingungen ausschließt, noch differenziert Artikel 37 nach Institutionen, Inhalten, wissenschaftlichen Qualitätsmerkmalen oder den Kontexten der Entstehung der Dissertationen. Solche Differenzierungen hätten – sofern politisch gewollt – im Rahmen der Erarbeitung des Einigungsvertrages getroffen werden und in Artikel 37 Eingang finden müssen. Eine pauschale Versagung des Rechts auf Führung von an der Hochschule des MfS verliehenen Doktorgraden ist angesichts der geltenden Rechtslage nicht möglich. Auch eine Entziehung von solchen Doktorgraden im Einzelfall scheidet aus, da Artikel 37 des Einigungsvertrages insofern abweichende landesrechtliche Regelungen sperrt. Nach geltender Rechtslage dürfen daher auch die an der Juristischen Hochschule des MfS verliehenen Doktorgrade uneingeschränkt geführt werden. 3. Änderbarkeit der Rechtslage 3.1. Rechtscharakter des Einigungsvertrages Zum Rechtscharakter des Einigungsvertrages heißt es in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage „Die Verwirklichung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. August 1990“9:10 „Der Einigungsvertrag ist seinem materiellen Inhalt nach ein Staatsvertrag. Seine zentrale Zielsetzung war und ist es, eine Grundlage für die Bildung eines einheitlichen Rechtsraumes und die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland zu schaffen. Er ist mit dem Untergang der DDR nach deren Beitritt nicht obsolet geworden, denn er wurde gerade im Hinblick auf diesen Untergang geschlossen. Demgemäß bestimmt Artikel 45 Abs. 2 Einigungsvertrag, daß der Vertrag nach Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht fortgilt.“ Die Regelungen des Einigungsvertrages sind mit Beitritt Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden und haben den Rang eines Bundesgesetzes. 9 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Petra Bläss, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS/Linke Liste. „Die Verwirklichung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertrag - vom 31. August 1990“. Bundestagsdrucksache 12/8481. S. 25. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/12/084/1208481.pdf. 10 Mit ausführlichen Erläuterungen auch zur Rechtsform eines völkerrechtlichen Vertrages und zur Einordnung als Verfassungsrecht vgl. Wagner, Heiko (1994): Der Einigungsvertrag nach dem Beitritt. Fortgeltung, Bestandssicherheit und Rechtswahrung vor dem Bundesverfassungsgericht. Schriften zum Öffentlichen Recht / Band 657. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 7 3.2. Änderbarkeit des Einigungsvertrages Aus diesem Rechtscharakter des Einigungsvertrages lassen sich hinsichtlich seiner Änderbarkeit folgende Grundsätze ableiten: - Aufgrund des Wegfalls eines Vertragspartners durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland dürfte eine Änderung des Einigungsvertrages im Sinne einer Vertragsrevision formal nicht mehr möglich sein.11 - Für die Änderung von Bundesrecht, als welches der Einigungsvertrag nach dem Beitritt fortbesteht, könnten die allgemeinen Regeln über Gesetzesänderungen gelten.12 Eine Gesetzesänderung scheidet jedoch aus, wenn der Gesetzgeber an einzelne Normen des Einigungsvertrages gebunden ist. Die Entfaltung einer Bindungswirkung durch die Regelungen des Einigungsvertrages wird in der juristischen Literatur kontrovers diskutiert. Für eine solche Bindungswirkung könnten nach Auffassung in der Literatur unter anderem das Argument „pacta sunt servanda“13 sowie der Rechtsgedanke des Artikels 59 Abs. 2 Satz 1 GG (Bindung des Bundesgesetzgebers durch völkerrechtliche Verträge) sprechen.14 Auch die sogenannte Coburg-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts15 wird als Begründung für eine Bindungswirkung ins Feld geführt. Schließlich wird argumentiert, dass es einen Vertrag ohne Bindungswillen der Parteien nicht geben könne. Es sei ein unzulässiges „venire contra factum proprium“16, wenn eine Partei einen Eingliederungsvertrag nur unter der Prämisse schließt, diesen nach dem Untergang der anderen Partei ohne weiteres ändern zu können. Insbesondere das Regelungsinteresse der DDR-Regierung sei nicht darauf gerichtet, den zum Teil mühsam ausgehandelten Einigungsvertrag wieder zur Disposition zu stellen. Vielmehr sollte eine möglichst bestandsfeste Bindung an das im Einigungsvertrag Ausgehandelte erreicht werden.17 11 So auch Wissenschaftliche Dienste, Kurzinformation „Änderungen des Einigungsvertrages“, WD 3-233/09. 12 Wagner, Heiko (1994). aaO. S. 266. 13 Aus dem kanonischen Recht übernommener Rechtsgrundsatz, der von der Bindung und Klagbarkeit grundsätzlich jeden Versprechens und Vertrages ausgeht und seit dem 16. Jh. für jedwede Vertragsbindung allgemein wurde. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22657/pacta-sunt-servanda. 14 Mit ausführlicher Diskussion dieser und weiterer Argumente Wagner, Heiko (1994). aaO. S. 189 ff. 15 Gegenstand war der bayerisch-coburgische Staatsvertrag von 1920, der mehrfach vom BVerfG überprüft worden ist. Das BVerfG ging bei seinen Coburg-Entscheidungen von der fortdauernden Gültigkeit des Vertrags aus. Gleichzeitig nahm es an, dass der Staatsvertrag den bayerischen Gesetzgeber nach wie vor grundsätzlich bindet. Coburg I: BVerfG, Urteil vom 30.1.1973, 2 BvH 1/72, zitiert nach juris. Coburg II: BVerfG, Beschluss vom 27.11.1974, 2 BvH 1/73, zitiert nach juris. 16 Verbot widersprüchlichen Verhaltens. 17 Höch, Thomas (1995): Die Forderungen der DDR und der Sowjetunion als sachliche Gründe für den Restitutionsausschluss . Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift (DtZ) 1995, S. 77. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 8 Gegen eine Bindungswirkung der Einigungsvertragsregelungen werden in der juristischen Literatur unter anderem die grundsätzliche Regelungsfreiheit des Gesetzgebers, das Demokratieprinzip mit der Möglichkeit sich verändernder Mehrheiten, die Einordnung des Staatsvertrages in der Normenhierarchie und der Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Gleichheit der Länder durch sogenannte Reservatrechte angeführt.18 Für den Einigungsvertrag könne schon aus reinen Praktikabilitätsgründen nicht jede einzelne Norm aus Vertrag und Anlagen der Disposition des Gesetzgebers entzogen sein. Angesichts der Fülle der im Vertrag enthaltenen Regelungen wäre so die Rechtsfortbildung im geeinten Deutschland entscheidend gehemmt.19 Die Denkschrift zum Einigungsvertrag20, welche das Ziel und den Inhalt des Vertrages erläutert, führt zu Artikel 45 des Einigungsvertrages Folgendes aus: „In Absatz 2 wird dabei festgestellt, daß dieser Vertrag, der mit Inkrafttreten des Vertragsgesetzes Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland wird, auch nach dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik Bundesrecht bleibt. Damit ist zugleich klargestellt, daß das hierdurch geschaffene Bundesrecht durch den Bundesgesetzgeber geändert werden kann. Der Gesetzgeber hat dabei allerdings die im Vertrag vorgesehenen Regelungen zu beachten, durch die besondere Rechte auf Dauer garantiert werden (vergleiche Artikel 41 Abs. 3) oder durch die im Interesse einer schrittweisen Anpassung der unterschiedlichen Verhältnisse besondere Fristen vereinbart worden sind.“ Nach alledem erscheint die Annahme einer Bindungswirkung allenfalls für einzelne Regelungen des Einigungsvertrages denkbar.21 3.3. Änderbarkeit von Artikel 37 des Einigungsvertrages Die Frage der Änderbarkeit des Artikels 37 des Einigungsvertrages, um das Recht zum Führen von Doktorgraden, die von bestimmten Institutionen verliehen worden sind, einzuschränken, war soweit ersichtlich bisher nicht Gegenstand von Analysen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum. Nachfolgend können daher nur Gesichtspunkte aufgezeigt werden, die im Rahmen einer vertieften juristischen Prüfung zu berücksichtigen wären, ohne dass eine abschließende Entscheidung möglich wäre. Eine Auslegung des Artikels 37 des Einigungsvertrags nach den üblichen Auslegungskriterien ergibt mit Blick auf die Bindungswirkung folgendes Bild. Der Wortlaut des Artikels 37 enthält, 18 Mit ausführlicher Diskussion dieser und weiterer Argumente Wagner, Heiko (1994). aaO. S. 171 ff. 19 Höch, Thomas (1995). aaO. S. 77. 20 Denkschrift zum Einigungsvertrag. Bundestagsdrucksache 11/7760. https://dserver.bundestag .de/btd/11/077/1107760.pdf. 21 So im Ergebnis auch Wagner, Heiko (1994). aaO. S. 199. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 9 anders als Artikel 41 Abs. 3 des Einigungsvertrages22, keinen Hinweis für oder gegen eine bindende Zusage. Auch aus der systematischen Auslegung ergeben sich keine brauchbaren Ansätze. Im Rahmen der historischen Auslegung können Aussagen, die das Zustandekommen des Einigungsvertrages flankierten, relevant sein. So führt die Denkschrift zum Einigungsvertrag zu Artikel 37 aus: „Die Vereinigung der beiden Staaten in Deutschland macht auch Regelungen erforderlich, die Freizügigkeit und Durchlässigkeit zwischen Bildungssystemen und Bildungsgängen ermöglichen, die Mobilität in jeder Richtung fördern und die Gleichheit der Lebensverhältnisse auf längere Sicht garantieren. Dies setzt in ganz besonderem Maße die gegenseitige Anerkennung und Gleichstellung von Abschlüssen und Befähigungsnachweisen voraus . Artikel 37 sieht die dazu notwendigen Regelungen vor.“ Die Formulierung „auf längere Sicht“ könnte für eine beabsichtigte Bindungswirkung sprechen. Daneben könnte argumentiert werden, dass die nach dem Grundgesetz für den Bildungsbereich zuständigen Länder durch ihre gemeinsame Beschlussfassung im Rahmen der KMK und die seither auf der Grundlage dieser KMK-Beschlüsse getroffenen Entscheidungen implizit die Vorgaben von Artikel 37 des Einigungsvertrages akzeptieren und nicht an eine gesetzgeberische Änderung denken würden. Auch ließe sich der Sinn und Zweck des Artikels 37 heranziehen, der eine definitive Lösung der Frage der Anerkennung von Abschlüssen nahelegt Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR sollten danach wissen, woran sie in dieser für sie elementaren Frage sind. Schließlich könnte der deutliche Vereinigungsbezug von Artikel 37 für eine bindende vertragliche Zusage sprechen.23 Dagegen könnte argumentiert werden, dass die Denkschrift zum Einigungsvertrag zu Artikel 45 lediglich die Regelungen des Artikels 41 Abs. 3 als auf Dauer garantierte Rechte benennt und im Übrigen von einer Änderbarkeit des Einigungsvertrages durch den Bundesgesetzgeber ausgeht. 3.4. Rechtsfolgen einer Änderung Auch zu den Rechtsfolgen einer Änderung von Artikel 37 des Einigungsvertrages findet sich keine einschlägige Auseinandersetzung in der juristischen Literatur. Nachfolgend können daher nur Gesichtspunkte aufgezeigt und Risiken identifiziert werden, ohne abschließend eine Stellungnahme vorzunehmen. Ginge man von einer grundsätzlichen Änderbarkeit des Artikels 37 des Einigungsvertrages aus, könnte der Bundesgesetzgeber dessen Sperrwirkung zum Beispiel für bestimmte Doktorgrade einschränken und so seinen Regelungsbereich für abweichende Bestimmungen öffnen. 22 Art. 41 Abs. 3 zielt auf die Regelung von Vermögensfragen ab und lautet: „Im übrigen wird die Bundesrepublik Deutschland keine Rechtsvorschriften erlassen, die der in Absatz 1 genannten Gemeinsamen Erklärung widersprechen .“ 23 Höch, Thomas (1995): Der Einigungsvertrag zwischen völkerrechtlichem Vertrag und nationalem Gesetz. Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 677. S. 108 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 10 Solche Bestimmungen könnten nur vom zuständigen Landesgesetzgeber getroffen werden. Das Hochschulrecht fällt heute ganz überwiegend in die Regelungszuständigkeit der Länder (Art. 30, 70 Abs. 1 GG). Gesetzgebungskompetenzen des Bundes mit explizitem Hochschulbezug sieht nur noch Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG vor, wonach das Recht der Hochschulzulassung und der Hochschulabschlüsse zur konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes gehören.24 Auf dieser Grundlage kann der Bund die Hochschulabschlüsse vereinheitlichen, d.h. die Abschlussniveaus und Regelstudienzeiten mit dem Ziel der Gleichwertigkeit entsprechender Studienleistungen und -abschlüsse regeln.25 Der Entzug von erworbenen Titeln fällt nicht unter diesen Kompetenztitel . Eine bundesgesetzliche Regelung scheidet daher aus. Da sich die Hochschule des MfS in Potsdam befand, dürfte die eventuelle Schaffung einer Sonderregelung für den Umgang mit Doktorgraden dieser Hochschule in die Zuständigkeit des Landes Brandenburg fallen. Aufgrund der Auflösung der Hochschule des MfS bedürfte es in diesem Zusammenhang auch einer Zuweisung der Zuständigkeit für die Prüfung und Entscheidung der betreffenden Einzelfälle an eine bestimmte Institution. Eine eventuelle Regelung, die die nachträgliche Aberkennung von Doktortiteln der Hochschule des MfS vorsähe, dürfte zudem unter anderem folgende Aspekte zu berücksichtigen haben, mit der erhebliche rechtliche Unsicherheiten verbunden sein dürften: Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR genießen einen Vertrauensschutz hinsichtlich des Fortbestands der bereits 30 Jahre lang bestehenden Rechtslage. Diesem erheblichen Zeitablauf dürfte im Falle einer gerichtlichen Überprüfung von Titelaberkennungen eine erhebliche Bedeutung zuzumessen sein. Von ebenso hoher Bedeutung dürfte der Umstand sein, dass sowohl hinsichtlich der fehlenden Einhaltung wissenschaftlicher Standards als auch hinsichtlich der rechtlich höchst problematischen Inhalte der an der Hochschule des MfS verfassten Dissertationen spätestens mit der Aufarbeitung durch Günter Förster in seiner annotierten Bibliographie im Jahr 1994 Kenntnis bestand. Entscheidungen, die mehrere Jahrzehnte nach der Kenntnisnahme der betreffenden Umstände getroffen werden, dürfte das Argument der Verwirkung entgegengehalten werden. Nach diesen Maßstäben erschiene insbesondere die Entziehung von an der Hochschule des MfS verliehenen Doktorgraden allein aufgrund abweichender akademischer Qualitätsstandards rechtlich zweifelhaft. Weniger eindeutig dürfte die Rechtslage bei Doktorgraden sein, die menschenrechtsverletzende Inhalte aufweisen oder deren Forschungsarbeit auf Menschenrechtsverletzungen beruhte. Ein Bestands- und Vertrauensschutz am Fortbestand der Rechtslage kann eingeschränkt sein, wenn gegen fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen worden ist. Diese Erwägungen stünden auch im Einklang mit dem Rechtsgedanken des Artikels 19 des Einigungsvertrages : 24 BeckOK HochschulR NRW/von Coelln, 16. Ed. 1.9.2020, HG Grundlagen des Hochschulrechts in Deutschland Rn. 16 f. 25 BeckOK GG/Seiler, 45. Ed. 15.11.2020, Art. 74 Rn. 113. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 091/20 Seite 11 „Art 19 Fortgeltung von Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrags unvereinbar sind. Im übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt .“ Die Entziehung dürfte anhand des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen sein. Eine pauschalisierende Entziehung aller an der Hochschule des MfS erworbenen Doktorgrade dürfte ausscheiden, es sei denn, es ließe sich rechtssicher begründen, dass alle dort durchgeführten Promotionen menschenrechtsverletzende Inhalte aufweisen. Eine Einschätzung zu dieser Frage kann hier nicht getroffen werden. Es bleibt festzuhalten, dass eine landesrechtliche Regelung erheblichen rechtlichen Unsicherheiten begegnen würde und es vor einer Umsetzung einer vertieften juristischen Prüfung bedürfte. ***