© 2016 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 068/15 Benachteiligung von Jungen im Bildungswesen Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 2 Benachteiligung von Jungen im Bildungswesen Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 068/15 Abschluss der Arbeit: 12. Oktober 2015 Fachbereich: WD 8: Umweltschutz, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 5 2. Zur Hypothese: „Jungen – die neuen Bildungsverlierer“ 6 3. Art und Ausmaß der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem 7 4. Mögliche Erklärungen für die Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen 9 4.1. Zur Erklärung durch biologische Unterschiede 9 4.2. Zur Erklärung durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Verhaltensweisen 11 4.3. Zur Erklärung durch Feminisierung der Schule 13 4.4. Mangelnde Passung von Schulkultur und Verhaltensstilen von Jungen 15 5. Abschließende Betrachtung 18 6. Wertorientierung als Erfolgsindikator 19 7. Zum Wandel des Wertewandels 19 7.1. Gruppenunterschiede im Wertewandel 21 7.2. Wertorientierungen und Bildungsaspirationen in den sozialen Milieus 22 7.3. Wertorientierungen und Bildungsaspirationen in den Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund 24 7.4. Menschen mit Migrationshintergrund und Bildungsaspirationen 25 7.5. Bildungseinstellungen in den Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund 28 7.6. Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund und Weiterbildungsinteressen 28 8. Zum Vergleich des Bildungserfolges von Mädchen und Jungen 29 9. Abschließende Betrachtung 31 10. Geschlechtsspezifische Disparitäten im allgemeinbildenden Schul- und Bildungssystem 34 10.1. Geschlechtsspezifische Disparitäten in Berufsausbildung und Studium 35 10.2. Geschlechtsspezifische Disparitäten am Arbeitsmarkt 36 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 4 11. Zur Frage nach mehr Lehrern an Grundschulen 37 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 5 1. Einleitung Verschiedene Arten der Ungleichheiten in den Bildungschancen sind seit einem guten Jahrzehnt durch die bildungssoziologische Forschung vielfach dokumentiert worden. Konnte das Datenmaterial zu den strukturellen Bildungsbenachteiligungen in den 60er Jahren gut zur Formel von der „katholischen Arbeitertochter vom Lande“ verdichtet werden, so hat sich die neuere Diskussion verstärkt dem „muslimisch männlichen Jugendlichen aus der Trabantenstadt“ zugewandt. In der nachfolgenden Dokumentation werden zwei Forschungsansätze dargelegt, die abseits der inzwischen allgemein anerkannten Erklärungen für die Benachteiligungen im Bildungssystem (mangelnde bzw. fehlende Sprachkenntnis, KiTa (Kinder-Tagesstätte) -Betreuung, Ganztagsbeschulung , soziale Stellung, Migrationshintergrund) speziell für Benachteiligungen von Jungen im Bildungssystem anbieten. Diese Forschungsansätze sind umstritten und werden in der wissenschaftlichen Fachwelt kontrovers diskutiert. In ihrem Aufsatz „Jungen – die `neuen` Bildungsverlierer“1 beschreibt Heike Diefenbach die Feminisierung im Bildungswesen, die vor allem in der frühkindlichen Erziehung und im primären Schulbereich zu einer Benachteiligung von Jungen geführt hat. Eine der Argumentationslinien, die die „Feminisierung der Schule“ als negativ für die Schulleistungen der Jungen betrachten, verweist auf das Fehlen männlicher Vorbilder und Leitbilder in der Schule. Die Ausgestaltung der geschlechtlichen Zugehörigkeit bei Jungen funktioniert, verkürzt dargestellt, durch die Abgrenzung von der „Andersartigkeit“ der Frauen, während Mädchen sich über die Identifikation mit der Mutter entwickeln. (Kapitel 2-5) Einen ganz anderen Ansatz zur Erklärung der Benachteiligung von Jungen im Bildungsbereich bieten die Autoren um Heiner Barz. In ihrem Aufsatz „Kulturelle Bildungsarmut und Wertewandel “ untersuchen die Autoren, welche Rolle die Einstellungen der jungen Menschen für den Erfolg in Bildung und Beruf spielen, ob unterschiedliche Bildungsverläufe mit Hilfe bestimmter Einstellungsmuster erklärt werden können, und in wieweit der geringere Erfolg der männlichen Schüler im allgemein bildenden Bildungssystem eventuell mit deren Einstellung zur Leistung erklärt werden kann. Einen Schlüssel zur Beantwortung einer solchen Frage bietet nach Ansicht der Autoren die Wertewandelforschung, die seit Jahrzehnten die Einstellungen junger Menschen erhebt und dokumentiert. (Kapitel 6-9) Im Kapitel 10 wird der aktuelle Stand der geschlechtsspezifischen Disparitäten im allgemeinbildenden Schulsystem wiedergegeben. Im elften Kapitel wird der Frage nachgegangen, ob Jungen bei ihrer Kompetenzentwicklung durch den Unterricht bei einer männlichen Lehrkraft mehr profitieren könnten. 1 Diefenbach, Heike (2010). Jungen – die „neuen“ Bildungsverlierer. Aus: Quenzel, Gudrun; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.) (2010). Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Im Internet abrufbar unter: http://link.springer .com/chapter/10.1007%2F978-3-531-92576-9_12# [zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2015]. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 6 2. Zur Hypothese: „Jungen – die neuen Bildungsverlierer“2 In ihrem Aufsatz „Jungen – die `neuen` Bildungsverlierer“ beschreibt Heike Diefenbach, dass gemeinhin Bücher über Bildungsbeteiligung oder -erfolg verschiedener sozialer Gruppen keine Beiträge über die Situation von Jungen im deutschen Bildungssystem oder über Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im deutschen Bildungssystem enthielten. Sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in der Bildungsforschung galt es als Binsenweisheit und politisch korrekt , dass es Mädchen und Frauen seien, die in allen Teilen der Gesellschaft Nachteile gegenüber Jungen und Männern hätten (Vergl.: Diefenbach, Heike 2010: 245). „In einem Teil der geschlechterforscherischen Literatur konzentriert man sich in einer Art Rückzugsgefecht nach wie vor ausschließlich auf die Frage, warum Mädchen in Mathematik und in den Naturwissenschaften weniger gute Leistungen erbringen als Jungen. Man fragt auch, warum es jungen Frauen nicht gelingt, angesichts ihrer guten Leistungen nicht im selben Ausmaß wie Jungen in den entsprechenden Disziplinen in der tertiären Bildung oder auf dem Arbeitsmarkt präsent zu sein, wobei zum einen umstandslos davon ausgegangen wird, dass der Grund hierfür nur eine Benachteiligung oder Diskriminierung sein könne, zum anderen die Diskussion verschoben wird, weg von der Frage nach Verteilungsgerechtigkeit im Bildungsbereich und hin zur Frage nach Verteilungsgerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Letztere ist ihrerseits legitim und wichtig, bezieht sich aber eben auf einen anderen Aspekt von Verteilungsgerechtigkeit, der nicht sinnvoll mit dem ersten ´verrechnet ` werden kann. […] Seine Relevanz und Brisanz erhält die Diskussion der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im deutschen Bildungssystem aber nicht nur vor dem Hintergrund der ideologischen Orientierung der gesellschaftspolitisch relevanten Akteure an vergangenen Dekaden, sondern auch und für manche vor allem vor dem Hintergrund, dass das deutsche Bildungssystem wie jedes moderne Bildungssystem (noch) für sich in Anspruch nimmt, die Zertifikate, die es vergibt, aufgrund meritokratischer Prinzipien zu vergeben, und diesbezüglich sind Bildungs- und Ungleichheits- bzw. Gerechtigkeitsforschung untrennbar miteinander verbunden: Wenn in gesellschaftlichen Institutionen wie dem Bildungssystem, die sich selbst als meritokratisch verstehen und vor diesem Hintergrund legitimieren, statistisch auffällige Verteilungen der von ihnen bereitgestellten Güter auf verschiedene Bevölkerungsgruppen festgestellt werden, so bietet diese Beobachtung Anlass zu untersuchen , wie diese Verteilung zustande kommt. Legt man die statistische Normalverteilung aller Merkmale in einer Bevölkerung und ebenso in Subgruppen der Bevölkerung zugrunde, so wäre gemäß eines meritokratischen Verteilungsprinzips eine ungefähre Gleichverteilung von Gütern auf verschiedene soziale Gruppen zu erwarten. Für Bildungsabschlüsse würde das bedeuten, dass man von einer ungefähren Gleichverteilung von Talenten und Leistungsstreben innerhalb 2 Diefenbach, Heike (2010). Jungen – die „neuen“ Bildungsverlierer. Aus: Quenzel, Gudrun; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.) (2010). Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 7 aller sozialen Gruppen, die man bilden mag – Frauen und Männer, Migranten und Nicht-Migranten, Blauäugige und Braunäugige etc. – ausgeht, die sich ihrerseits in einer ungefähr gleichen Verteilung von Bildungszertifikaten in allen Gruppen niederschlagen müsste. Dementsprechend dürfte ein Vergleich der Bildungszertifikate zwischen den Gruppen keine nennenswerten Unterschiede erbringen , wenn der Erwerb von Bildungszertifikaten (allein) eine Funktion der Talente und des Leistungsstrebens von Individuen wäre und die Annahme der Normalverteilung aller Merkmale in einer gegebenen Bevölkerung richtig wäre. Wenn er es doch tut – und dies ist empirisch die Regel –, dann sind andere Merkmale wirksam.“ (Ebenda: 245ff.) „Aufgabe von Bildungs- und Ungleichheitsforschern ist es zu beschreiben, wie diese komplexe Funktion in einem spezifischen Kontext aussieht. Ihre Aufgabe ist es zu klären, inwieweit die ungleiche Verteilung von Bildungserfolg, z. B. in Form von Bildungszertifikaten, auf Handlungen und Handlungsbedingungen auf der Ebene von Individuen oder Familien zurückgeführt werden kann, und inwieweit auf Selektionsmechanismen, die in den Bildungsinstitutionen wirken. Dabei sind Letztere besonders wichtig, weil es hier für die Bildungspolitik möglich ist, direkt in manipulatorischer Absicht einzugreifen. […] Nur dann, wenn man diese Zusammenhänge identifizieren kann, kann man angeben , wie, wo und warum von der Verteilung von Bildungszertifikaten gemäß des meritokratischen Prinzips als Norm, d.h. als Soll-Zustand, abgewichen wird und wie man die Verteilung ggf. manipulieren kann. […] Hier wird das meritokratische Prinzip als eine Handlungsnorm aufgefasst, die es in einer Zivilgesellschaft möglichst in die Realität umzusetzen gilt, insbesondere in den Bildungsinstitutionen, die in einer sich verändernden sozialen Umwelt immer wieder Anpassungshandlungen im Sinne der meritokratischen Handlungsnorm leisten müssen. Die Untersuchung der Nachteile, die Jungen gegenüber Mädchen aktuell im Bildungssystem Deutschlands haben, ist also gleichermaßen als Teil der Bildungs-, Ungleichheits- und Gerechtigkeitsforschung im beschriebenen Sinn zu sehen, nicht jedoch … als Parteinahme für (oder gegen) ein Geschlecht. […] Die derzeit beobachteten Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen sind daher in der inhaltlichen Ausprägung, aber nicht in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz anders einzuschätzen als die Befunde Rolf Dahrendorfs zur stark ungleichen Bildungsbeteiligung verschiedener sozialer Gruppen aus dem Jahr 1965, die er in der Kunstfigur des ` katholischen Arbeitermädchens vom Lande´ zusammenfasste, in der all diejenigen sozialen Gruppen benannt wurden, die zu Dahrendorfs Zeit Gruppen mit relativen Bildungsnachteilen waren.“ (Ebenda: 247f.). 3. Art und Ausmaß der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem „Im Interesse einer kompakten Darstellung sei hier nur auf einige ausgewählte Indikatoren eingegangen, von denen man plausibler Weise behaupten kann, dass ihnen eine große Bedeutung für die Bildungskarriere zukommt, und die (deshalb) Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 8 häufig zur Messung von Bildungserfolg herangezogen werden, nämlich die Einschulung , die Schulleistungen, der Übergang vom Primar- in den Sekundarbereich bzw. der besuchte Sekundarschultyp und die formalen Bildungsabschlüsse, mit denen junge Menschen aus dem Sekundarbereich austreten. Bereits bei der Einschulung bestehen Nachteile für Jungen gegenüber Mädchen: Betrachtet man die Zeitreihe der Schuljahre 1995/96 bis 2006/07, so zeigt sich, dass über den gesamten Zeitraum hinweg Mädchen häufiger vorzeitig und seltener verspätet eingeschult wurden als Jungen. Speziell für das Schuljahr 2006/2007 gilt nach eigenen Berechnungen anhand von Daten des Statistischen Bundesamtes, dass von allen im Bundesgebiet eingeschulten Jungen 87,3 Prozent fristgemäß, 5,7 Prozent vorzeitig und 6 Prozent verspätet eingeschult wurden. Unter den eingeschulten Mädchen betrugen die entsprechenden prozentualen Anteile 87 Prozent, 8,7 Prozent und 3,5 Prozent. Während also bezüglich der fristgemäß Eingeschulten kein nennenswerter Unterschied zwischen Jungen und Mädchen besteht, sind unter den nicht fristgemäß Eingeschulten Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu beobachten, die nachteilig für Jungen sind, u. a. deshalb , weil Kinder, die bei der Einschulung zurückgestellt wurden bzw. die schon in der Grundschule eine Klasse wiederholt haben, geringere Chancen haben, den Übertritt in ein Gymnasium zu schaffen. In der Grundschule erzielen Mädchen etwas bessere Leistungen im Lesen als Jungen , während Jungen bessere Leistungen in den Naturwissenschaften und in Mathematik erbringen. Dennoch ist die Wiederholerquote von Jungen bereits in der Grundschule höher als die von Mädchen. Weil für die Grundschulempfehlung vor allem die Leistungen der Kinder in den genannten Fächern ausschlaggebend sind, wäre zu erwarten, dass Jungen und Mädchen zu etwa gleichen Anteilen Grundschulempfehlungen für das Gymnasium oder andere Sekundarschultypen erhalten . Für Bremen [wurde] aber gezeigt, dass Jungen dennoch seltener als Mädchen eine Empfehlung für höher qualifizierende Schulformen erhalten. Auch in Hamburg müssen Jungen bessere Leistungen erbringen als Mädchen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten. Dementsprechend besuchen Jungen häufiger als Mädchen eine Hauptschule und Mädchen deutlich häufiger als Jungen ein Gymnasium. Im Schuljahr 2006/07 besuchten 17,4 Prozent der Jungen und 13,9 Prozent der Mädchen in der Sekundarstufe eine Hauptschule, und 37 Prozent der Jungen und 43,8 Prozent der Mädchen ein Gymnasium. Ein deutlicher Unterschied zwischen Jungen und Mädchen besteht auch in Bezug auf den Besuch einer Förderschule: Während im Schuljahr 2006/07 8,4 Prozent der Jungen eine Förderschule besuchten, waren es nur 5 Prozent der Mädchen. Jungen sind an Förderschulen gegenüber Mädchen mit einem Relativen Risiko- Index von 1,7 überrepräsentiert, d. h., dass auf drei Mädchen in etwa fünf Jungen an Förderschulen kommen. Besonders ausgeprägt ist ihre Überrepräsentation im Förderschwerpunkt `emotionale und soziale Entwicklung´, also einem Förderbereich, in dem die Diagnostik besonders schwierig und der Raum für die Durchsetzung normativer Sollvorgaben besonders groß ist. Während des Sekundarschulbesuchs wird der Vorsprung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 9 der Jungen gegenüber den Mädchen in Mathematik geringer, während die Mädchen ihren Vorsprung in Deutsch ausbauen“ (Ebenda: 249). Daraus folgert die Autorin: „Dies bildet nicht unbedingt die tatsächliche Leistungsentwicklung bei Jungen und bei Mädchen ab, sondern hat damit zu tun, dass an Jungen und Mädchen unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden: Anhand der Daten aus der PISA- Studie lässt sich zeigen, dass der statistische Zusammenhang zwischen der im Mathematiktest erzielten Leistung und der Mathematiknote bei Mädchen deutlich stärker ist als bei Jungen und dass der Anteil der angesichts ihrer im Mathematiktest gezeigten Leistungen Unterbewerteten unter Jungen deutlich größer ist als unter Mädchen, während der Anteil der Überbewerteten unter Mädchen größer ist als unter Jungen. Dies ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, warum Jungen in allen Jahrgangsstufen häufiger eine Klasse wiederholen müssen als Mädchen. Weil die beschriebenen Nachteile der Jungen im Verlauf des Bildungs- und Selektionsprozesses kumulieren, sollten sie sich im Vergleich zu den Mädchen in deutlich niedriger wertigen Sekundarschulabschlüssen niederschlagen. Den erreichten Sekundarschulabschlüssen kommt besondere Bedeutung zu, weil sie es sind, die letztlich die Lebenschancen einer Person definieren, angefangen von ihren Weiterbildungschancen über ihre Einkommenschancen und Arbeitslosigkeitsrisiken bis hin zu ihren Chancen, gesund zu bleiben und möglichst lange zu leben“.(Ebenda: 250) 4. Mögliche Erklärungen für die Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen 4.1. Zur Erklärung durch biologische Unterschiede „Von der Erklärung durch biologische Unterschiede zu sprechen, ist insofern nicht ganz korrekt als unter dieser Bezeichnung eine Reihe von Erklärungsvorschlägen zusammengefasst werden, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie sich auf die naturgegebene Geschlechtlichkeit der Menschen beziehen, sei es in Form differentieller vorgeburtlicher Gehirnentwicklung, in Form einer evolutionär bedingten geschlechtsspezifischen Psychologie oder in Form differentieller körperlicher und mentaler Reifung. Zu den populärsten Vorstellungen aus diesem Paradigma gehören diejenigen, dass Jungen aufgrund der Beschaffenheit ihres Gehirnes ein größeres räumlichvisuelles Vorstellungsvermögen hätten als Mädchen, während Mädchen und Frauen größere verbale Fähigkeiten hätten, dass Männer im Verlauf der Evolution eine größere Aggression, eine größere Mobilität und ein höheres Aktivitätsniveau, ein größeres Konkurrenzverhalten und eine größere Risikobereitschaft entwickelt haben als Frauen, und dass Mädchen schneller als Jungen körperlich reifen. […] So werden die schlechteren Leistungen von Jungen im Lesen auf ihre geringere Lesefähigkeit zurückgeführt, die wiederum auf ihre andere vorgeburtliche Gehirnentwicklung zurückgeführt wird, und die häufigere Zurückstellung von Jungen als von Mädchen von der Einschulung bzw. die häufigere vorzeitige Einschulung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 10 von Mädchen als von Jungen kann dadurch erklärt werden, dass Mädchen schneller reifen und daher früher schulreif seien als Jungen. Die Schwierigkeit einer solchen Erklärung liegt darin, dass sie mehrere Zusammenhangsaussagen umfasst, von denen zwei (die Zusammenhangshypothesen 1 und 3) als gegeben vorausgesetzt werden und die Zusammenhangshypothese 2 als Kernstück der Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem durch biologische Faktoren postuliert wird, aber gänzlich ungeprüft bleibt, inwieweit sie zutrifft bzw. relevant ist“ (Ebenda: 252f.). „Was Zusammenhangshypothese 1 betrifft, so ist festzuhalten, dass sie in den Disziplinen, die unmittelbar mit ihr befasst sind, keineswegs unumstritten ist und beide Seiten in der Debatte um die neuronalen, soziobiologischen und entwicklungspsychologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zumindest teilweise mit so fachspezifischen Argumenten für ihre jeweiligen Positionen streiten , dass es für den durchschnittlichen Sozialwissenschaftler schwierig ist, sich ein eigenes Urteil über die in Frage stehenden Punkte zu bilden. Dort, wo ihm dies möglich ist, kommt er nicht umhin zu erkennen, dass viele empirische Befunde z. B. zum differenziellen Sozialverhalten von Männern und Frauen bzw. Jungen und Mädchen widersprüchlich und teilweise Forschungsartefakte sind. Wenn z. B. als aggressives Verhalten lediglich physische oder verbale Aggression untersucht wird, so sind Jungen aggressiver als Mädchen. Wird jedoch auch indirekte oder relationale Aggression in Form sozialen Ausschlusses oder des Entzugs von Freundschaft berücksichtigt, so sind Mädchen aggressiver als Jungen. Wenn aggressives Verhalten in der Schule und Störung des Unterrichtes als jungentypisches Verhalten gelten, so lässt sich dies also nicht als Produkt einer biologisch fundierten größeren Aggressionsbereitschaft per se von Jungen auffassen. Auch die Tatsache, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowohl im Hinblick auf Sozialverhalten als auch auf kognitive Fähigkeiten mit der Zeit geringer werden, spricht gegen eine weitgehende biologische Determinierung beobachtbarer geschlechtsspezifischer Fähigkeiten und Verhaltensstile. […] Und mit Bezug auf die Zurückstellungen von der Einschulung aufgrund mangelnder Reife bzw. nicht vorhandener Schulreife fragt man sich, warum der diesbezügliche Unterschied zwischen Jungen und Mädchen nicht viel größer ist als er es tatsächlich ist. Und wenn Mädchen tatsächlich biologisch bedingt früher schulreif sind als Jungen, so ist die Einschulung der meisten Jungen und Mädchen im selben Alter als für Jungen benachteiligend einzustufen, und Verfechter der Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem durch biologische Faktoren müssen daher ihre Erklärung um eine Komponente ergänzen, nämlich Diskriminierung. Mit der Erklärung durch biologische Faktoren wäre der berichtete Befund kompatibel, nach dem Jungen ausnahmslos in allen Bundesländern niedriger wertige Sekundarschulabschlüsse erreichen als Mädchen, aber nicht mit ihr vereinbar ist der Befund, nach dem diesbezüglich deutliche Differenzen zwischen den Bundesländern und insbesondere zwischen den ostdeutschen und den westdeutschen Bundesländern bestehen“ (Ebenda: 253f.). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 11 Problematisch ist auch Zusammenhangshypothese, dass man seit langem weiß, dass die Bewertung einer Schülerleistung auch von der Person des Lehrers abhängt. Darüber hinaus können unabhängige Beurteiler für dieselben Aufsätze verschiedene Zensuren vergeben. Daraus folgt, dass der Zusammenhang zwischen Lernfähigkeit und -willigkeit einerseits und Bildungserfolg andererseits bei weitem nicht so eng ist, wie man dies vielleicht vermutet . Wenn aber institutionelle Faktoren wie die Person des Lehrers oder schul- oder bundeslandinterne Maßstäbe zur ungleichen Bewertung gleicher Leistungen führen, dann greift jede Erklärung differenziellen Bildungserfolges zu kurz, die diese Faktoren außer Acht lässt (Vergl.: Ebenda: 254). „Sofern aber doch Handlungsbedarf besteht, besteht er insofern, als die auf biologischen Faktoren beruhende Ungleichartigkeit von Jungen und Mädchen eine entsprechende konsequente Ungleichbehandlung erfordert“ (Ebenda: 254.). 4.2. Zur Erklärung durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Verhaltensweisen „Ein Kritikpunkt, den man zusätzlich zu den oben genannten an der Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem durch biologische Faktoren anbringen kann, ist derjenige, dass die Grundlage für geschlechtsspezifisches Handeln in der sozialen Welt nicht das biologische Geschlecht oder genetische Geschlecht ist, sondern das Geschlecht als soziale Konstruktion, also das, was im englischsprachigen Raum als `gender´ bezeichnet wird. In der biologischen Erklärung wird das soziale Geschlecht entweder als gänzlich irrelevant betrachtet, oder es wird umstandslos mit dem biologischen Geschlecht (`sex´) gleichgesetzt. In der Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Verhaltensweisen wird dagegen davon ausgegangen, dass es das soziale Geschlecht sowie die Geschlechtsidentität ist, der die alleinige oder hauptsächliche Erklärungskraft zukommt. Unter `sozialem Geschlecht´ werden dabei die kulturell tradierten Geschlechterrollen und die mit ihnen verbundenen Konnotation von Eigenschaften und Verhaltensweisen als (typisch) `männlich´ oder `weiblich´ verstanden , die Personen auf der Basis ihres wahrgenommenen biologischen Geschlechts einer bestimmten Geschlechtsklasse zuordnen. Unter `Geschlechtsidentität ´ wird das Zugehörigkeitsgefühl zu einem sozialen Geschlecht oder zu einer Geschlechtsklasse verstanden. Geschlechterrollen werden Kindern während der Sozialisation vermittelt, und aufgrund ihrer Erfahrungen im Sozialisationsprozess erwerben Kinder eine Geschlechtsidentität. […] Mit Bezug auf die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem wird argumentiert , dass mit der weiblichen bzw. männlichen Geschlechtsrolle und entsprechenden Geschlechtsidentitäten jeweils spezifische Präferenzen und Verhaltensweisen verbunden sind, die sich im Fall der weiblichen Geschlechtsidentität insgesamt günstig auf den Bildungserfolg auswirken, im Fall der männlichen aber ungünstig. […] Eine konkret formulierte Erwartung wäre, dass Jungen und Mädchen sich in der Schule vor allem in solchen Fächern engagieren und ihre Kompetenzen weiterentwickeln , die als geschlechtsadäquat gelten, und dies könnte dafür verantwortlich sein, dass Mädchen sich eher im Fach Deutsch oder in anderen sprachlichen Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 12 Fächern engagieren, Jungen dagegen eher im Fach Mathematik oder in den Naturwissenschaften . Wenn soziale Kompetenz, Anpassungsvermögen und indirekte Aggression ´typisch weibliche` Merkmale sind, aber genau diese Merkmale vorteilhaft für das erfolgreiche Durchlaufen der Bildungslaufbahn sind, dann könnte der insgesamt geringere Bildungserfolg von Jungen als von Mädchen hierdurch möglicherweise erklärt werden. Auch die These, dass die Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen aus einer Abwehrhaltung von Jungen gegenüber der Schule als (typisch) ` weiblicher´ Institution resultieren, lässt sich im Kontext der Erklärung durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Verhaltensweisen verorten. Für die empirische Prüfung der Erklärung der Bildungsnachteile der Jungen gegenüber den Mädchen durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Präferenzen und Verhaltensweisen wäre also eine Vielzahl von Präferenzen sowie motivationalen und behavioralen Variablen auf ihre Effekte auf Bildungserfolg hin zu untersuchen. Dies geschieht bislang in Deutschland aber nur selten. Zwar liegen aus der so genannten `doing gender´-Forschung zahlreiche, meist in der ethnographischen Tradition verfasste Beschreibungen darüber vor, wie Jungen oder Mädchen ihre Geschlechtsidentität im Schulalltag ausdrücken oder inszenieren , aber dies allein erlaubt keinerlei Aussagen darüber, ob und wie sich Geschlechtsidentitäten auf Lernfähigkeit, -willigkeit und -chancen auswirken. Solange diese Beschreibungen nicht systematisch in Beziehung gesetzt werden zu Erwartungen darüber, wie genau sich Geschlechtsidentitäten auf bildungsrelevante Größen bzw. Bildungserfolg auswirken, sind diese Studien für die Erklärung von relativem Bildungserfolg oder -misserfolg mangels Beachtung desselben irrelevant . Auch einfache deskriptive Fragen, die auf der Grundlage möglichst umfassender bzw. aussagekräftiger Umfragedaten basieren sollten, wie diejenige danach , wie weit unter Jungen und Mädchen eine Abwehrhaltung gegen die Schule tatsächlich verbreitet ist, sind bislang unbeantwortet“ (Ebenda: 255ff.). „Bei den wenigen Studien, die beides – Präferenzen, motivationale und behaviorale Variablen einerseits und Maße für Bildungserfolg andererseits – berücksichtigen und in Beziehung zueinander setzen, handelt es sich um die international vergleichenden Schulleistungsstudien, und hier haben sich für Deutschland gemischte Befunde ergeben. (…) Amerikanische Studien über die differenzielle soziale und emotionale Kompetenz von Jungen und Mädchen haben festgestellt, dass die Art, wie und wie oft Eltern über Gefühle sprechen, mit dem Geschlecht ihrer Kinder variiert, und zwar bereits dann, wenn die Kinder drei Jahre alt sind. Mit Töchtern sprechen Eltern häufiger über Gefühle allgemein und speziell über negative Gefühle wie Traurigkeit als mit Söhnen. (…) Im Alter von knapp sechs Jahren unterscheiden sich die untersuchten Jungen und Mädchen entsprechend des differentiellen Gesprächsverhaltens ihrer Eltern in ihrem eigenen sprachlichen Ausdruck von Emotionen. Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie ist, dass Mütter und Väter mit ihren Töchtern gleichermaßen häufiger und anders über Gefühle sprachen als mit ihren Söhnen. Das heißt, dass allein das Geschlecht des Kindes, nicht das des jeweiligen Elternteils wichtig ist in Bezug darauf, wie und wie oft über Gefühle Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 13 gesprochen wird, oder anders gesagt: Mütter und Väter scheinen dieselben Vorstellungen darüber zu haben, wie man `angemessen´ mit Jungen und Mädchen über Gefühle sprechen sollte. Immerhin liegt mit Bezug auf die Effekte elterlicher Sozialisation auf die Motivation und die Leistungen von Jungen und Mädchen im mathematisch-naturwissenschaftlich -technischen Bereich eine Studie vor, die gezeigt hat, dass vermittelt über die Fähigkeitsselbstkonzepte der Kinder ein Effekt der Überzeugungen der Eltern besteht. Für die Domänen Physik und Mathematik konnte gezeigt werden, dass sich dieses geschlechtskonservative Denken von Eltern kontrastiv auf Jungen und Mädchen auswirkt. Jungen profitieren im Hinblick auf Motivation und schulisches Leistungshandeln , wenn ihre Eltern traditionellen Geschlechtsstereotypen verbunden sind. Mädchen werden von der geschlechtskonservativen Erwartung ihrer Eltern, dass sie weniger begabt seien als Jungen, substanziell beeinträchtigt. Wenn man entsprechend vermuten darf, dass Söhne geschlechtskonservativer Eltern von der Überzeugung, dass sie sprachlich weniger begabt seien als Mädchen, hinsichtlich ihrer Lesemotivation und ihrer Leistungen in sprachlichen Fächern beeinträchtigt werden, dann erklärt das einen spezifischen bildungsrelevanten Nachteil, den Jungen gegenüber Mädchen haben. Aber damit die Erklärung der Bildungsnachteile von Jungen durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifisches Verhalten (und damit letztlich durch geschlechtsspezifische Sozialisation ) als valide gelten kann, müsste gezeigt werden, dass die männliche Sozialisation auf umfassendere Weise von Vorstellungen und Motiven geprägt ist, die bildungsfördernden Faktoren tatsächlich entgegenstehen. Mangels aktueller Forschung über elterliche Sozialisationspraktiken liegt dies derzeit in weiter Ferne“ (Ebenda: 257f.). 4.3. Zur Erklärung durch Feminisierung der Schule Eine weitere Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem resultiert aus der Beobachtung, dass der Lehrerberuf eine weitgehende Feminisierung erfahren hat und der größte Teil der deutschen Lehrerschaft aus Frauen besteht. Im Schuljahr 2007/08 betrug der Frauenanteil an der hauptberuflichen Lehrerschaft 69 Prozent (Vergl.: Ebenda: 259). „Besonders im Primärbereich, aber auch im Sekundarbereich mit Ausnahme des Gymnasiums war die Mehrheit der Lehrerinnen groß: An Grundschulen betrug der Lehrerinnenanteil 88 Prozent, an Hauptschulen 60,5 Prozent, an Realschulen 63 Prozent und an Gymnasien 53 Prozent. Auch an Förderschulen sind Lehrerinnen mit gut 75 Prozent deutlich in der Mehrheit. Diese Verteilung ist im Hinblick auf die Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen wichtig, wenn vermutet wird, dass mit der starken Präsenz von Frauen an Schulen eine Feminisierung der Schulkultur einhergeht, was sich sowohl in der Unterrichtspraxis als auch in der positiven oder negativen Sanktion bestimmter Haltungen und Verhaltensweisen der Schülerinnen und Schüler niederschlagen könnte. (…) Wenn man davon ausgeht, dass Mädchen aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, diesen Verhaltensnormen Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 14 zu entsprechen, kann man vermuten, dass ihr Verhalten den Erwartungen von Lehrerinnen eher entsprechen und daher positiver beurteilt wird als das von Jungen . Als Erklärung für die Bildungsnachteile von Jungen taugt diese Argumentation aber nur, wenn diese Beurteilungen sich (auch) auf Beurteilungen der Motivation und der Leistungsfähigkeit der Kinder beziehen. Eine weniger günstige Beurteilung von Motivation oder Leistungsfähigkeit von Jungen als von Mädchen kann sich niederschlagen in einer weniger günstigen Beurteilung und Wahrnehmung der Leistungen, die Jungen erbringen, durch Lehrerinnen, oder sie kann im Sinne eines Pygmalion- Effektes dazu führen, dass Jungen demotiviert werden oder ein negatives Selbstfähigkeitsbild entwickeln, was sich wiederum negativ auf die von ihnen tatsächlich erbrachten Leistungen auswirkt. (…) Die Erklärung der Nachteile von Jungen gegenüber Mädchen im Bildungssystem durch die Feminisierung der Schule stößt bei einigen Autoren und – vor allem – Autorinnen auf Widerstand, weil sie mit ihr den Vorwurf an Lehrerinnen verbunden sehen, Jungen bewusst zu diskriminieren. Zwar ist es durchaus möglich, dass Lehrerinnen Jungen bewusst diskriminieren, aber von einer bewussten Diskriminierung von Jungen durch Lehrerinnen wird im Rahmen dieser Erklärung nicht ausgegangen, wie anhand der oben vorgenommenen Beschreibung dieser Erklärung deutlich geworden sein sollte. In einer Variante dieser Erklärung wird dies noch deutlicher, weil in ihr nur insofern ein Effekt von Lehrerinnen postuliert wird als die starke Präsenz von Frauen in den Schulen dazu führt, dass Jungen kein positives Rollenmodell in Person eines männlichen Lehrers zur Verfügung steht“ (Ebenda: 258ff.). „Die Vorstellung, nach der eine Lehrkraft gleichgeschlechtlichen Schülern als (Geschlechts-) Rollenmodell dient und sie daher besser als eine gegengeschlechtliche Lehrkraft zum Lernen und zur Leistung motiviert und ihnen ein positives Fähigkeitsselbstkonzept vermitteln kann, ist aus der Theorie sozialer Vergleiche abgeleitet, die mit Bezug auf die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten in einem bestimmten Feld eine so genannte Ähnlichkeitshypothese aufgestellt hat: (…) Selbst dann, wenn Personen Geschlecht als für die in Frage stehende Aufgabe, bezüglich derer sie ihre Leistungsfähigkeit einschätzen wollen, irrelevant halten, wählen sie häufiger gleichgeschlechtliche Personen als Vergleichsmaßstäbe als ungleichgeschlechtliche. Speziell mit Bezug auf Frauen wurde festgestellt, dass Frauen, die eine stark ausgeprägte Geschlechtsidentität haben, auch dann gleichgeschlechtliche Personen als Vergleichsmaßstab wählen, wenn `Geschlecht´ für die einzuschätzende Eigenschaft irrelevant ist, dass aber Frauen, die sich nicht stark mit einer weiblichen Geschlechtsidentität identifizieren, sich nur dann mit gleichgeschlechtlichen Personen vergleichen, wenn `Geschlecht´ für die Einschätzung der in Frage stehenden Eigenschaft relevant, also tatsächlich ein `related attribute´ ist. Wenn Gleichgeschlechtlichkeit ein wichtiger Faktor ist, anhand dessen ein Kind sich ein Bild davon zu machen versucht, was es in einer bestimmten Domäne zu leisten im Stande ist, so ist plausibel, dass Jungen in der Person ihrer Lehrerin weniger als Mädchen einen Vergleichsmaßstab bzw. ein Rollenmodell mit Bezug auf das, was sie selbst im schulischen Bereich zu leisten vermögen, sehen (und entsprechend Mädchen in Lehrern). […] Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 15 Beide Varianten der Erklärung der Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen durch die Feminisierung der Schule können im Prinzip den doppelten Befund erklären, nach dem diese Nachteile in allen Bundesländern . bestehen, dies aber in unterschiedlichem Ausmaß, nämlich dann, wenn in den betrachteten Ländern der Anteil der Lehrerinnen in der Lehrerschaft variiert. Dies ist der Grund dafür, warum Diefenbach und Klein (2002) in ihrer Studie, die diesen doppelten Befund erbracht hat, die Variable `Anteil der Lehrerinnen an der Lehrerschaft in der Grundschule´ auf ihren Zusammenhang mit der Verteilung von Sekundarschulabschlüssen auf Jungen und Mädchen geprüft haben, und tatsächlich hat sich gezeigt, dass beides statistisch miteinander korreliert: Im Aggregat sind die von Jungen erzielten Sekundarschulabschlüsse umso höherwertiger, je niedriger der Anteil der Lehrerinnen an der Lehrerschaft an Grundschulen ist (Diefenbach/Klein 2002: 953). Auch wenn die Aggregatdatenanalyse diesen Zusammenhang bestätigt, so erlaubt sie doch keine Aufschlüsse darüber, warum der Zusammenhang von Geschlecht der Grundschullehrkraft und später erzieltem Sekundarschulabschluss besteht. Notwendig wären Studien, die diesen Zusammenhang oder andere Zusammenhänge zwischen dem Geschlecht einer Lehrkraft und verschiedenen Maßen für von Jungen und Mädchen erbrachte Leistungen prüft. Solche Studien sind aber für Deutschland nicht verfügbar“ (Ebenda: 260ff.). Kritiker betonen, dass sich der auf der Aggregatebene beobachtete Zusammenhang zwischen dem Anteil weiblicher Grundschullehrkräfte und den von Jungen erzielten Sekundarschulabschlüssen , nicht auf die Individualebene übertragen lasse, weil es die hierfür erforderlichen Daten nicht gebe. Dabei wird unterstellt, dass es nur diese eine Studie zum Thema gebe. Dies ist aber nicht der Fall, da eine Reihe von Studien für Großbritannien und die USA Effekte des Geschlechtes einer Lehrkraft identifiziert haben. Derzeit gibt es keine weiteren Studien zum o.g. Thema. Angesichts der in Deutschland bestehenden, offensichtlich ideologisch begründeten Widerstände gegen die Idee, dass solche Zusammenhänge bestehen könnten, befürchtet die Autorin, dass sich an dieser Situation in absehbarer Zeit nichts ändern wird. Inzwischen harrt der identifizierte Zusammenhang auf der Aggregatebene nach wie vor einer Rekonstruktion auf der Individualebene (Vergl.: Ebenda: 262). 4.4. Mangelnde Passung von Schulkultur und Verhaltensstilen von Jungen „Ausgangspunkt dieser Erklärung ist das Konzept vom `guten Schüler´ aus dem Jahr 1952, das mit der Frage beschrieben hat, wie Lehrkräfte ihre Schüler im Hinblick auf deren soziale Schichtzugehörigkeit wahrnehmen. Dabei zeigte sich, dass Lehrkräfte einen Schüler dann für einen `guten´ Schüler halten, wenn er es ihnen ermöglicht oder einfach macht, ihre Arbeit nach eigener Empfindung `gut´ zu machen , d. h. Schüler zur motivierten, disziplinierten Arbeit und zum Lernerfolg zu führen. In einer Studie waren es erwartungsgemäß Kinder aus unteren Sozialschichten, die nicht den Erwartungen der Lehrkräfte entsprachen und ihnen daher ihre Arbeit erschwerten. Sie galten daher nicht als `gute´ Schüler: `Schlechte´ Schüler sind also solche Schüler, die Lehrkräften das Gefühl geben, ihre Arbeit nicht effizient und möglichst reibungslos erledigen zu können, und wann die Arbeit effizient erledigt ist, hängt nicht nur von den persönlichen Überzeugungen einzelner Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 16 Lehrkräfte ab, sondern vom organisatorischen Kontext der Schule und dem pädagogischen Diskurs, der den Schulalltag prägt. Jeder pädagogische Diskurs in zwei Teildiskurse untergliedert, einen lehrbezogenen und einen regulativen, wobei der lehrbezogene Diskurs u. a. Vorstellungen darüber enthält, wie Wissen und Fähigkeiten vermittelt werden können und sollen und wie Schüler gemäß ihres Leistungsniveaus oder ihrer Leistungsfähigkeit gruppiert werden können und sollen. Der regulative Diskurs beinhaltet Fragen der notwendigen und erwartbaren Disziplin und der Disziplinierung. Um `gute´ Schüler zu sein, müssen Kinder gute Leistungen, z.B. in Form korrekt bearbeiteter Hausaufgaben oder in Leistungstests, erbringen, aber vor allem denjenigen Verhaltensnormen entsprechen, die die Schule oder die Lehrkräfte festgelegt haben. Die Inhalte des pädagogischen Diskurses prägen die Schulkultur und mit ihr die Ansprüche an einen ` guten´ Schüler. Schulkultur und Ansprüche an einen ` guten´ Schüler sind aber durchaus veränderlich und haben sich während der letzten Jahrzehnte vom akademisch fähigen Schüler hin zum emotional und sozial intelligenten Schüler verschoben. […] Eine aus Finnland stammende Untersuchung der Werte und Überzeugungen 15-jähriger Schüler und Schülerinnen und ihrer Lehrkräfte hat ergeben, dass es die Schüler und Schülerinnen waren, die mit einem `guten´ Schüler u. a. einen fähigen, intelligenten und ehrgeizigen Schüler verbanden. […] Die Kernthese der Erklärung der Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen durch eine mangelnde Passung von Schulkultur und Verhaltensstilen von Jungen ist nun, dass Jungen deutlich häufiger als Mädchen Verhaltensstile aufweisen , die den Erwartungen an einen ´guten` Schüler im lehrbezogenen oder im regulativen Kontext (oder beiden Kontexten) nicht entsprechen und sich dies in der Bewertung ihrer Leistungen negativ niederschlägt. Im Unterschied zu der Erklärung der Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen durch die Feminisierung der Schule postuliert die Erklärung durch mangelnde Passung von Schulkultur und Verhaltensstilen von Jungen einen negativen Effekt der Verhaltensstile von Jungen auf ihren Bildungserfolg, der zwar durch die Lehrkräfte vermittelt ist, aber prinzipiell unabhängig von deren Geschlecht ist, und zwar deshalb, weil vermutet wird, dass weibliche und männliche Lehrkräfte im lehrbezogenen und regulativen pädagogischen Kontext und im Interesse einer möglichst effizienten und reibungslosen Erfüllung ihres Auftrages gegenüber ihren Klienten weitgehend übereinstimmen. Dies stellt die beiden Erklärungen aber nicht notwendigerweise in einen Gegensatz zueinander, denn es besteht die Möglichkeit, dass im Rahmen des geteilten pädagogischen Diskurses Lehrerinnen und Lehrer (aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation) etwas unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen an einen `guten´ Schüler haben und der negative Effekt der Verhaltensstile von Jungen auf ihren Bildungserfolg vermittelt über die Lehrkraft bei weiblichen Lehrkräften größer ist als bei männlichen“ (Ebenda: 275ff.). „Ein Bezug zur Erklärung der Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Präferenzen und Ver- Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 17 haltensweisen besteht insofern, als in der Erklärung durch eine mangelnde Passung von Schulkultur und Verhaltensstilen von Jungen vermutet wird, dass Jungen und Mädchen aufgrund geschlechtsspezifischer Sozialisation […] tendenziell unterschiedliche Verhaltensstile entwickeln. Was die hiervorgeschlagene Erklärung aber von der Erklärung durch Geschlechtsidentitäten und geschlechtsspezifische Präferenzen und Verhaltensweisen unterscheidet, ist, dass diese Präferenzen und Verhaltensweisen nicht als `objektiv´ problematische oder unproblematische (je nachdem) Merkmale von Schülern betrachtet werden, sondern als problematisch oder unproblematisch vor dem Hintergrund der Inhalte des jeweiligen pädagogischen Diskurses, an dem ihre Beschulung zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort ausgerichtet ist. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Bildungserfolg ein soziales Konstrukt ist und von Bildungsinstitutionen definiert und durch Bildungszertifikate legitimiert wird. Sowohl die Inhalte des öffentlichen pädagogischen Diskurses als auch die Funktionsweise der Bildungsinstitutionen werden also nicht als gegeben und tabu betrachtet , und sie werden als Rahmengeber für Bildungsprozesse berücksichtigt. Wenn Lehrkräfte in den verschiedenen deutschen Bundesländern `gute´ Schüler und `guten´ Unterricht im Rahmen insgesamt ähnlicher, aber im Detail bzw. in Teilen variierender pädagogischer Diskurse, wie sie sich u. a. in Schulgesetzen, Lehr- bzw. Rahmenplänen für den Fachunterricht und in Handreichungen niederschlagen , definieren (müssen), könnte dies den von Diefenbach und Klein erbrachten doppelten Befund erklären. Mit Bezug auf diesen Befund und Befunde aus der PISA-Studie argumentiert Hannover in diesem Sinn: Möglicherweise wird der pädagogische Alltag in den Schulen der neuen Bundesländer noch durch während der DDR-Zeit propagierte Erziehungsziele beeinflusst , so dass positive Arbeitstugenden (die Mädchen häufiger mitbringen) besonders gewertschätzt bzw. normabweichende Verhaltensweisen (die Jungen häufiger zeigen) besonders stark sanktioniert werden. Mehrere Studien aus den USA belegen, dass Kinder tatsächlich umso erfolgreicher in der Schule sind, je besser ihr Verhaltensstil dem entspricht, was im Kontext des Schulalltags als erforderlich oder wünschenswert erachtet wird, und ebenso gibt es Studien, die zeigen, dass Jungen tendenziell andere Verhaltensstile aufweisen als Mädchen“ (Ebenda: 264ff.). In einer Studie wurden anhand eines standardisierten Fragebogens 17 Klassenlehrer und Klassenlehrerinnen in Bayern und Berlin danach gefragt, welche Verhaltensstile sie von in der Schule erfolgreichen Jungen und Mädchen erwarten. Die Studie ergab, dass Jungen und Mädchen ihre Verhaltensstile tatsächlich unterschiedlich beschreiben, und dass 15 der 17 Lehrkräfte unterschiedliche Verhaltensstile bei erfolgreichen Jungen und erfolgreichen Mädchen erwarten, so z. B. in Bezug auf Ungehorsam, den sie bei erfolgreichen Jungen, aber nicht bei erfolgreichen Mädchen erwarten, oder in Bezug auf Phantasie und Emotionalität, die beide bei erfolgreichen Mädchen erwartet werden, aber nicht bei erfolgreichen Jungen. Bei Letzteren erwarten die Lehrkräfte stattdessen Realitätsbezogenheit und Rationalität. (Vergl.: Ebenda: 266). „In dieser Studie ist also u. a. eine jungenuntypische Emotionalität für Jungen direkt schulerfolgsrelevant, und wenn man davon ausgeht, dass Eltern nicht nur Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 18 in den USA, sondern auch in Deutschland mit Jungen weniger und anders über Gefühle sprechen als mit Mädchen, so kann man sagen, dass die geschlechtsspezifische Sozialisation im Elternhaus den geringeren Schulerfolg von Jungen auf gewisse Weise vorbereitet, dies aber nicht dadurch, dass ein bestimmter emotionaler Ausdruck eine notwendige Voraussetzung z. B. für die Aneignung geometrischer Formeln oder eines bestimmten sprachlichen Ausdrucksstils wäre, sondern insofern als Jungen und Mädchen während der Sozialisation unterschiedliche Verhaltensstile entwickeln und diese von Lehrkräften auch erwartet werden, Jungen und Mädchen aber dennoch anhand derselben Maßstäbe beurteilt werden . Eine Sensibilisierung von Lehrkräften für die Unterschiedlichkeit von Jungen und Mädchen im Zuge einer geschlechtsbewussten Pädagogik oder eines umfassenderen `gender mainstreaming´ dürfte vor diesem Hintergrund keinen Beitrag dazu erbringen, die Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen zu verringern – eher im Gegenteil“ (Ebenda: 266f). 5. Abschließende Betrachtung „Bereits für den Beginn der 1990er-Jahre lässt sich anhand der Daten der allgemeinen Bildungsstatistik belegen, dass für Jungen Nachteile gegenüber Mädchen im Bildungssystem Deutschlands bestehen, und nichts dagegen spricht, dass sich dieser Befund auch für die 1980er-Jahre replizieren lässt. Tatsächlich ist unbekannt , wann genau die z. B. von Dahrendorf in den 1960er-Jahren konstatierten Bildungsnachteile von Mädchen ausgeglichen waren und sich in Bildungsvorteile verkehrt haben. Aber es ist sicherlich nicht ganz korrekt, von Jungen als neuen Bildungsverlierern zu sprechen; korrekt ist vielmehr, von Jungen als neu entdeckten Bildungsverlierern zu sprechen: Erst zu Beginn der 2000er-Jahre wurden die ersten aussagekräftigen Befunde hierzu generiert, publiziert und langsam, aber mit der Zeit immer stärker, akzeptiert […]. Fest steht, dass diesbezüglich – auch von Ungleichheits- und Bildungsforschern – eine Entwicklung regelrecht verschlafen wurde. Hinsichtlich der Erklärung der Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen ist festzuhalten, dass es derzeit zwar eine angeregte Diskussion über mögliche Erklärungen gibt, die Diskussion aber zwei grundlegende Mängel hat: Zum einen leidet sie an einem Mangel systematisch auf bestimmte Erklärungen bezogener Forschung. Zum anderen leidet sie daran, dass sie häufig das zu erklärende Phänomen in der Form, wie es sich darstellt, aus den Augen verliert. Zwar ist es für bestimmte Erklärungsvorschläge grundlegend wichtig, wenn Zusammenhänge zwischen z. B. Sozialisationspraktiken von Eltern und geschlechtsspezifischem Verhalten von Jungen und Mädchen identifiziert werden, aber solche Zusammenhänge ergeben noch keine Erklärung für die umfassende Bildungsungleichheit zwischen Jungen und Mädchen, wie sie sich in den erzielten Sekundarschulabschlüssen niederschlägt und insbesondere keine Erklärung dafür, welche Mechanismen dafür sorgen, dass diese Ungleichheit ohne Ausnahme in allen Bundesländern zu beobachten ist, aber gleichzeitig z. T. stark in ihrem Ausmaß variiert. Die Bildungsnachteile von Jungen gegenüber Mädchen sind eben nicht nur ein Thema für Bildungsforscher aus verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen , sondern auch (und aufgrund ihrer Implikationen für den weiteren Lebens- Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 19 verlauf von Jungen und Mädchen vielleicht noch mehr) für die soziale Ungleichheitsforschung . Weil sowohl Bildung als auch Ungleichheit soziale Phänomene sind und daher zwar auf der Individualebene rekonstruierbar, aber nicht auf sie reduzierbar sind, werden sich Forscher, die sich mit diesen Phänomenen beschäftigen , mit dem Gedanken anfreunden müssen, die Funktionsweisen von Institutionen (und die Eigenschaften und Verhaltensweisen ihrer Repräsentanten) stärker als bisher in den Blick zu nehmen“ (Ebenda: 267). 6. Wertorientierung als Erfolgsindikator3 Im selben bereits in den vorangegangenen Kapiteln zitierten Buch der Herausgeber Gudrun Quenzel und Klaus Hurrelmann erschien auch ein Artikel von Heiner Barz u.a. mit dem Titel „Kulturelle Bildungsarmut und Wertewandel“. Im Folgenden werden die Ausführungen dieses Aufsatzes zusammengefasst. „Das Bildungssystem ist durch den Nachweis unterschiedlicher Zugangschancen zu höheren Bildungsabschlüssen herausgefordert. Ergänzend zur unbestreitbaren Realität systembedingter Barrieren (z. B. frühe Selektion im dreigliedrigen Schulsystem , fehlende Sprachförderung, zu wenig Ganztagsangebote, Feminisierung des Lehrerberufs) soll hier die Frage gestellt werden, ob auch in den subjektiven Alltagsorientierungen verankerte Gründe für die unterschiedliche Nutzung der Möglichkeiten des Bildungssystems Relevanz beanspruchen können“ (Barz, Heiner , u.a. 2010: 59). In ihrem Aufsatz untersuchen die Autoren, welche Rolle die Einstellungen der jungen Menschen für den Erfolg in Bildung und Beruf spielen, ob unterschiedliche Bildungsverläufe mit Hilfe bestimmter Einstellungsmuster erklärt werden können und in wieweit der geringere Erfolg der männlichen Schüler im allgemein bildenden Bildungssystem eventuell mit deren Einstellung zu Leistung erklärt werden kann. Einen Schlüssel zur Beantwortung einer solchen Frage bietet nach Ansicht der Autoren die Wertewandelforschung, die seit Jahrzehnten die Einstellungen junger Menschen erhebt (Vergl.: Ebenda: 96). „Sie untersucht die Veränderungen der Einstellungen und Wertvorstellungen und prüft inwieweit diese einem Trend und einer darstellbaren Struktur unterliegen. Soziokulturelle Werte sind für Kultur, Gesellschaft und Individuum in mehrfacher Hinsicht von größter Bedeutung insofern sie Orientierung für das Handeln von Personen und sozialer Gebilde bieten. Werte bilden die Grundlage für die Umsetzung sozialer Normen, die wiederum eine wesentliche Rolle im Zusammenleben der Menschen spielen“ (Ebenda: 96). 7. Zum Wandel des Wertewandels „Während in den Sozialwissenschaften, den Medien, der öffentlichen Meinung und der Selbstinterpretation moderner Gesellschaften lange Zeit die Auffassung 3 Barz, Heiner; Baum, Dajana; Cerci, Meral; Göddertz, Nina; Raidt, Tabea (2010). Kulturelle Bildungsarmut und Wertewandel. Aus: Quenzel, Gudrun; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.) (2010). Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten , im Internet abrufbar unter: http://www.springer.com/de/book/9783531171753?wt_mc=ThirdParty.Springer- Link.3.EPR653.About_eBook [zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2015] Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 20 dominierte, der ursprüngliche Wertewandel hin zu Autonomie setze sich ungebrochen fort, zeigen neuere Daten eine veränderte Tendenz. `Der Wertewandel hat sich gewandelt. Das Pendel ist zurückgeschlagen. Viele Menschen streben nicht länger nach individueller Autonomie und Selbstverwirklichung, sie kosten ihre Freiheitsgrade nicht länger aus, sie sind vielmehr auf der Suche nach Sicherheit , Ordnung und Gemeinschaft´. […] Dabei können die Ursachen des neuen Wandels vor allem mit den schwieriger werdenden ökonomischen Rahmenbedingungen wie dem enger werdenden Arbeitsmarkt erklärt werden. Gerade die junge Generation zieht aus veränderten Rahmenbedingungen jedoch weniger auf die Gesellschaft bezogene Konsequenzen, wie noch in den 1960er und 1970er Jahren zu beobachten: `Sie wollen für sich wirtschaftliche Sicherheit, Gemeinschaft, stabile Ordnungen, einfache Lösungen, sozusagen `Ruhe an der Front´´. Diese Veränderung wirkt sich in drei Bereichen aus. Erstens als Wunsch nach mehr Gemeinschaft, Partnerschaft und Familie. Zweitens als Bedürfnis nach Sicherheit , das jedoch nicht mehr vorrangig auf die Abwesenheit von Krieg und Terror, sondern vielmehr auf die Arbeitsplatzsicherheit bezogen ist. Drittens schließlich als Bedeutungszuwachs so genannter materialistischer Werthaltungen mit Betonung von Pflicht- und Anpassungswerten. Auch diese sind jedoch stark selbstbezogen und nutzenorientiert. Solche Beobachtungen ergeben sich hauptsächlich aus Jugendstudien, die unter anderem die Wertorientierungen und Einstellungen junger Menschen erheben. Zwar sind Duktus und Fokus dieser Studien oft unterschiedlich, die Ergebnisse bezüglich des Wertewandels bei Jugendlichen jedoch sind vergleichbar: Indikatoren für die Veränderungen finden sich im neuen Anstieg des Anteils der Materialisten und der entsprechenden Abnahme des Anteils der Postmaterialisten, in der stark wachsenden Bedeutung der Wertorientierung Fleiß/Ehrgeiz, im Bedeutungsverlust von Selbstverwirklichungswerten und dem Bedeutungszuwachs von Sicherheit und Geborgenheit sowie im Bedeutungszuwachs von Gemeinschafts- und Sicherheitswerten. Die Shell-Jugendstudie beispielsweise stellt eine Wiederaufwertung der Sekundärtugenden fest, so werden beispielsweise Leistung und Sicherheit deutlich höher eingeschätzt als von der Jugend der 80er Jahre. Einen deutlichen Aufschwung erlebt die Wertorientierung `Fleiß und Ehrgeiz´. Die Aufwertung von Sekundärtugenden wird mit einem gesteigerten Bedürfnis nach dem `Geregelten, Geordneten und Begrenzten´ in einer `unübersichtlicher gewordenen Welt´ erklärt. Doch die Sekundärtugenden erleben keinen Aufschwung als Wert an sich, sondern in einer instrumentalisierten Form: `Werte werden vor allem danach beurteilt, ob sie für das eigene Leben nützlich und sinnvoll sind´. Insgesamt haben sich die Jugendlichen in ihren Werthaltungen weiter der Gesamtbevölkerung angenähert, lediglich bei der Bewertung der Wertgruppe `Materialismus und Hedonismus´ – in Form von Freude an Konsum und Erlebnis – finden sich bei den Jugendlichen höhere Zustimmungen. Neben dem Aufschwung der Sekundärtugenden erfährt auch der Wertbereich Familie, Freunde, Partnerschaft eine Aufwertung. […] Mit zunehmendem Alter und mit zunehmender Bildung nimmt die Orientierung Hedonismus ab und die Leistungsorientierung steigt (z. B. Pflichtbewusstsein, Verantwortungsübernahme , Ehrgeiz). Insgesamt zeigen die Daten eine Aufwertung der Werte an sich: die Jugendlichen empfinden sehr viel mehr Dinge als wichtig als in früheren Jahrzehnten. ` Der Wertewandel hat sich gewandelt: Die Jugendstudien Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 21 der 90er Jahre zeigen, dass die heutige Suche nach Sicherheit, Ordnung und Gemeinschaft insbesondere von der jüngeren Generation getragen wird. Während das Streben nach Selbstverwirklichung und Individualisierung der 70er, 80er und frühen 90er Jahre seinen Ausgangspunkt in einem Mangel an Freiheitsgraden hatte, der bis in die 60er Jahre hinein herrschte´“ (Ebenda: 96ff.). Die Hauptergebnisse der Studien zum Wandel des Wertewandels werden von den Autoren wie folgt zusammengefasst: - „Ehemals `traditionelle´/`konventionelle´ Werte/`Sekundärtugenden´ nehmen wieder an Bedeutung zu, in herausragender Weise die Leistungs- und Anpassungsbereitschaft (gleichzeitig bleiben Selbstentfaltungswerte wichtig). - Darüber hinaus gibt es immer weniger festgelegte Wertmuster. Beherrschend ist vielmehr die Relativität der Werte, ihre Anpassung an verschiedene Zusammenhänge und Gegebenheiten . Die Stichworte dieser Entwicklung lauten Wertepluralismus, Individualisierung von Lebensstilen und Wertecollagen. - Werte sind nicht mehr selbstverständlich, sondern zielgerichtet, es herrscht eine zweckrationale Verwendung von Werten vor, die zudem auf das Selbst, weniger auf die Gesellschaft gerichtet sind. Leistung gilt nicht mehr grundsätzlich als Wert, sondern weil/ wenn damit Belohnung verbunden wird. Dies ist ein deutlicher Bedeutungswandel des Leistungsbegriffs : Verstärkt in der jungen Generation ist eine Abkehr von der `Leistungspflicht´ der Nachkriegsjahrzehnte zu beobachten. An ihre Stelle tritt eine Art individualisierter ‚Leistungshedonismus “ (Ebenda: 98). 7.1. Gruppenunterschiede im Wertewandel „Sowohl der ursprüngliche als auch der neue Wertewandel lassen sich hauptsächlich als Kohorten Effekt ausmachen, vor allem die jüngeren Generationen weisen ein neues Werteschema auf. In einem weiteren Schritt soll nun der Frage nachgegangen werden, ob es Unterschiede in den Werthaltungen junger Männer und junger Frauen gibt, die deren unterschiedlichen Erfolg im allgemein bildenden Schulsystem erklären können. Ebenso lässt sich fragen, ob Jugendliche mit Migrationshintergrund eventuell unterscheidbare Einstellungen haben, die sich negativ auf deren Bildungserfolg auswirken . Folgt man den Daten der jüngsten Bildungsberichte, so könnte man spekulieren , dass bei Jungen als ´Bildungsverlierern beispielsweise eine im Vergleich zu Mädchen geringere Bedeutung von Leistungs- und Anpassungsbereitschaft zu finden sein müsste. Die Daten der Werteforschung, die zu diesen Themen von uns einer Sekundäranalyse unterzogen wurden, ergeben indessen kein eindeutiges Bild. Bezüglich ihrer allgemeinen Arbeitshaltung und Leistungsorientierung unterscheiden sich junge Frauen und Männer zunächst kaum, sie geben in ähnlichem Maße an, dass ihnen Fleiß, Ehrgeiz und Pflichtbewusstsein wichtig sind. Insgesamt attestiert die Jugendforschung dem weiblichen Teil der Jugend `mehr Wer- Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 22 tebewusstsein´, weil die Zustimmungsquoten bei den allermeisten wertebezogenen Items höher liegen als bei Jungen. Im Blick auf einige wenige Motive sind die Zustimmungswerte der männlichen Jugend indessen stärker. Junge Männer finden es wichtiger als junge Frauen, viel Geld zu verdienen (a), ein hohes Einkommen anzustreben (b). Junge Männer treten lieber mit anderen in Wettstreit als Frauen (c) und setzen sich eher als junge Frauen mit Härte gegen andere durch (d). Junge Männer finden es wichtiger als junge Frauen, Macht und Einfluss zu haben (e) und finden eher, dass der Beruf das Wichtigste ist (f). Nicht zuletzt sind jungen Männern Noten und Zeugnisse häufiger das Wichtigste als jungen Frauen (g). Diesen Komplex, in dem die männliche Jugend durchgehend höhere Zustimmungswerte aufweist als die weibliche, könnte man als Durchsetzungswillen beschreiben . Junge Frauen haben demgegenüber eine stärker ausgeprägte `soziale Ader´. Junge Frauen finden es wichtiger als junge Männer, anderen zu helfen (h) oder Rücksicht auf andere zu nehmen (i), Junge Frauen finden Kunst und Kultur wichtiger (j), ebenso wie die Aussicht auf Kinder und Haushalt (k). Statt einer Angleichung der Geschlechter in Bezug auf diese Themen ist vielmehr sogar eine Verstärkung der Unterschiede zu beobachten. `Typische Werteunterschiede der Geschlechter haben sich sogar verstärkt, weil weibliche Jugendliche ihre Durchsetzungsfähigkeit inzwischen nicht mehr so deutlich betonen´. Dazu passt der Befund, dass sich auch in den Zuordnungen der Shell-Wertetypologie geschlechtsspezifische Unterschiede ergeben: Während der Typus `Unauffällige ´ nur ein leicht weibliches Übergewicht (26 Prozent vs. 24 Prozent )hat und der Typus „Macher“ nur ein leicht männliches (28 Prozent vs. 27 Prozent), sind bei den Idealisten die Mädchen deutlich in der Überzahl (30 Prozent vs. 21 Prozent ) und bei den Materialisten eindeutig die Jungen (27 Prozent vs. 17 Prozent )“(Ebenda: 98f.). 7.2. Wertorientierungen und Bildungsaspirationen in den sozialen Milieus Die PISA-Studie konstatiert, dass trotz Bildungsexpansion der Schulerfolg von Kindern in Deutschland besonders eng mit dem Sozialstatus ihrer Eltern bzw. deren formalen Bildungsstand verknüpft ist – so eng, wie in keinem anderen der beteiligten OECD-Staaten. Die Autoren gehen der Frage nach, ob es sich dabei in erster Linie um ein institutionelles Problem des dreigliedrigen Schulsystems handelt, welches sich durch die frühe Selektion auch noch verstärkt. Die Autoren verneinen diese Auffassung und verweisen auf Gerhard Schulze. Dieser beschreibt in seinem soziologischen Klassiker „Die Erlebnisgesellschaft“ darauf, dass Bildung „eingebettet“ [sei] in einen ästhetisch homogenen Lebenszusammenhang, der schon vor der Schule im Elternhaus vorhanden ist, neben der Schule durch die Gleichaltrigen verstärkt wird und sich nach der Schule fortsetzt (Vergl.: Ebenda: 99). „Die Anhebung des Bildungsniveaus scheint vor allem mit der Bedeutung verknüpft , die Bildung in den Elternhäusern bzw. den Milieus zugemessen wird, in denen Kinder aufwachsen und an denen sie sich orientieren. Ganz ähnlich hatte Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 23 schon Pierre Bourdieu in seinen Analysen der Funktion und der Möglichkeiten des Bildungssystems argumentiert: Die in Elternhaus und Milieus erworbenen Codes, Verhaltens- und Einstellungsmuster setzen sich im Lebensverlauf deutlich stärker durch als die reinen Bildungstitel , deren Wirkung im Vergleich zum milieuspezifischen Habitus eher an der Oberfläche bleibt. Im Anschluss an Bourdieus Untersuchungen zur Verknüpfung von Klassenlage, Lebensstil und Alltagsästhetik hat sich eine auch für die Differenzierung von Bildungsaspirationen relevante Forschung zu sozialen Milieus in Deutschland herausgebildet . Die Milieu- und Lebensstilstudien lassen sich auch als Wertewandelporträts lesen, insofern die zugrunde liegende soziokulturelle Landkarte neben der Dimension der Sozialschicht die Dimension des Wertewandels als zweite Differenzierungsebene beinhaltet. Moderne, sowohl vom Lebensalter der Milieuanghörigen her als auch hinsichtlich der Entstehungszeit ´jüngere Milieus` verkörpern fortgeschrittenere Einstellungen auf der Wertewandelachse. Dabei werden ´soziale Milieus` als Gruppen Gleichgesinnter definiert, ´die jeweils ähnliche Werthaltungen, Prinzipien der Lebensgestaltung, Beziehungen zu Mitmenschen und Mentalitäten aufweisen`. Während Schichtkonzepte objektive Kriterien wie Beruf, Einkommen und Bildungsabschluss betonen, rücken Milieumodelle auch ´subjektive` Faktoren in den Fokus. Eines der bekanntesten Milieumodelle ist das Ende der 1970er Jahre entwickelte Modell der sozialen Milieus, welches unter dem Namen ´SINUS-Milieumodell` bekannt wurde. Die SINUS-Milieus wurden kontinuierlich weiterentwickelt und den gesellschaftlichen Veränderungen angepasst “ (Ebenda: 100). „Am Beispiel des Milieus der Konsum-Materialisten, also einem Milieu, das in Bezug auf Bildungschancen mit größeren Risiken behaftet ist, soll exemplarisch die tiefwurzelnde Einbettung von Einstellungen und Verhaltensmustern zu Bildungsfragen in die allgemein handlungsleitenden Alltagsorientierungen deutlich gemacht werden. Allzu großer Bildungsoptimismus dergestalt, dass durch bessere Zugangschancen und Fördermaßnahmen allein ein verbesserter Bildungserfolg und damit verbesserte Lebensperspektiven ermöglicht werden könnten, wird damit gewiss relativiert. Andererseits werden aber erst durch detaillierte Analysen der subjektiven Realitäten der Bildungsadressaten und ihres sozialen Umfelds Ansatzpunkte für nachhaltige Bildungsprogramme freigelegt. Bei den Konsum-Materialisten ist die soziale Lage oft prekär. Viele Familien sind geprägt durch Arbeitslosigkeit, Krankheit, zerbrochene familiäre Strukturen. Vorherrschend sind Volks- und Hauptschulabschlüsse, untere bis mittlere Einkommensverhältnisse , Tätigkeiten als Arbeiter und Angelernte. Mit der Institution Schule verbinden viele Konsum-Materialisten zwiespältige Gefühle. Zum einen ist die Schulzeit positiv besetzt, weil man viel Freizeit hatte, Freunde getroffen hat usw. Andererseits ist das Lernen selbst mit negativen Konnotationen verbunden . Aus der Retrospektive wird die eigene fehlende Disziplin beklagt, der Mangel an Fördermöglichkeiten durch das Elternhaus, aber auch durch die Lehrer. […] Häufig berichten Milieuangehörige über Ausgrenzungserfahrungen von Seiten der Mitschüler. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 24 […] Dieser Fatalismus wird auf die eigenen Kinder übertragen. Obwohl erkannt wird, dass diese ähnliche Probleme in der Schule haben, werden kaum Anstrengungen unternommen, der Situation entgegenzusteuern, den Kindern eine bessere Ausgangslage zu verschaffen. Die als Kampf erlebte eigene Schulzeit perpetuiert sich im Schulalltag der Kinder. Die Eltern fühlen sich in ihren eigenen negativen Erfahrungen bestätigt und schreiben die Verantwortung für das Scheitern ihrer Kinder den Lehrern sowie den institutionellen Strukturen zu. […] Lehrer und Schule werden in erster Linie nicht als unterstützende Partner in der Erziehungsarbeit erlebt, sondern als potentielle Gegner, die die Schwächen der Kinder offenbaren und die Familie dadurch stigmatisieren. Dennoch wird die Bedeutung von guten Noten und entsprechenden Schulabschlüssen betont. Zu präsent ist die Erfahrung, dass sich ohne erfolgreich durchlaufene Bildungskarriere die Chancen auf dem Arbeitsmarkt drastisch vermindern. Im Vordergrund steht dabei die Option, viel Geld zu verdienen, um sich etwas leisten zu können, nicht jedoch berufliche Erfüllung. Vielfach äußern die Eltern den Wunsch, ihr Kind möge das Gymnasium besuchen und Abitur machen, sehen sich aber gleichzeitig auf Grund ihrer ökonomischen und psychisch-sozialen Disposition außer Stande, mit den Kindern den schulischen Stoff nachzubereiten oder Nachhilfestunden zu finanzieren. Mit der Konsequenz , dass die Kinder dieses Milieus überdurchschnittlich oft Haupt- und Förderschulen besuchen. Die Verantwortung für eine erfolgreiche Bildungskarriere der Kinder wird in Gänze an die Schulen delegiert und ihnen zugleich – da ihnen tief verankertes Misstrauen entgegengebracht wird – die Schuld für das potentielle oder tatsächliche Scheitern der Kinder zugeschrieben“ (Ebenda: 100ff.). 7.3. Wertorientierungen und Bildungsaspirationen in den Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den Schulen in Deutschland wächst. Im Jahre 2010 hatten bundesweit 34 Prozent der unter 5-Jährigen einen Migrationshintergrund (Vergl.: Ebenda: 102). „International vergleichende Studien wie PISA (Programme for International Student Assessment) oder IGLU (Internationale Grundschul- Lese-Untersuchung) haben mittlerweile hinreichend empirisch belegt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht die gleichen Bildungschancen wie Einheimische vorfinden. In den letzten 30 Jahren sind zwar deutliche Verbesserungen in Bezug auf die erreichten Schul- und Ausbildungsabschlüsse von Migranten zu verzeichnen“ (Ebenda: 102). Dennoch sind die Unterschiede in den erreichten Bildungsabschlüssen zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund kaum geringer geworden. Zudem zeigen sich erhebliche Leistungsdisparitäten . Die Eckpfeiler der Benachteiligung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Ausländische Kinder erfahren gegenüber deutschen Kindern weniger vorschulische Betreuung, werden deutlich häufiger als deutsche Kinder von der Einschulung zurückgestellt, sind an Hauptschulen überrepräsentiert, an Realschulen und besonders an Gymnasien unterrepräsentiert, besuchen doppelt so häufig Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen wie Kinder aus Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 25 deutschen Familien, bleiben deutlich häufiger als deutsche Jugendliche ohne Hauptschulabschluss , deutlich häufiger ohne Berufsausbildung und schließen seltener ein Hochschulstudium oder eine Meisterschule ab (Vergl.: Ebenda: 103). „Selbst bei gleicher schulischer Leistung haben Bewerberinnen und Bewerber mit Migrationshintergrund deutlich schlechtere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Bei der Suche nach den Ursachen für diese Bildungsungleichheit lassen sich zwei Hauptfaktoren identifizieren: schichtspezifische Ursachen und migrationsspezifische Ursachen. Die schichtspezifische Argumentation geht davon aus, dass die deutsche Gesellschaft tendenziell durch Migranten unterschichtet ist, d. h. Migranten stammen häufiger als Menschen ohne Migrationshintergrund aus statusniedrigeren Familien . Dabei kann man davon ausgehen, dass die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus Familien mit niedrigerem sozioökonomischem Status mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wie Kinder und Jugendliche aus Familien mit niederem sozioökonomischem Status ohne Migrationshintergrund . Der migrationsspezifische Argumentationsstrang weist auf in der Migration per se liegende Ursachen hin wie z. B. andere Unterrichts- bzw. Familiensprache, Erfahrungen mit einem anderen Bildungssystem und Unterschiede in der Wertorientierung . In diesem Abschnitt soll den migrationsspezifischen Ursachen für die Bildungsbenachteiligung nachgegangen werden, indem untersucht wird, inwieweit sich in den grundlegenden Wertorientierungen der Menschen mit Migrationshintergrund fördernde oder hemmende Faktoren für die Bildungsverläufe identifizieren lassen . Die empirische Basis für diese Analyse liefert die repräsentative Studie „Lebenswelten von Menschen mit Migrationshintergrund“, die das Heidelberger Institut Sinus Sociovision im Jahr 2008 durchgeführt hat“ (Ebenda: 103). 7.4. Menschen mit Migrationshintergrund und Bildungsaspirationen „Als mögliche migrationsspezifische Barriere könnte die mangelnde Bildungsaspiration der Migranten vermutet werden. Die PISA-Studie 2003 hat gezeigt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – trotz eher schlechterer Leistungen – in gleichem Maße von ihrer Mathematikbegabung überzeugt sind wie ihre Mitschüler ohne Migrationshintergrund, teilweise sogar noch stärker. Zudem glauben sie stärker daran, ihre Bildungs- und Berufschancen über gute Mathematikleistungen verbessern zu können. Insgesamt waren die befragten Migranten im Vergleich zu ihren Mitschülern besonders motiviert und der Schule gegenüber aufgeschlossen. Auch eine Studie des Bundesinstituts für berufliche Bildung BIBB konstatiert in einer Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen die im Vergleich hohe Karriere- und Erfolgsorientierung der Migranten . Die überwiegende Mehrheit der türkischstämmigen Befragten (84 Prozent) und Russlanddeutschen (73 Prozent) gibt an, dass ´Karriere machen` wichtig sei. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 26 Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne Migrationshintergrund ist der Anteil mit 67 Prozent deutlich niedriger. Der Anteil derjenigen, die sich beruflich selbständig machen wollen, ist bei den Migranten mit 56 Prozent (Türkischstämmige ) und 47 Prozent (Russlanddeutsche) ebenfalls deutlich höher als bei den jungen Erwachsenen ohne Migrationshintergrund (32 Prozent). Dagegen ist die allgemeine Bildungsbereitschaft bei allen Gruppen auf einem ähnlich hohen Niveau (98 Prozent Personen ohne Migrationshintergrund, jeweils 96 Prozent Türkischstämmige und Russlanddeutsche). Eine mögliche Erklärung für die hohe Bildungsaspiration und Erfolgsorientierung von Menschen mit Migrationshintergrund liegt in dem Traum von einem besseren Leben als Motiv für die Migration. Die Tatsache, dass es der Elterngeneration oft nicht gelingt, ihre Träume zu verwirklichen, führt dazu, dass die hohen Aspirationen der Migranten auf ihre Kinder übertragen werden. Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund Menschen mit Migrationshintergrund sind keine homogene Masse von in Deutschland leben den Personen, vielmehr unterscheiden sie sich in ihrer Herkunft, sozialen Lage und ihrer Wertorientierung. Aufgrund der ethnischen Vielfalt der Zielgruppe ist der Wunsch erklärbar, die Befunde und die Migranten selbst nach ihrer Herkunftskultur zu segmentieren. Die Migrationsforschung wurde viele Jahre von einem ethnisch orientierten Defizitdiskurs bestimmt. […] Die Forschergruppe um Sinus Sociovision ist im Jahr 2006 einen Schritt weiter gegangen, indem sie – zunächst im Rahmen einer qualitativen Studie – die alltägliche Lebenswelt der Befragten ethnienübergreifend und mehrdimensional nach Werten, Lebensstilen und sozialer Lage kartographierte. Darüber hinaus setzen sich die Forscher vom vorherrschenden Defizitansatz der Migrationsforschung ab, indem die Studie einem Ressourcenansatz, der kulturelle Vielfalt als Bereicherung und Chance für Deutschland definiert, folgt. Insgesamt acht Migranten-Milieus mit jeweils ganz unterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen konnten identifiziert werden. Die Position der Migranten -Milieus in der deutschen Gesellschaft nach sozialer Lage und Grundorientierung veranschaulicht die folgende Abbildung. Je höher ein Milieu in dieser Grafik angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Berufsgruppe ; je weiter rechts es positioniert ist, desto moderner ist die Grundorientierung “ (Ebenda: 104f.). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 27 Abbildung: Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland 2008 Quelle: Sinus Sociovision 20084 „Die Migranten-Milieus unterscheiden sich vor allem durch ihre Wertvorstellungen , Lebensstile und ästhetischen Vorlieben. Dabei finden sich gemeinsame lebensweltliche Muster bei Migranten aus unterschiedlichen Herkunftskulturen. Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion und Zuwanderungsgeschichte beeinflussen die Alltagskultur, sind letzten Endes aber nicht milieuprägend und identitätsstiftend. Es zeigt sich eine Pluralität von Lebensauffassungen und Lebensweisen, die nicht auf die Ethnie zurückzuführen ist, sondern auf die Sozialisation und Wertorientierung im Kontext der eigenen Zuwanderungsgeschichte bzw. der der Eltern und des Alltags der Menschen in Deutschland, dem erlebten Wertewandel hier und der eigenen kulturellen Identität und Verortung in diesem Spannungsfeld“ (Ebenda: 105). 4 Wippermann, Carsten/Flaig, Bodo (2008): Migranten-Milieus. Lebenswelten und Werte von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Sozialwissenschaftliche Repräsentativuntersuchung von Sinus Sociovison. Heidelberg Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 28 7.5. Bildungseinstellungen in den Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund „Im Rahmen dieser Analyse werden die vorliegenden Erkenntnisse aus der Migranten -Milieuforschung zur basalen Wertorientierung der Milieus, den Lebensstilen und der sozialen Lage im Hinblick auf Bildungseinstellungen ausgewertet. Einschränkend ist anzumerken, dass in der zugrunde liegenden Migranten-Milieustudie nicht explizit Bildungseinstellungen und -aspirationen erhoben wurden. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Studie die Leistungsorientierung und das Interesse an privater und beruflicher Weiterbildung erfasst. Da aus der Betrachtung dieser beiden Faktoren auch Hinweise auf die Bildungseinstellungen zu gewinnen sind, wird im Folgenden auch auf die Leistungsorientierung und das Weiterbildungsinteresse eingegangen. Um über diese ersten Erkenntnisse hinaus den Zusammenhang von Wertorientierung und Bildungsbeteiligung systematisch zu überprüfen, sind weiterführende Forschungen notwendig, die die Bildungseinstellungen , -aspirationen, und -barrieren der Menschen mit Migrationshintergrund sowie deren Erfahrungen mit den Bildungsinstitutionen differenziert erfassen und auch Genderaspekte ausreichend berücksichtigen. Mit Hilfe solch eines systematischen und ganzheitlichen Ansatzes könnten – im Sinne eines Ressourcenansatzes – Faktoren und notwendige Rahmenbedingungen für erfolgreiche Bildungsverläufe von Menschen mit Migrationshintergrund ermittelt werden. Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund und Leistungsorientierung Im Rahmen der Studie wurden fünf Items zum Thema Leistung erhoben, die indirekt Aufschluss geben können über die Bildungsaspirationen: Ich setze mir selbst hohe Ziele, die ich zu erreichen versuche / Ich gehöre zu den Menschen, die im Leben immer wieder gerne etwas völlig Neues ausprobieren / Ich arbeite gerne mehr, um mir etwas leisten zu können / Was die Zukunft betrifft vertraue ich voll und ganz auf meine Leistungsfähigkeit / Es fällt mir leicht, mich gleichzeitig auf mehrere Sachen zu konzentrieren. Diese fünf Items wurden zur Kategorie Leistungsethos zusammengefasst. Insgesamt 68 % der Migranten stimmen dieser Kategorie zu. Eine besonders hohe Leistungsorientierung zeigt sich in den Milieus mit mittlerer bis hoher sozialer Lage. In den Milieus mit niedriger sozialer Lage und traditionellerer Grundorientierung ist das Leistungsethos im Vergleich geringer ausgeprägt. Die Differenzierung nach Geschlecht zeigt keine relevanten Unterschiede. Insgesamt ist die Leistungsorientierung bei den Menschen mit Migrationshintergrund auf einem hohen Niveau. ´In der Migranten-Population deutlich stärker ausgeprägt als in der autochthonen deutschen Gesellschaft ist die Bereitschaft zur Leistung und der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg“ (Ebenda: 106). 7.6. Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund und Weiterbildungsinteressen „Ein weiterer Indikator der Studie für Bildungsaspirationen ist das Interesse für Weiterbildung (beruflich und privat). Insgesamt geben 41 Prozent der Migranten an, dass sie in ihrer Freizeit Weiterbildungsangebote gern bzw. sehr gern nutzen. Bei den Frauen liegt der Anteil mit 43 Prozent tendenziell höher als bei den Männern (38 Prozent). Auch eine Betrachtung nach Milieus zeigt ein differenziertes Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 29 Bild. In den Milieus mit niedriger sozialer Lage und traditioneller Grundorientierung ist das Interesse eher gering (12 Prozent bzw. 15 Prozent), während in den Milieus der mittleren oder höheren sozialen Lage die Menschen mehrheitlich hohes Interesse für Weiterbildung zeigen (70 Prozent beim Statusorientierten bzw. Intellektuell-Kosmopolitischen Milieu). Das vorhandene Interesse an Weiterbildung mündet allerdings nicht immer in einer tatsächlichen Nutzung. So liegt die Teilnahmequote von erwerbstätigen Ausländern an Angeboten der beruflichen Weiterbildung im Vergleich zu erwerbstätigen Deutschen deutlich niedriger (18 Prozent vs. 28 Prozent). Laut einer Auswertung aus dem Mikrozensus 2008 für Nordrhein-Westfalen für die erweiterte Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund liegt die Weiterbildungsbeteiligung (Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildungsveranstaltung während der letzten 12 Monate) lediglich bei 8 Prozent, während bei Personen ohne Migrationshintergrund mit 19 Prozent der Anteil mehr als doppelt so hoch ist“ (Ebenda: 109f.). Quelle: Barz u.a., 20105 8. Zum Vergleich des Bildungserfolges von Mädchen und Jungen „Geschlecht wird im Folgenden als ein aktives Her- und Darstellen im Alltag, als `doing gender´ verstanden. Dabei gerät der Einfluss von Medien und Peer-Groups 5 Barz, Heiner; Baum, Dajana; Cerci, Meral; Göddertz, Nina; Raidt, Tabea (2010). Kulturelle Bildungsarmut und Wertewandel. Aus: Quenzel, Gudrun; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.) (2010). Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten , im Internet abrufbar unter: http://www.springer.com/de/book/9783531171753?wt_mc=ThirdParty.Springer- Link.3.EPR653.About_eBook [zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2015] Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 30 im Hinblick auf den Sozialisationsprozess im Spannungsfeld der Konstruktion von Männlichkeiten verstärkt in den Blick. In der adoleszenten Peer-Group, welche eine hohe Relevanz für das (Unterrichts-) Verhalten von Schüler-innen hat, wird Geschlecht definiert und neu verhandelt; häufig überwiegen dort rigide Geschlechterrollen . Inszenierungen von dominanter, hegemonialer Männlichkeit (Dominanz und Überlegenheit der Männer bei gleichzeitiger Unterordnung der Frauen), die außerschulisch in der Peer-Group zum Erfolg führen können, können in der Schule zu Ausschluss- und Sanktionsmaßnahmen führen. […] Durch die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und in diesem Zusammenhang die Erosion des Modells des männlichen Familienernährers, werden tradierte Männerrollen im öffentlichen Diskurs zwar thematisiert und problematisiert, dennoch streben einige männliche Jugendliche Stärke, Unabhängigkeit und Aktivität als ein ´männliches Ideal`“ (Ebenda: 110). Die Autoren verweisen auch auf die aktive Rolle von Lehrerinnen bei der Her- und Darstellung von Geschlecht im Alltag, da sie an der Zuschreibung und Herstellung von Geschlechterrollen beteiligt sind. So sind Jungen häufiger von negativen Sanktionen und Disziplinierungen im Unterricht betroffen als Mädchen (Vergl.: Ebenda). „Zeigen Jungen besonders gute schulische Leistungen, werden sie vielfach als ´ genial `, Mädchen hingegen als ´fleißig` wahrgenommen. Kommen geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Kompetenzen in bestimmten Fächern hinzu – z. B. Jungen können keine Sprachen, Mädchen können kein Mathe – kann sich das negativ auf das Selbstkonzept und die Unterrichtsbeteiligung von Schüler-innen auswirken“ (Ebenda). „Zu prüfen wäre, inwiefern der Rückgriff einiger Jungen auf tradierte Männerrollen einen Anhaltspunkt für die Erklärung reduzierter Bildungserfolge darstellen kann. Immerhin sind z. B. Coolness und Dominanz in Bezug auf Arbeitsdisziplin, fachliches Interesse und die Anerkennung von Lehrkräften als Expert-innen eher hinderlich. Bei der Inszenierung von Männlichkeit geht es primär um die Abgrenzung von allem Weiblichen, bzw. weiblich Konnotiertem. Guten Schulleistungen z. B. haftet in den Augen vieler Jugendlicher etwas Weibliches an, sodass es für einige Jungen ´uncool` ist, in der Schule gute Leistungen zu erbringen. Die Angst davor ein „Streber“ zu sein, wirkt normierend nach unten , [so] dass einigen Jungen bewusst unter ihren intellektuell möglichen Leistungen bleiben. […] Demzufolge sehen manche Jungen ihre Beiträge im Unterricht unter dem Druck, sowohl den Mitschüler-innen bzw. der Peer-Group als auch der/dem Lehrer-in zu gefallen; hier gerät das Spannungsfeld der Selbstdarstellung zwischen der Präsentation des eigenen Wissens und dem Kaschieren von Wissensdefiziten verstärkt in den Blick. Anhand von Studien an Londoner Schulen [wurde] herausgearbeitet , dass Jungen sich häufiger in einer „coolen Pose“ darstellen als Mädchen. Es ist eine bereits öfter bestätigte Beobachtung in der Schulforschung, das die Bewertung der Schule aus Sicht von männlichen Probanden regelmäßig negativer ausfällt als aus Sicht von Frauen. […] Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 31 Mädchen haben zwar die besseren Noten – aber auch die höheren Werte in Sachen berichtetem Schulstress und eingestandener Schulangst. […]Hegemoniale Männlichkeiten sind milieuspezifisch aufgefächert In den sogenannten Unterschichten sind sie eng gebunden an den Körper und Attribute wie z. B. Gewalt, Dominanz, Stärke, Opposition; in höheren sozialen Schichten werden unter hegemonialen Männlichkeiten eher der Manager oder der Intellektuelle verstanden. Gerade männlichen Schülern aus der sogenannten Unterschicht stehen neben ihrem Körper selten weitere Ressourcen zur Verfügung, um Männlichkeiten zu gestalten . Doch auch hier gilt: Nicht alle Jungen und jungen Männer begeistern sich für tradierte hegemoniale Männlichkeiten, einige stehen diesen vielmehr kritisch und distanziert gegenüber. […] Eine intersektionale Perspektive, d. h. eine verschränkte Analyse von z. B. Geschlecht, Migration bzw. Ethnizität und Klasse, kann hilfreich sein, um die spezifischen Gründe zu analysieren. Bislang hat diese Sicht eher selten Einzug in die erziehungswissenschaftliche Forschung gehalten; obgleich der Stand der Forschung hinsichtlich Bildung und Migration bedeutend ist, werden die wenigsten Studien nach Geschlecht bzw. Klasse/Schicht ausgewertet. Aus dieser Perspektive greift der mediale Diskurs und in Teilen auch die wissenschaftliche Debatte mit der Feminisierungsthese und der Forderung nach mehr männlichem Personal in Kitas und Grundschulen zu kurz und wird der Komplexität des Phänomens nicht gerecht“ (Ebenda: 111f.). 9. Abschließende Betrachtung „Die Befundlage zu den sogenannten Bildungsverlierern ist alles andere als eindeutig . Einerseits finden sich starke Hinweise, die auf inzwischen vergleichsweise problematischere Bildungsverläufe bei Jungen im Unterschied zu Mädchen und bei Migranten im Unterschied zu Nicht-Migranten hindeuten. Auch bleiben die seit langem bekannten Unterschiede nach sozialer Herkunft zweifellos bestehen. Strittig ist, ob die soziale Statusgruppe, gemessen z. B.am Bildungs- und Einkommensniveau des Elternhauses, letztlich die dominantere Determinante des Bildungserfolgs ist – und der Migrationsstatus eventuell nur deshalb scheinbar Bildungsmisserfolge erklärt, weil der größte Teil der Migranten eher unteren sozialen Schichten angehört. Strittig ist ebenfalls, inwiefern die seit knapp 10 Jahren verstärkt thematisierte These von den Jungen als Bildungsverlierern Gültigkeit beanspruchen kann. Ein Einwand gründet sich auf die Restbestände der Bildungsbereiche , in denen Leistungsvergleichsstudien zuletzt noch ein besseres Abschneiden von Jungen feststellten. Freilich gibt es hier in Extrapolation der Trends der letzten Jahrzehnte gute Gründe, das Überholen der Mädchen auch in mathematischen und naturwissenschaftlich-technischen Fächern nur noch für eine Frage der Zeit zu halten. Ein zweiter Einwand erklärt das schulische Überholmanöver des weiblichen Geschlechts gleichsam zum Pyrrhussieg, weil im Berufsleben und in gesellschaftlichen Führungspositionen die Männervorherrschaft noch immer nicht gebrochen sei und weil sich die Bildungsniveaus an der zweiten Schwelle durchauswieder deutlich annähern. […] Die jungen Männern nutzen offenbar ihre Chancen besser – wenngleich oft später. So erreichen zwar mehr Frauen auf direktem Weg eine Hochschulzugangsberechtigung, insbesondere die Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 32 allgemeine Hochschulreife, doch nutzen die jungen Männer stärker das berufliche Bildungssystem und erreichen dadurch ebenso häufig eine Hochschulzugangsberechtigung wie junge Frauen. […] Unterfüttern lässt sich die Bestreitung der These von den Mädchen als Bildungsgewinnern schließlich auch mit den oben referierten Befunden der Wertewandelforschung . Ein fast paradoxaler Befund liegt in den von männlichen Jugendlichen deutlich stärker betonten Erfolgs- und Durchsetzungsdimensionen – obwohl zumindest die Evaluation der schulischen Performance Erfolg und Durchsetzung eher auf Seiten der Mädchen verortet. Dasselbe paradoxe Muster findet sich, wenn man Befunde zur realen schulischen Leistung und Einstellungen zu Leistung, Erfolg und beruflicher Selbständigkeit zwischen Migranten und Nicht-Migranten kreuztabelliert: Trotz z. T. dramatisch schlechterer Schulerfolge auf Seiten der Migranten, zeigen Einstellungsmessungen eine im Vergleich zu Nicht-Migranten sogar erhöhte Leistungsorientierung und eine größere Nähe zu Werten, die man als ´Entrepreneurship` bezeichnen könnte. […] Es gibt sicher denkbare Gründe, die eine erhöhte Neigung z. B. bei Migranten zu den gut dokumentierten Effekten der sozialen Erwünschtheit (Social-Desirability-Response-Set) und der Ja-Sage-Tendenz (Akquieszenz) annehmen lassen. Für die ähnlich gelagerten Antwortunterschiede bei Männern und Frauen indessen wird man diesem Ansatz aber nicht unbedingt große Überzeugungskraft beimessen können“ (Ebenda: 112f.). „Eine zweite, die Gültigkeit der Befunde zunächst nicht in Zweifel ziehende Überlegung wäre, ob es eventuell tatsächlich eine Leistungs- und Erfolgskompetenz gibt, die unabhängig von schulischen Leistungsbilanzen und Bildungsabschlüssen über lebenspraktische und berufliche Erfolge entscheidet. Dieser Denkansatz soll im Folgenden gleichsam als Gedankenexperiment angedeutet werden. Dabei wird zentral auf Beobachtungen und Theoreme der sogenannten radikalen Schulkritik zurückgegriffen. Im Unterschied zu Ansätzen, in denen der Siegeszug der Schulpflicht und der stetigen Verlängerung von Bildungsphasen im Lebenslauf als Sieg der Mündigkeit über die Abhängigkeit, als Sieg der Aufklärung über Tradition und Ideologie, kurz als Befreiungsgeschichte gedeutet wird, stellt die radikale Schulkritik die ´Heilsgeschichte der Schule` in Frage. […] Wichtige Argumente der radikalen Schulkritiker sind dabei bis heute z. B. - Schule ist dysfunktional, insofern sie die von ihr verfolgten Ziele tendenziell konterkariert: - Sie fördert nicht Wissensdrang, Neugier und Kreativität – stattdessen erwartet und belohnt sie Auswendiglernen und Nachplappern. Sie fördert nicht Mündigkeit und Autonomie – sondern Anpassungs- und Unterordnungsbereitschaft. - Schule als Erfahrungsverhinderung und Mediatisierung trägt zur Weltfremdheit und zum Verlust der Unmittelbarkeit bei, sie übergeht die Sinnlichkeit und übt die Körperlosigkeit ein. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 33 - Schule als irrelevante Veranstaltung: Wenn junge Menschen nach Abschluss ihrer Schulkarriere etwas wissen und etwas können, dann nicht dank der Schule – sondern trotz der Schule. - Schule als Repressionsinstanz ist Teil eines von den Menschen nicht begriffenen, sie aber einverleibenden Machtapparats, der nicht nur über sichtbare, d. h. äußerliche Instrumentarien verfügt, sondern über ideelle Mechanismen, die Denken, Fühlen und Handeln der Menschen subtil steuern. Schule ist insofern ein Dispositiv der Macht und eine tragende Säule der Gouvernmentalität – ein Wort, mit dem die Verschmelzung von Regierung (Gouvernement ) und Denkweise (Mentalité) bezeichnet wird. - Schule dient über den ´heimlichen Lehrplan` als Einübung in die Rituale und Regeln der modernen Gesellschaft, sie vermittelt durch ihre Strukturen und Abläufe die für das Funktionieren der Gesellschaftsordnung notwendigen Werte und Normen. […]. Schule verlangt tendenziell ähnliche Anpassungsleistungen wie sie für totale Institutionen (Klöster, Gefängnisse , Kasernen, psychiatrische Anstalten) typisch sind.“ (Ebenda: 113ff.). „In Deutschland haben sich schulkritische Strömungen immer wieder gesellschaftliche Anerkennung verschaffen können. Schon die großen Entwürfe der Kulturkritik vom Ende des 19. Jahrhunderts bzw. der Reformpädagogik in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzten häufig als Ausgangspunkt eine radikale Kritik der bestehenden Schule. Ob man die geistigen Väter wie etwa Nietzsche oder die Schulgründer wie Rudolf Steiner, Peter Petersen oder Georg Kerschensteiner nimmt – der Impuls zur Neugestaltung der Bildungsanstalten basiert immer auf einer fundamentalen Kritik der bestehenden. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhren reformpädagogische Ideen eine Renaissance . Alexander Sutherland Neills Summerhill wurde zum Wallfahrtsort und seine Bücher zu Weltbestsellern. […] Wenn aus Sicht der radikalen Schulkritik mehr Schule nicht unbedingt bessere Berufschancen und ein besseres Leben bedeutet, dann könnte sich die Bildungsverweigerung von Migranten und insbesondere auch von Jungen demgegenüber vielleicht sogar als emanzipatorischer Akt interpretieren lassen. Dann wäre das fehlende Engagement in der Erfüllung fachlicher Leistungsanforderungen und anpassungsbezogener Verhaltenserwartungen eventuell nicht mehr in erster Linie ein Fall für präventive und interventive Konzepte. Dann wäre das mangelnde schulische Commitment der jungen Männer und der Migranten vielleicht als Widerstandsressource neu zu dechiffrieren. Man muss nicht einem überkommenen und überholten Machismo das Wort reden, wenn man hier nicht nur Risikopotentiale identifiziert – wie etwa zurecht von den Forschern immer wieder als Erklärungselement für erhöhte innerfamiliäre Gewaltbereitschaften und ebenso erhöhte Gewalttäterquoten betont – sondern auch eventuell darin konservierte Residuen von Eigensinn, also Restbeständen von Stolz, Unkonventionalität und Selbstvertrauen. Die männliche Bildungsabstinenz ist jedenfalls eine Entwicklung , die durchaus einmal gegen den Strich interpretiert werden könnte. Vielleicht finden sich ja auch jenseits des Wendekreises der Gleichstellung, d. h. in Milieus mit modernen, posthegemonialen Geschlechteridentitäten Elemente der Verweigerung gegenüber den Zumutungen immer stärker sinnfreier und immer Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 34 stärker komprimierter Lehrpläne. Und vielleicht ist die Schulunlust und Bildungsskepsis trotz bester Voraussetzungen ja auch kein ausschließlich männliches Thema. Obgleich – um noch ein letztes Datum zu nennen – unter den knapp 10 % der 3- bis 17-Jährigen, bei denen laut Kinder- und Jugendgesundheitssurvey die Diagnose ADHS gestellt wurde, 4 mal so viele Jungen wie Mädchen sind. Die Zunahme der ADHS-Diagnosen könnte jedenfalls auch als ein Symptom der Unverträglichkeit der den Schülerinnen und Schülern zugemuteten Verhaltenserwartungen gelesen werden – aber die Zeiten scheinen vorbei, in denen man angesichts derartiger Konstellationen fröhlich ´Aus der Krankheit eine Waffe machen ` skandieren konnte. Heute gibt es massenhaft Ritalin-Rezepte“ (Ebenda: 155ff.). 10. Geschlechtsspezifische Disparitäten im allgemeinbildenden Schul- und Bildungssystem6 Geschlechtsspezifische Unterschiede in Hinblick auf Bildungserfolge sind auch Gegenstand des regelmäßig erscheinenden Bildungsberichts der Autorengruppe Bildungsberichterstattung. Im aktuellen Bericht 2014 wird an verschiedenen Stellen auf die Problematik eingegangen: „In den bisherigen Bildungsberichten wurde immer wieder aufgezeigt, dass deutliche Geschlechterunterschiede beim Schulbesuch erkennbar sind, die bereits bei der Einschulung ausgeprägt sind und auch in der weiteren Schulbiografie nicht oder nur unwesentlich vermindert werden. So schwankt zwar das Niveau vorzeitiger und verspäteter Einschulungen erheblich im Verlauf der Zeit, aber stabil bleibt ein klarer Geschlechterunterschied zugunsten der Mädchen: Sie werden häufiger vorzeitig und deutlich seltener verspätet eingeschult. Dabei sind die Geschlechterunterschiede zwischen 2004 und 2012 bei der verspäteten Einschulung etwa gleich geblieben, während bei der vorzeitigen Einschulung eine Annäherung stattgefunden hat. In den letzten 20 Jahren hat stets ein höherer Anteil an allen Mädchen im Vergleich zu allen Jungen das Gymnasium besucht, eine Entwicklung, die sich auch in den Schulabschlüssen widerspiegelt. Jungen und Mädchen erreichen heute deutlich häufiger die allgemeine Hochschulreife. Im Bildungsbericht 2006 konnte bereits für Mädchen festgestellt werden, dass ein höherer Anteil die allgemeine Hochschulreife als einen Hauptschulabschluss erreicht, auch bei den Jungen ist dies inzwischen der Fall. Bei beiden Geschlechtern hat sich zwischen 2004 bis 2012 der Anteil an Absolventen mit der allgemeinen Hochschulreife erhöht (Jungen : 24 zu 37 Prozent; Mädchen: 32 zu 46 Prozent. Während Jungen im betrachteten Zeitraum zu einem deutlich höheren Anteil die Schule ohne Abschluss verließen als Mädchen, hat sich inzwischen eine Verringerung der Differenz eingestellt “ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 212f.). 6 Autorengruppe Bildungsberichterstattung. Bildung in Deutschland 2014. Ein Indikatoren gestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen. Im Internet abrufbar unter: https://www.destatis .de/DE/Publikationen/Thematisch/BildungForschungKultur/Bildungsstand/BildungDeutschland 5210001149004.pdf?__blob=publicationFile [zuletzt abgerufen am 11. Oktober 2015]. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 35 Die Grafik ist im zitierten Bildungsbericht 2014 auf Seite 212 abrufbar. 10.1. Geschlechtsspezifische Disparitäten in Berufsausbildung und Studium „Junge Frauen haben zwar geringere Übertrittsquoten in eine betriebliche Ausbildung als junge Männer, gleichzeitig treten sie aber wesentlich häufiger in eine vollzeitschulische Ausbildung ein. Für beide Bereiche haben sich die Geschlechterdifferenzen im Zeitverlauf vergrößert. Bei den Ausbildungsvertragsauflösungen weisen Frauen stets eine etwas höhere Vertragslösungsquote als Männer auf, wobei sich der Geschlechterunterschied im Zeitverlauf leicht verstärkt hat. Im erfolgreichen Abschluss einer beruflichen Ausbildung zeigen sich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern, knapp drei Viertel aller männlichen und weiblichen Auszubildenden legen erfolgreich zum ersten Prüfungszeitpunkt die Abschlussprüfung ab. Die Jugenderwerbslosigkeitsquote für Personen im Alter von 15 bis 24 Jahren zeigt einen klaren Vorteil der Frauen gegenüber den Männern , jedoch hat sich der Geschlechterunterschied durch einen Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit bei den Männern minimiert. Inzwischen sind die Frauen beim Hochschulzugang und Abschluss eines Hochschulstudiums erfolgreicher als Männer. Dies äußert sich nicht nur in der höheren Studienberechtigtenquote der Frauen im Vergleich zu den Männern, sondern auch in der Studienanfängerquote, bei der sich die Geschlechterdifferenz von einem geringfügig höheren Anteil der Männer im Jahr 2005 zu einem deutlichen Vorteil der Frauen bis zum Jahr 2012 entwickelt hat. Auch brechen Frauen ein Studium seltener ab als Männer. Bei der Absolventenquote konnten die Frauen ihren Vorsprung gegenüber den Männern ausbauen, was mit einem günstigeren Studienverlauf in Zusammenhang stehen dürfte, der unter anderem jedoch mit dem besuchten Hochschultyp und der gewählten Studienfachrichtung konfundiert ist“ (Ebenda: 213). Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 36 Die Grafik ist im zitierten Bildungsbericht 2014 auf Seite 214 abrufbar. 10.2. Geschlechtsspezifische Disparitäten am Arbeitsmarkt „Während sich im allgemeinbildenden Schulwesen, aber auch in der beruflichen Ausbildung und im Studium für die Frauen eine Erfolgsgeschichte zeigt und Frauen günstigere Bildungsbiografien aufweisen als Männer, stellt sich die Situation am Arbeitsmarkt deutlich anders dar. Sie sind zu einem niedrigeren Anteil in den Arbeitsmarkt integriert als Männer, was sich nicht nur im Anteil an den Erwerbspersonen, sondern auch in dem der Nichterwerbspersonen manifestiert, auch wenn sich hier die Geschlechterdifferenz im Zeitverlauf verringert hat. Während im Beschäftigungsstatus durchaus günstige Entwicklungen für die Frauen im Betrachtungszeitraum zu erkennen sind, zeigt sich eine umgekehrte Entwicklung im Einkommen. Hier hat sich die Differenz im Nettoäquivalenzeinkommen in den letzten Jahren vergrößert. Ein ähnliches Bild zugunsten der Männer ergibt sich beim Einkommensvergleich auf Basis des Bruttomonatseinkommens bei Vollzeiterwerbstätigkeit nach Bildungsstand für alle Qualifikationsniveaus: Hier sind die Geschlechterdifferenzen bei Personen mit hohem Bildungsstand zum Nachteil der Frauen bzw. Vorteil der Männer am größten. Die Unterschiede im Einkommensniveau zwischen Männern und Frauen stehen offenbar nicht nur mit der erreichten beruflichen Position in einem Zusammenhang, sondern hängen auch mit den Branchen und Berufen selbst, in denen Männer und Frauen tätig sind, zusammen. Gerade in einer Reihe von frauentypischen Berufen herrschen häufig ungünstigere Arbeitsmarktbedingungen vor. Frauen weisen im erwerbsfähigen Alter insgesamt eine etwas höhere Armutsgefährdungsquote im Vergleich zu den Männern auf. Bei einer Betrachtung nach Bildungsstand wird jedoch deutlich, dass die höhere Armutsgefährdungsquote vor allem Frauen mit höherem Bildungsstand trifft. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 37 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es über die verschiedenen Bildungsbereiche hinweg offenbar gelungen ist, die früheren Nachteile von Frauen in der Bildungsbeteiligung und im Bildungsstand zu kompensieren und damit diesen neue und zusätzliche Chancen in der Bildungsteilhabe und in der ökonomischen Teilhabe zu eröffnen, allerdings scheinen sich die nach wie vor bestehenden Unterschiede in den Beschäftigungsmöglichkeiten und beruflichen Positionierungen innerhalb von Unternehmen und Organisationen nachteilig auf das Einkommen und die Beschäftigungsstabilität der Frauen über die unterschiedlichen Lebensphasen hinweg auszuwirken. Zu beobachten bleibt die Entwicklung der Jungen bzw. jungen Männer in den Bildungsinstitutionen , insbesondere im allgemeinbildenden Schulsystem, in der beruflichen Ausbildung und in der Hochschulbildung. Zwar konnten im Schulsystem im unteren Leistungsbereich Verbesserungen bei den Jungen erzielt werden wie eine niedrigere Abgängerquote ohne oder mit Hauptschulabschluss, aber in der Erreichung der Hochschulzugangsberechtigung geht die Schere zwischen Männern und Frauen, wenn auch nur leicht, so doch weiter auseinander. Auch in der Berufsausbildung konnte die Zahl der Personen im Übergangssystem zwar insgesamt reduziert werden, jedoch ist der relative Anteil der Männer dort noch einmal im Vergleich zu den Frauen gestiegen. Ambivalente Befunde sind für die Hochschulbildung festzuhalten, da hier die Situation nach Fachrichtung und Ausbildungs- bzw. Hochschultyp zu unterschiedlichen Geschlechterdisparitäten führt. Insgesamt betrachtet haben sich jedoch die Geschlechterdifferenzen in den Studien-, Abbruch- und Absolventenquoten zum Nachteil der Männer vergrößert. Am Arbeitsmarkt sind die Männer allerdings nach wie vor im Vorteil“ (Ebenda: 213f.). 11. Zur Frage nach mehr Lehrern an Grundschulen7 In der aktuellen Debatte um Bildungsungleichheiten zwischen Mädchen und Jungen wird häufig das Fehlen männlicher Lehrkräfte dafür verantwortlich gemacht, dass Mädchen heute in den meisten Ländern der westlichen Welt besser in der Schule sind als ihre männlichen Altersgenossen . Dies wurde von Marcel Helbig anhand einer Untersuchung über „Geschlecht der Lehrer und Kompetenzentwicklung der Schüler“ für 146.315 Grundschüler aus 21 Ländern in zwei Kompetenzdomänen (Lesen und Mathematik) geprüft. Helbig kommt bei seinem Resümee jedoch zu der Einsicht, dass das Geschlecht der Lehrerschaft fast keinen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung der Schüler/innen hat. „Aus den Ergebnissen kann man ableiten, dass Jungen bei ihrer Kompetenzentwicklung nicht durch den Unterricht bei einer männlichen Lehrkraft profitieren. Auch Mädchen profitieren in ihrer Kompetenzentwicklung nicht vom Unterricht bei einer gleichgeschlechtlichen Lehrkraft. Einzige Ausnahme bilden hier Österreich und Rumänien in Bezug auf die Lesekompetenzen. Insgesamt kann man sagen, dass die Feminisierung der (Grund-)Schule weder zu einer schlechteren Kompetenzentwicklung bei den Jungen noch zu einer besseren bei den Mädchen 7 Helbig, Marcel (2010). Geschlecht der Lehrer und Kompetenzentwicklung der Schüler. Aus: Quenzel, Gudrun; Hurrelmann, Klaus (Hrsg.) (2010). Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 38 geführt hat. Der Ruf nach mehr männlichen Lehrkräften zur Förderung der Jungen in der Schule beruht, zumindest für die Grundschulen, nicht auf empirischen Ergebnissen. Was mit dieser Studie jedoch nicht beantwortet werden konnte, ist sowohl, inwieweit das Geschlecht der Lehrkraft die Notengebung beeinflusst, als auch die Kompetenzentwicklung und Notenentwicklung in der Sekundarstufe. Jedoch weisen auch hier empirische Ergebnisse anderer Studien darauf hin, dass kein positiver Effekt vom Unterricht bei einer gleich geschlechtlichen Lehrkraft ausgeht. Zudem ist gemäß verschiedener entwicklungspsychologischer Theorien davon auszugehen, dass geschlechtliche Identitätsbildung, im Sinne der ´Same- Sex-Hypothese`, auf die bei der ´Feminisierung der Schule` Bezug genommen wird, sich im frühen Jugendalter ausprägt. Somit müsste sich auch der angenommene positive Effekt gleichgeschlechtlicher ´Vor- und Leitbilder` besonders bei jüngeren Kindern auf die Kompetenzentwicklung auswirken – weshalb auch die Abwesenheit männlicher Vorbilder vor allem in der vorschulischen und primären Bildung beklagt wird. [Es stellt] sich im familiären Zusammenhang die Frage, warum die Same-Sex-Hypothese in Bezug auf Schulleistungen solch breite Unterstützung erfuhr, obwohl es keine empirische Evidenz dafür gibt. Ein Teil der Antwort könnte laut dieser Autoren sein, dass die theoretische Basis der Hypothese so überzeugend und aussagekräftig erscheint, dass viele Wissenschaftler es nicht für erforderlich hielten, die Hypothese zu prüfen“ (Helbig, Marcel 2010: 284f.). Aber wie kommt es dann, dass, Mädchen im Vergleich zu Jungen besonders in jenen Schulsystemen erfolgreich sind, in denen besonders viele Lehrerinnen unterrichten? Der Autor Helbig bietet keine Lösung für diese Fragestellung. Stattdessen versucht er zu erklären, weshalb der Frauenanteil in der Lehrerschaft so hoch ist. „Der Lehrberuf ist ein weiblich geschlechtssegregierter Beruf. Steigt in einem Land die Erwerbsbeteiligung von Frauen an, dann führt dies bei gleichbleibenden Berufsaspirationen zu einem prozentual höheren Anteil von Frauen in weiblich geschlechtssegregierten Berufen. Besonders am Lehrberuf ist zudem, dass für diese Profession ein Hochschulstudium in den meisten Ländern die Voraussetzung ist. Hinter den unterschiedlichen Lehrerinnenquoten verbergen sich damit also zwei Dinge: Zum einen die unterschiedliche Chance von Frauen, am Arbeitsmarkt zu partizipieren und zum anderen die unterschiedlichen Bildungschancen der Frauen in Relation zu den Männern in den letzten Dekaden. Für die dargestellten Länder der EU und der OECD besteht nicht nur ein starker Zusammenhang zwischen dem Lehrerinnenanteil und dem geschlechtsspezifischen Bildungserfolg. Es ist sowohl ein starker Zusammenhang zwischen der weiblichen Arbeitsmarktpartizipation in Relation zu den Männern und dem Anteil weiblicher Lehrkräfte im Schulsystem festzustellen als auch zwischen dem Anteil weiblicher Lehrkräfte im Schulsystem und dem Frauenanteil der Studierenden im Jahr 1980. Das heißt bei hoher Arbeitsmarktpartizipation der Frauen ist auch der Anteil weiblicher Lehrkräfte hoch. Zudem sind in diesen Ländern, in denen die Frauen schon 1980 hohe Anteile unter den Studierenden aufwiesen, heute die Lehrerinnenanteile ebenfalls hoch. Das heißt, aus den Bildungschancen der Frauen vor 30 Jahren und den aktuellen Arbeitsmarktpartizipationschancen der Frauen lassen sich die Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 068/15 Seite 39 Lehrerinnenanteile in der Schule ableiten. Vielleicht stehen also nicht die Lehrerinnenanteile im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischem Bildungserfolg, sondern das Bildungsniveau und die Arbeitsmarktchancen von Frauen in einem Land – also zwei Indikatoren für allgemeine Geschlechterungleichheit. Es ist durchaus denkbar, dass durch steigende Gleichberechtigung von Frauen heute den Mädchen weniger Barrieren begegnen, die ihnen lange Zeit in den Weg gelegt worden waren, und sie deshalb aktuell ihr Potential voll entfalten könnten. Mädchen könnten die Erträge von Bildung höher einschätzen und positiv durch weibliche Rollenmodellein ihren Bildungs- und Karriereaspirationen beeinflusst werden . Der Blick auf die negative Wirkung von weiblichen Lehrkräften auf die Bildungschancen der Jungen könnte somit den Blick auf die eigentlichen Prozesse verdecken – die Potentialentfaltung der Mädchen durch die vorgelebten Berufs- und Bildungspartizipationschancen von Frauen“ (Ebenda: 285f.). - Ende der Bearbeitung -