© 2021 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 050/21 Zur Verwendung des Inzidenzwertes als Kenngröße für das Pandemiegeschehen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 2 Zur Verwendung des Inzidenzwertes als Kenngröße für das Pandemiegeschehen Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 050/21 Abschluss der Arbeit: 18. Juni 2021 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Statistische Fachbegriffe 5 1.1. Sensitivität und Spezifität 5 1.2. Relative Häufigkeit 5 1.3. Inzidenz und Prävalenz 6 1.4. 7-Tage Inzidenz 6 1.5. Positivenquote 7 2. Zu Testungsgründen 7 2.1. Symptomgebundene Tests 7 2.2. Testung aufgrund positiver Schnelltestergebnisse 8 2.3. Massentests 8 2.4. Kontaktnachverfolgung 9 2.5. Situationsgebundene Tests (Pendler, Zugang zu gesellschaftlichen Anlässen etc.) 10 3. Zur Verwendung der Positivenquote als Kenngröße 10 4. Zum Meldesystem 12 5. Alternativen zur alleinigen Verwendung des Inzidenzwertes 14 5.1. Zur Kritik an der alleinige Verwendung des Inzidenzwertes als Kenngröße 14 5.2. Zu weiteren Kenngrößen 16 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 4 1. Einleitung Zur Beschreibung des Infektionsgeschehens während der SARS-CoV2-Pandemie spielt in Deutschland die sogenannte 7-Tage-Inzidenz eine zentrale Rolle. Sie ist eine statistische Größe, in der die labordiagnostisch nachgewiesenen und (von Gesundheitsämtern) registrierten SARS- CoV2-Neuinfektionen (Neu-Inzidenzen) pro 100.000 Einwohner in den vergangenen 7 Tagen kumulativ erfasst werden. Dabei wird das Meldedatum beim Gesundheitsamt zugrunde gelegt. Innerhalb der Epidemiologie ist die Inzidenz (neben einer Reihe anderer Kenngrößen) eine wichtige und anerkannte Größe zur Beschreibung von Krankheitsgeschehen. Im Zuge des Corona- Pandemiegeschehens wird allerdings die alleinige Fokussierung auf den Inzidenzwert und der daraus resultierenden Ableitung von einschränkenden Maßnahmen immer wieder kritisiert. Verschiedene andere Kenngrößen wurden in der Vergangenheit vorgeschlagen, allerdings gilt auch bei ihnen, dass ihre alleinige Verwendung problematisch ist. Epidemiologen fordern, dass weitere , verschiedene Kenngrößen herangezogen werden müssten, um das aktuelle Infektionsgeschehen detaillierter abbilden zu können.1 Natürlicherweise umschreiben mehr Kenngrößen ein Geschehen detailreicher, aber es besteht Uneinigkeit darüber, welche Kenngrößen bestmöglich die Pandemie abbilden und wie diese verschiedenen Größen sich in einzelne Maßnahmen übersetzen . Einen einzigen, verständlichen und pragmatischen Wert zu verwenden, erleichtert zwar die Definition von Maßnahmen. Es wird in der vorliegenden Arbeit aber dargestellt, warum die Festlegung einer einzigen Kenngröße2 probelmatisch ist und jede Größe wiederum jeweils eigene Nachteile mit sich bringt. Ziel der Arbeit ist es, einzelne Probleme im Zusammenhang mit der alleinigen Verwendung des Inzidenzwertes bzw. der 7-Tage-Inzidenz darzustellen. Ein wesentliches Problem der Interpretation der 7-Tage-Inzidenz besteht darin, dass die einfließenden Tests keine zufällige Stichprobe (keine repräsentative Stichprobe) darstellen. Die mehrfach vorgeschlagene sog. Positivenquote3 muss vor dem Hintergrund einer nicht zufälligen Testung gesehen werden und kann ebenso wie die Inzidenz nur in Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Testungsstrategie beurteilt werden . Daher wird in der vorliegenden Arbeit nach der Erläuterung grundlegender statistischer Begriffe auf die Testungsgründe in Deutschland eingegangen und sodann die Verwendung der sog. Positivenquote erläutert. Abschließend werden verschiedene andere Kenngrößen, die zumeist ergänzend zur 7-Tage Inzidenz vorgeschlagen werden, dargestellt. 1 Siehe beispielsweise: Gérard Krause: Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen; BT-Drucksache 19/26545 vom 22. Februar 2021. Im Internet abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/824558/4b8cafedcdb0f4e7b2d6a16cdf272ce0/19_14_0288-21-_ESV-Prof-Dr-G%C3%A9rard- Krause_EpiLage-data.pdf. 2 Eine Kenngröße könnte sich prinzipiell auch aus mehreren Größen zusammensetzen. Es müsste allerdings Einigkeit bestehen, welche Werte einfließen und wie diese zu einem einzigen Wert verrechnet werden. 3 Als Positivenquote wird der Anteil der positiven Befunde (Nachweis einer akuten SARS-CoV-2-Infektion) an der Gesamtzahl der durchgeführten Tests bezeichnet. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 5 2. Statistische Fachbegriffe Zur Bewertung von statistischen Kenngrößen, die sich aus Testungen bei verschiedenen Anlässen (Massentests, Kontaktnachverfolgung, symptomgebundene Tests, situationsgebundene Tests (Pendler, Zugang zu gesellschaftlichen Anlässen etc.), positiver Schnelltest) ergeben, ist das Verständnis einiger statistischer Fachbegriffe grundlegend. Da diese in den öffentlichen Diskussionen immer wieder auftauchen, werden sie im Folgenden kurz eingeführt. 1.1. Sensitivität und Spezifität Wird ein Test (PCR-Test oder Schnelltest) durchgeführt, kann dieser positiv oder negativ ausfallen . Tatsächlich kann die Person selbst entweder infiziert4 sein oder nicht. Ist der Test positiv5, die Person aber in Wirklichkeit negativ, ist das Testergebnis falsch-positiv, ist die Person tatsächlich positiv, der Test aber negativ, so ist das Ergebnis falsch-negativ. Die Falsch-Positiv Rate eines Testverfahrens ist nur in kontrollierten Experimenten bestimmbar, in denen man die tatsächliche Positivrate kennt. Man kann sie nicht aus der täglichen Anwendung ableiten. Dies liegt daran , dass es in der Anwendung keine adäquate Alternative zur Feststellung einer Infektion gibt. Man kennt den tatsächlichen Anteil infizierter Probanden nicht. Der Anteil der tatsächlich positiven Personen, d.h. diejenigen, die korrekt als solche erkannt werden , wird als Sensitivität bezeichnet. Der Anteil der tatsächlichen Negativen, d.h. diejenigen, die korrekt als solche identifiziert werden, wird als Spezifizität bezeichnet. Ein perfekter Test würde in 100% der Fälle richtig diagnostizieren: alle infizierten Personen werden erkannt, alle nicht-infizierten als negativ detektiert. In Wirklichkeit jedoch wird jedes Testverfahren Fehler besitzen.6 1.2. Relative Häufigkeit Zur Beschreibung von Häufigkeiten für ein Merkmal (z.B. das Vorkommen einer Infektion in einer Bevölkerungsgruppe) wird ermittelt, wie oft das Merkmal in einer gegebenen Grundmenge (definierte Bevölkerungsgruppe) vorkommt. Dies nennt man „absolute Häufigkeit“. Teilt man diese Zahl durch die Größe der Grundmenge (Anzahl der Menschen in der betrachteten Bevölkerungsgruppe ), erhält man die „relative Häufigkeit“ (diese liegt naturgemäß zwischen 0 und 1). 4 Die Übertragung, das Haftenbleiben und Eindringen und die Vermehrung von Krankheitserregern (z.B. Bakterien oder Viren), die normalerweise nicht im menschlichen Körper vorliegen und das Potenzial haben, Symptome (geringe, subklinische oder auch schwere) hervorzurufen, wird als Infektion bezeichnet. Dies ist nicht gleichbedeutend mit „Infektionskrankheit“. Dies wiederum ist die Entstehung einer Krankheit als Folge einer Infektion (siehe hierzu beispielsweise Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch; Stichwort „Infektion“). 5 Nicht näher eingegangen wird an dieser Stelle auf die Problematik des sog. Ct-Wertes (Anzahl der Messzyklen in der RT-PCR). In der Vergangenheit wurde kritisiert, dass die Anzahl der im Labor durchgeführten Verdopplungszyklen nicht einheitlich seien. Dem zugrunde liegt die Tatsache, dass in einer Probe, in der viele Viren vorhanden sind (hohe Viruslast), bereits nach wenigen Zyklen die Probe als positiv nachweisbar ist, während bei geringer Viruslast dies länger dauert (siehe hierzu beispielsweise: https://www.spektrum.de/news/was-derct -wert-ueber-die-ansteckungskraft-verraet/1790384). 6 Siehe hierzu beispielsweise A. Gillissen: Übersicht zu Sensitivität und Spezifität des SARS-CoV-2-Nachweises mittels PCR; Pneumo News. 2020; 12(5): 21–23. doi: 10.1007/s15033-020-1912-4; https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7445394/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 6 Drückt man dieses Ergebnis in Prozent aus, ist dies die relative Häufigkeit in Prozentwerten (Wahrscheinlichkeit). 1.3. Inzidenz und Prävalenz Inzidenz und Prävalenz sind zwei epidemiologische Größen, die eng miteinander verbunden sind. Die Prävalenz beschreibt den Anteil an einer Population, für die ein Zustand zutrifft (im Falle der Pandemie: eine SARS-CoV-2-Infektion). Sie wird berechnet, indem die Anzahl der Menschen , auf die der Zustand zutrifft, durch die Gesamtzahl der betrachteten Menschen geteilt wird: Prävalenz in Prozent = Anzahl der Fälle / Größe der Bevölkerungsgruppe x 100 Dabei kann die Prävalenz zu einem Zeitpunkt (Punktprävalenz), in einem Zeitraum (Periodenprävalenz ) oder für die gesamte Lebenszeit (Lebenszeitprävalenz) erhoben werden. Betrachtet man hingegen die Anzahl der neuen Fälle eines Ereignisses (z.B. Neuinfektion mit SARS-CoV-2), die innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einer Bevölkerungsgruppe auftritt, so spricht man von der Inzidenz. Inzidenz = Anzahl der neuen Fälle / Größe der Bevölkerungsgruppe Inzidenz pro 100.000 = 100.000 x Anzahl der neuen Fälle / Größe der Bevölkerungsgruppe Das bedeutet, die Inzidenz ist ein Maß für das Risiko, dass in einem gegebenen Zeitraum das betrachtete Ereignis eintritt. Die Inzidenz ist die relative Häufigkeit bezogen auf eine gesundheitsrelevante Ausprägung. 1.4. 7-Tage Inzidenz Im Zuge der Bewertung des Corona-Pandemie-Geschehens in Deutschland7 spielt die sog. 7-Tage Inzidenz eine Schlüsselrolle. Die 7-Tage-Inzidenz wird auf Grundlage der Meldedaten, die von den kommunalen Gesundheitsämtern erhoben werden, berechnet.8 In ihr werden die labordiagnostisch nachgewiesenen und gemeldeten SARS-CoV-2-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen 7 Tagen erfasst. Es ist zu beachten, dass die 7-Tage-Inzidenz sich von der auf repräsentativen Stichproben basierenden epidemiologischen Inzidenz unterscheidet. Das liegt daran, dass die Dunkelziffer auf diese Weise (innerhalb der nicht-getesteten Bevölkerung) nicht erfasst wird. Diese könnte sich im Laufe des Pandemiegeschehens in Abhängigkeit von Testungs- 7 In der Europäischen Union (EU) ist die 14-Tage-Melderate häufig die gebräuchliche Kennziffer für die Inzidenz. Siehe hierzu: https://www.ecdc.europa.eu/en/cases-2019-ncov-eueea. 8 Zu beachten ist dabei: „Bei den 7-Tage-Fallzahlen und -Inzidenzen für frühere Tage muss berücksichtigt werden , dass es sich um die jeweils an dem angegebenen Tag berichteten Werte handelt, die nicht durch an Folgetagen nachübermittelte Fälle aktualisiert werden (für den Berichtstag "eingefrorene/fixierte" Werte). Diese Werte sind für das In- und Außerkrafttreten der bundeseinheitlichen Maßnahmen nach § 28b des Infektionsschutzgesetzes („Bundesnotbremse“) maßgeblich. Die Zugrundelegung der „eingefrorenen/fixierten“ Werte stellt sicher, dass die Werte keinen Schwankungen unterliegen und sich die von den Maßnahmen Betroffenen auf das Inbzw . Außerkrafttreten dieser mit einem zeitlichen Vorlauf einstellen können.“ (https://www.rki.de/DE/Content /InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Daten/Fallzahlen_Kum_Tab.html) Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 7 gründen auch unterscheiden (beispielsweise infolge von vermehrtem Testen nach einem Clusterausbruch ). Wie groß die Abweichung der 7-Tage-Inzidenz von der epidemiologischen Inzidenz in einer konkreten Situation ist, wird hier nicht weiter vertiefend erläutert. 1.5. Positivenquote Als Positivenquote wird der Anteil der positiven Befunde (Nachweis einer akuten SARS-CoV-2- Infektion) an der Gesamtzahl der durchgeführten Tests bezeichnet. 2. Zu Testungsgründen Aufgrund der Tatsache, dass zumeist Tests (PCR-Tests) nicht als repräsentative Stichprobe der Gesellschaft durchgeführt werden, sondern vielmehr bei Vorliegen eines definierten Testungsgrundes , ist es wichtig, sich dieser Tatsache bewusst zu sein, da sie bei der Interpretation der 7-Tage-Inzidenz beachtet werden muss.9 In der Nationalen Teststrategie werden die zu testenden Personengruppen in Deutschland festgelegt.10 Dabei sind PCR-Tests im Wesentlichen bei symptomatischen Personen und verschiedenen Kontaktgruppen durchzuführen, d.h. es handelt sich nicht um eine repräsentative „Massentestung“. Für sogenannte „präventive Testungen bei asymptomatischen Personen in weiteren Lebensbereichen“, d.h. bei nicht symptomatischen Personen , sind Antikörpertestungen vorgesehen. Bereits recht früh in der Pandemie, im April 2021, bemerkte der US-amerikanische Datenjournalist Nate Silver in einem Artikel, dass die Angabe der COVID-19 Fallzahlen nur dann sinnvoll zu verstehen sei, wenn etwas über die zugrundeliegende Testweise bekannt sei und diese bei der Interpretation mit berücksichtigt werde.11 Im Folgenden werden verschiedene Testungsgründe aufgelistet. Dabei wird, soweit nicht anders vermerkt, unter Testung die sog. PCR-Testung verstanden, da sich die Meldung von Inzidenzen auf positive PCR-Testergebnisse bezieht, nicht etwa auf Schnelltests (die allerdings gegebenenfalls Anlass für einen nachfolgenden PCR-Test geben können). 2.1. Symptomgebundene Tests In den Anfängen der Pandemie wurden fast ausschließlich symptomveranlasste Tests durchgeführt . Das heißt, wenn eine Person ein bestimmtes Symptomspektrum aufwies, das Ärzte als ausreichenden Verdachtsfall bewerteten, wurde eine PCR-Testung veranlasst. Natürlicherweise erreicht man damit eine verhältnismäßig hohen Positivenquote, da diese Art der Testung auch bei niedrigen Infektionszahlen in der Bevölkerung dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein 9 Im Rahmen dieser Arbeit wird nicht auf die Fehleranfälligkeit von Tests- sowohl PCR-Tests wie Schnelltests - eingegangen. 10 Kommentierte Informationen finden sich auf den Internetseiten der Robert Koch Instituts unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Teststrategie/Nat-Teststrat.html. 11 Nate Silver: Coronavirus Case Counts Are Meaningless, Five Thirty Eight vom 4. April 2021; https://fivethirtyeight .com/features/coronavirus-case-counts-are-meaningless/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 8 Test positiv ausfällt, wesentlich höher ist, als wenn zufällig getestet würde. Soweit es die Testkapazitäten zuließen, wurden direkte Kontakte zwar auch getestet, aber nicht durchgehend. Teilweise wurde auch argumentiert, dass direkte Kontakte bereits in Quarantäne gesetzt worden seien, daher eine ggf. vorliegende (asymptomatische oder noch nicht symptomatische) Infektion nicht weitertragen könnte und somit Testkapazitäten nicht belastet werden müssten. In einem Gastkommentar im Handelsblatt schreibt der Epidemiologe Gérard Krause im November 2020: „Gegenwärtig wird nur bei knapp 60 Prozent der Fallmeldungen, bei denen Angaben zum klinischen Bild übermittelt werden, tatsächlich das Vorliegen von Symptomen berichtet. Dieser Wert schwankt seit Frühjahr zwischen 80 und 40 Prozent.“12 Dies bedeutet, dass ein substanzieller Anteil, zu manchen Zeitpunkten auch mehr als die Hälfte aller Tests, symptomgebunden durchgeführt wird. Daraus folgt auch, dass es sich bei diesem Anteil in keinem Fall um eine zufällige Stichprobe aus der Bevölkerung handelt. 2.2. Testung aufgrund positiver Schnelltestergebnisse Seitdem Schnelltests zur Verfügung stehen, werden PCR-Tests auch aufgrund eines positiven Schnelltestergebnisses durchgeführt. Auch wenn ein Schnelltest falsch-positiv ausfallen kann, ist diese Art der Testung keine „zufällige“, d.h. auch hier ist zu erwarten, dass die Positivenrate (der PCR-Testung) höher ausfällt, als bei einer zufälligen Stichprobe. 2.3. Massentests Massentests finden bislang vorwiegend im Bereich der Schnelltests statt und fließen nicht direkt in die Inzidenzwerte ein, sondern erst über den Zwischenschritt eines oben beschriebenen positiven Schnelltestergebnisses. Für spezifische Fragestellungen wie beispielsweise der Ermittlung von Dunkelziffern und der Wirksamkeit von Impfstoffen wurden in Studien zufällige Stichproben PCR-Testungen durchgeführt . Es wird auch verschiedentlich13 darauf verwiesen, dass eine Art Massentestung stattfand, als es möglich war, Reisen/Reiserückkehr nach erfolgter Negativtestung zu unternehmen. Aufgrund unterschiedlicher Kostenstrukturen in den Bundesländern, erfolgten diese allerdings punktuell und nicht generell vergleichbar; in welchem Ausmaß hierbei von zufälligen ausreichend großen und repräsentativen Stichproben zu sprechen ist, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. 12 Gérard Krause: Die Sieben-Tages-Inzidenz ist zu pauschal - und hat zu pauschale Maßnahmen zur Folge; Handelsblatt vom 27.11.2020 (https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-die-siebentages -inzidenz-ist-zu-pauschal-und-hat-zu-pauschale-massnahmen-zur-folge/26663452.html?ticket=ST- 10071413-pgd2snkVASsswPX3mG9J-ap2). 13 Siehe hierzu beispielsweise: Risikogruppe Sommerurlauber; Die Zeit vom 24. Juli 2020, https://www.zeit.de/gesellschaft /zeitgeschehen/2020-07/rueckkehr-urlauber-coronavirus-risiko-zweite-infektionswelle?utm_referrer =https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 9 Von Statistikern wird seit einiger Zeit gefordert, dass repräsentative Stichprobentestungen regelmäßig durchgeführt werden sollten.14 Hierdurch sei eine bessere Abschätzung der Infektionslage möglich. Diese müssen allerdings statistisch begleitet werden (beispielsweise hinsichtlich der Bestimmung der Probandengruppe). Am 8. Dezember 2020 wies die Leopoldina in einer Ad-hoc- Stellungnahme auf die Bedeutung repräsentativer Testungen hin. Sowohl hinsichtlich der akuten Infektionslage als auch der Immunität sei es erforderlich, eine repräsentative, regionale und randomisierte Testung der Bevölkerung durchzuführen. Dies sei die Voraussetzung für eine realistische Abschätzung der epidemiologischen Situation.15 In Stellungnahmen, die auf den Seiten des Science Media Centers16 eingestellt wurden, äußern sich Wissenschaftlern zu der Fragestellung repräsentativer Testungen. Der Anteil asymptomatischer beziehungsweise nicht durch Tests identifizierter und somit nicht gemeldeter Infektionen sei potenziell groß bis sehr groß und schwanke sicherlich im Verlauf der Pandemie deutlich. Hier wären Ergebnisse regelmäßiger epidemiologischer Studien einer repräsentativen Zufallsstichprobe der Bevölkerung sehr hilfreich, gibt Ralf Reintjes17 zu bedenken. Sandra Cielak18 hingegen konstatiert, repräsentative Studien seien sehr aufwendig und zusätzlich würden für solche Studien auch viele Ressourcen verbraucht. Einzelne Studien/Daten gebe es aus Deutschland. Auch verschiedene Sachverständige einer öffentlichen Anhörung des „Parlamentarischen Begleitgremiums COVID-19-Pandemie“ am 27. Mai 2021 im Deutschen Bundestag gehen auf die Problematik der Testdurchführung ein. Hierbei konstatiert Christian Drosten19, dass bislang zwar die gemeldete Inzidenz in Deutschland, die auf PCR-Testung basiere, die Krankheitslast verhältnismäßig gut modelliert habe, allerdings sei nun die Situation mit derjenigen im vergangenen Jahr schwer vergleichbar, da die Virusverteilung in der Bevölkerung eine andere sei. Dies habe zur Folge, dass sich die Entwicklungen, anders als im vergangenen Jahr, schwerer vorhersagen ließen. 2.4. Kontaktnachverfolgung Infolge eines positiven PCR-Testergebnisses werden - soweit Kontaktverfolgungen durch die Gesundheitsämter möglich sind - Kontaktpersonen situationsgebunden unter Quarantäne gestellt. 14 Siehe beispielsweise: „Möglichkeit 2“ unter: Katharina Schüller: Warum die Positivenquote genauso viel (oder wenig) aussagt wie die Inzidenz; 12. April 2021; https://www.risknet.de/themen/risknews/warum-die-positivenquote -genauso-viel-oder-wenig-aussagt-wie-die-inzidenz/. 15 Leopoldina: Siebente Ad-hoc-Stellungnahme: Coronavirus-Pandemie: Die Feiertage und den Jahreswechsel für einen harten Lockdown nutzen; 8. Dezember 2020; https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication /2020_Leopoldina-Stellungnahmen_Coronavirus-Pandemie_1-7.pdf. 16 Das Science Media Center (SMC) Germany bündelt Informationen für Journalisten zu aktuellen wissenschaftlichen Themen. https://www.sciencemediacenter.de/. 17 Prof. Dr. Ralf Reintjes; Professor für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Hamburg. 18 Prof. Dr. Sandra Ciesek; Direktorin des Instituts für medizinische Virologie, Universitätsklinikum Frankfurt. 19 Prof. Dr. Christian Drosten, Institut für Virologie an der Charité Berlin. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 10 Zum Teil wird für diese Personen auch ohne vorliegende Symptomatik eine Testung vorgenommen . Auch hierbei handelt es sich nicht um eine zufällige Stichprobe der Gesellschaft. 2.5. Situationsgebundene Tests (Pendler, Zugang zu gesellschaftlichen Anlässen etc.) Tests werden auch ohne vorliegende Symptomatik durchgeführt, wenn sie im Zusammenhang stehen mit Reisebeschränkungen, Berufspendlern, gesellschaftlichen Anlässen etc. Zumeist handelt es sich allerdings um Schnelltests. Teilweise werden - beispielsweise für Reisen - auch PCR- Testergebnisse gefordert. Diese Testung stellt allerdings nicht eine Mehrheit der PCR-Tests dar. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass die Mehrheit der Testungen anlassbezogen durchgeführt wird und keine repräsentative Stichprobe der Gesellschaft widerspiegelt. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein positives Testereignis eintritt, vor dem Hintergrund eines damit zusammenhängenden und bereits eingetretenen Ereignisses gesehen werden muss. 3. Zur Verwendung der Positivenquote als Kenngröße Kritiker des Inzidenzwertes bezweifeln, dass hinter erhöhten Inzidenzzahlen tatsächlich eine Erhöhung der Infektionszahlen steckt.20 Es wurde vermutet, dass hohe Fallzahlen lediglich auf eine erhöhte Testanzahl zurückzuführen seien. Daher wurde vorgeschlagen, die Positivenquote als Indikator für das aktuelle Infektionsgeschehen zu benutzen. Allerdings ergeben sich bei Verwendung der Positivenquote in ähnlicher Weise wie bei der 7-Tage-Inzidenz Probleme, die auf die zugrundeliegende Testweise zurückzuführen sind. Würde man eine repräsentative Stichprobe testen, so wäre zu erwarten, dass mit einem Anstieg der durchgeführten Tests in gleichem Maße die Anzahl der positiven Befunde ansteigt; dabei bliebe dann die Positivenquote konstant. Da es allerdings das Ziel der Testung ist, frühzeitig Infektionen zu erkennen und Infektionsketten zu unterbinden, d.h. die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, wird gezielt dort getestet, wo ein Verdacht auf Infektion besteht. Diese können beispielsweise Symptome, Kontakte oder positive Schnelltests sein. Auch bedingt dieses Vorgehen, dass die Anzahl der PCR-Tests situationsgebunden schwanken muss. So müssen beispielsweise bei einem Clusterausbruch kurzfristig deutlich mehr Tests durchgeführt werden als sonst, d.h. ein Fixieren der Anzahl von Tests ist nicht sinnvoll. Man kann sich dann die Frage stellen, ob ein eine erhöhte Anzahl positiver Testergebnisse darin begründet liegt, dass mehr Tests durchgeführt wurden, oder mehr Tests durchgeführt wurden, weil es mehr Verdachtsfälle gab. Für das angeführte Beispiel ist ersichtlich, dass beide Schlussfolgerungen in einem gewissen Maß zutreffen .21 Würde man dieses Vorgehen nun dahingehend verändern, dass flächendeckender (und repräsentativ ) auch asymptomatisch (PCR-)getestet würde, veränderte sich die Positivenquote: sie würde 20 Siehe hierzu beispielsweise: BR24: Mehr Corona-Tests, mehr Infizierte? 07.08.2020, https://www.br.de/nachrichten /wissen/corona-mehr-infizierte-wegen-mehr-tests-ein-faktenfuchs,S6yVtYM. 21 Diesen Sachverhalt hat Viola Priesemann (https://www.ds.mpg.de/person/27482/2247) in einer Twittermeldung , in der sie auf die Problematik der Interpretation von Inzidenzwerten eingeht, erörtert: https://archive .is/eQXCB. Dr. Viola Priesemann ist Leiterin einer Max-Planck-Forschungsgruppe Theorie neuronaler Systeme am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen (https://www.ds.mpg.de/). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 11 sinken. Insgesamt würden zwar mehr Infektionen nachgewiesen, aber das Verhältnis von positiven Befunden zu getesteten Personen veränderte sich: es würde kleiner. Das privatwirtschaftliche IGES-Institut22 ist dieser Frage anhand der Analyse der Testzahlen im vergangenen Jahr 2020 nachgegangen. Hierzu wird das vergangene Jahr in verschiedene Phasen eingeteilt. Diese werden mit Phase A bis Phase E bezeichnet. Insgesamt ist der Verlauf der Positivenquote vergleichbar mit dem Verlauf der Neuinfektionen. Im Verlauf der Phase B blieb die Anzahl der Tests weitestgehend unverändert, die Positivenquote hingegen fällt von maximal 9% auf minimal 1,5% ab. Auch in Phase D ist ein ähnliches Bild zu beobachten. Der Ausbau der Testkapazitäten findet insbesondere in Phase C statt, allerdings zeigt sich hier kaum eine Veränderung der Positivenquote. Den Maximalwert der Testzahlen wird gegen Ende des Jahres in Phase E erreicht und steigt in einem wesentlich stärkeren Maße als die Neuinfektionen bzw. die Positivenquote . Aus diesen Beobachtungen lässt sich ableiten, dass die Positivenquote unter den konkreten Umständen kein besserer Indikator zur Beschreibung des Infektionsgeschehens ist.23 22 Das IGES Institut ist ein unabhängiges, privatwirtschaftliches Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastrukturfragen . Es wurde 1980 von Wissenschaftlern der Technischen Universität Berlin gegründet. https://www.iges .com/. 23 https://www.iges.com/corona/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 12 Die Positivenquote als Zusatzinformation zur Inzidenz könnte ein hilfreiches Mittel sein, falls zusätzliche Informationen zum durchgeführten Test zur Verfügung stehen. So wurde beispielsweise vorgeschlagen, die Tests in „Prioritätsklassen“ einzuteilen. Das bedeutet, dass die getesteten Personen mit einer Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Infektion eingeordnet werden (Grad der Symptomatik, Art des Kontaktes etc.).24 Der Epidemiologe Gérard Krause mahnt in einer „Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen“ im Februar 2021: „Es wäre dringend erforderlich, eine anonyme aggregierte Meldepflicht für durchgeführte Nukleinsäurenachweise (PCR) von SARS-CoV-2 einzuführen , um so strategiebedingte Schwankungen der Testaktivitäten korrigieren zu können. Diese Meldungen sollten wöchentlich erfolgen und nach Altersgruppe und dreistelliger Postleitzahl der untersuchten Person stratifiziert sein.“25 Insgesamt ist unstrittig, dass eine Erhöhung der Testzahl gemeinhin kurzfristig zu einer Erhöhung der Zahl positiver Befunde führt. Es ist ebenso unstrittig, dass auch mehr Infektionen entdeckt werden, die sonst unentdeckt geblieben wären (aber dennoch zur Ausbreitung beigetragen hätten). Dies führt allerdings gleichzeitig zu einer schnelleren Eindämmung der Virusausbreitung . Grund für eine schwankende Testungszahl (seit Testkapazitäten ausreichend ausgebaut sind) kann sowohl ein Strategiewechsel sein oder eine höhere Anzahl von Verdachtsfällen (verschiedener Art). Die Ausführungen zur Positivenquote zeigen, dass es keinen linearen Zusammenhang zwischen der Testanzahl und den Fallzahlen gibt. Eine Orientierungshilfe kann die Anzahl der Tests und die Positivenquote zwar geben, eine vollständige Abbildung des Pandemiegeschehens ist allerdings auch unter Verwendung dieser Kenngröße nicht möglich.26 4. Zum Meldesystem Des Weiteren wurde kritisiert, dass das in Deutschland angewandte Meldesystem eine flächendeckende Erfassung des Infektionsgeschehens erschwere.27 24 Siehe beispielsweise: Katharina Schüller: Warum die Positivenquote genauso viel (oder wenig) aussagt wie die Inzidenz; 12. April 2021; https://www.risknet.de/themen/risknews/warum-die-positivenquote-genauso-vieloder -wenig-aussagt-wie-die-inzidenz/. 25 Gérard Krause: Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen; BT-Drucksache 19/26545 vom 22. Februar 2021. Im Internet abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/824558/4b8cafedcdb0f4e7b2d6a16cdf272ce0/19_14_0288-21-_ESV-Prof-Dr-G%C3%A9rard- Krause_EpiLage-data.pdf 26 Siehe auch: A. Echtermann: Der Inzidenzwert wird nicht „falsch“ berechnet, aber es gibt Kritik daran, ihn als einzigen Maßstab zu nutzen; 23. März 2021; Correctiv; https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund /2021/03/25/der-inzidenzwert-wird-nicht-falsch-berechnet-aber-es-gibt-kritik-daran-ihn-als-einzigen-massstab -zu-nutzen/. 27 Ebd. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 13 Laut Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und § 7 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vom 1.2.2020 (bis 23. Mai 2020)28 bzw. laut Meldepflichten nach § 7 Absatz 1 Satz 1 Nummer 44a des Infektionsschutzgesetzes (ab 23. Mai 2020)29 müssen labordiagnostische Nachweise von SARS-CoV-2 gemeldet werden. Hierdurch kann der öffentliche Gesundheitsdienst die Maßnahmen vor Ort zielgerichtet einleiten.30 Laut Robert Koch Institut gibt es aber keine Pflicht zur Testzahlübermittelung durch die Labore.31 Die Zahl der wöchentlich meldenden Labor schwankt. Die Anzahl der übermittelnden Labors, die Anzahl der Testungen und die Positivenquote sind auf einer Informationsseite des RKIs abrufbar .32 Um die epidemiologische Lage besser beurteilen zu können, hat das RKI zudem die „Laborbasierte Surveillance SARS-CoV-2“ eingeführt. Mittels dieses Systems soll kurzfristig die tägliche Übermittlung der virologischen Untersuchungsergebnisse auf SARS-CoV-2 erweitert werden. „Die laborbasierte SARS-CoV-2-Surveillance beruht auf der freiwilligen Teilnahme von Laboren, die diese Diagnostik durchführen. Es handelt sich damit um Daten aus einer Stichprobe von Laboren , nicht um eine Vollerhebung aller Testungen in Deutschland. Die freiwillige Teilnahme an der laborbasierten SARS-CoV-2-Surveillance ersetzt nicht die Meldepflicht nach IfSG.“33 „Alle teilnehmenden Labore haben unabhängig vom Zeitpunkt des Beginns ihrer Teilnahme rückwirkend Daten aller SARS-CoV-2-Untersuchungen übermittelt - Analysen sind nicht durch sukzessiven Einstieg in die laborbasierte Surveillance verzerrt. […] Tendenziell sind Krankenhauslabore gegenüber den niedergelassenen Laboren unterrepräsentiert; dies betrifft insbesondere Untersuchungen, die in Laboren von Krankenhäusern der Maximalversorgung durchgeführt werden . [Die] Abdeckung und Repräsentativität der Daten variieren zwischen den Bundesländern.“ 28 Internetverweis: https://www.bundesanzeiger.de/pub/publication/rNKNmR0sm9eEg9UM6jv?0; Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und § 7 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes auf Infektionen mit dem erstmals im Dezember 2019 in Wuhan/Volksrepublik China aufgetretenen neuartigen Coronavirus („2019-nCoV“) vom 30.01.2020. Bundesministerium für Gesundheit; BAnz AT 31.01.2020 V1; Außerkraftgetreten am 23. Mai 2020 (Art. 18 G vom 19. Mai 2020, BGBl. I S. 1018, 1036). 29 Mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes vom 23. Mai 2020 wird in § 7 Absatz 1 Satz 1 Nummer 44a.unter „Meldepflichtige Nachweise von Krankheitserregern“ das „Severe-Acute-Respiratory-Syndrome-Coronavirus (SARS-CoV) und Severe-Acute-Respiratory-Syndrome-Coronavirus-2 (SARS-CoV-2)“ aufgenommen: https://www.gesetze-im-internet.de/ifsg/. 30 Internetverweis: https://ars.rki.de/Content/COVID19/Main.aspx. 31 Originalzitat: „Bei den erhobenen Daten handelt es sich um eine freiwillige und keine verpflichtende Angabe der Labore, sodass eine Vollerfassung der in Deutschland durchgeführten PCR-Tests auf SARS-CoV-2 zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorliegt.“ (COVID-19-Lagebericht vom 17.03.2021; https://www.rki.de/DE/Content/Inf AZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Maerz_2021/2021-03-17-de.pdf?__blob=publicationFile.) 32 Internetverweis: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Testzahl.html. 33 Internetverweis: https://ars.rki.de/Content/COVID19/Main.aspx#:~:text=Es%20handelt%20sich%20damit %20um,nicht%20die%20Meldepflicht%20nach%20IfSG. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 14 Von den 259 registrierten Laboren34 (Stand 28.4.2021) nehmen laut Angaben des RKIs (1.6.2021) etwa 70 Labore an der erweiterten Informationsübermittelung teil. Sie teilen damit über die aggregierte wöchentliche Erfassung hinaus seit dem 1.1.2020 detaillierte Daten zur Testanzahl, Organisationstyp (Krankenhaus, Arztpraxis, andere), Bundesland, Alter und Geschlecht mit. 5. Alternativen zur alleinigen Verwendung des Inzidenzwertes Unabhängig von der Festlegung der Schwelle (35, 50 oder 100 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner ) haben Epidemiologen und Statistiker prinzipiell die alleinige Verwendung des Inzidenzwertes als Kenngröße für einschränkende Maßnahmen kritisiert. 5.1. Zur Kritik an der alleinige Verwendung des Inzidenzwertes als Kenngröße Am 27. Mai 2021 fand eine öffentliche Anhörung des „Parlamentarischen Begleitgremiums CO- VID-19-Pandemie“ im Deutschen Bundestag statt. Hier hielten mehrere Sachverständige die alleinige Verwendung der 7-Tage-Inzidenz als Kriterium (oder als Hauptkriterium) für das Einleiten von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung für problematisch. Helmut Küchenhoff35 sprach von einer ungenauen Erhebung mit systematischer Verzerrung.36 Vorgeschlagen wurde, weitere Daten wie die altersspezifische Inzidenzen und krankenhausspezifische Daten außerdem zu berücksichtigen .37 In seiner Einzelsachverständigen-Stellungnahme weist Küchenhoff auf die starke Abhängigkeit von der Dunkelziffer hin. Aus repräsentativen Studien sei bekannt, dass einerseits ein wesentlicher Teil der Infektionen vor allem wegen geringer Symptomatik unentdeckt bleibe, andererseits könnten spezifisch implementierte Teststrategien die Dunkelziffer reduzieren. Der Epidemiologe Gérard Krause hat wiederholt die alleinige Verwendung des Inzidenzwerts zur Einleitung von einschränkenden Maßnahmen bemängelt. In einem Gastkommentar, der am 27.11.2020 im Handelsblatt erschienen ist, begründet er dies wie folgt: Die Festlegung des „pauschalen Indikators“ (Inzidenz) verleite dazu, Maßnahmen ebenfalls pauschal in der Allgemeinbevölkerung anzusetzen, obgleich ein gezieltes Vorgehen deutlich wirksamer sein könne. Zudem würden erforderliche Maßnahmen zu spät eingeleitet. Maßnahmen könnten zudem „invasiver als eigentlich erforderlich in Kraft treten und dabei vermeidbare unerwünschte gesundheitliche, soziale oder wirtschaftliche Folgen haben.“ Krause schlägt vor, Indikatoren, die die Altersvertei- 34 Bis einschließlich KW 16/2021 haben sich 259 Labore für die RKI-Testlaborabfrage registriert: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Apr_2021/2021-04-28- de.pdf?__blob=publicationFile. 35 Prof. Dr. Helmut Küchenhoff, Institut für Statistik an der Ludwig-Maximilian-Universität München. 36 H. Küchenhoff und F. Günther: Stellungnahme zu COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen unter Berücksichtigung von epidemiologischen Parametern; https://www.bundestag.de/resource /blob/844296/6a8c11ce91db5d89b6d8bfa8d716474b/19_14-2_6-2-_Prof-Dr-Kuechenhoff_1-Anh-Eindaemmungsmassnahmen -data.pdf. 37 https://www.bundestag.de/ausschuesse/a14/pandemie/anhoerungen#url=L2F1c3NjaH- Vlc3NlL2ExNC9wYW5kZW1pZS9hbmhvZXJ1bmdlbi84NDM4MTItODQzODEy&mod=mod837786. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 15 lung der Betroffenen, den vorzeitigen Tod und die Verfügbarkeit medizinischer Versorgungskapazität erfassten. Er spricht sich dafür aus, dass nicht notwendigerweise dies in Formeln niedergelegt sein müsse, sondern vielmehr durch Fachleute beurteilt werden solle. In einer „Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 12. November 202038 kritisiert Krause unter anderem die ausschließliche „Reduktion der Lageeinschätzung auf einen einzigen Messwert“. Dies sei epidemiologisch nicht begründbar und entspreche nicht dem Stand der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz. Insbesondere sei für die Rechtfertigung und Indikationsstellung von Infektionsschutzmaßnahmen es notwendig, verschiedene Indikatoren gemeinsam und zusätzlich zu bisherigen Kenngrößen zu berücksichtigen. Dies seien in seinen Augen: • die Altersverteilung der Fälle, • der Anteil leichter und schwerer Erkrankungen, • die Anzahl hospitalisierter und beatmeter Patienten sowie der diesbezüglichen Versorgungskapazitäten, • die zeitliche und räumliche Verbreitung von Infektionsketten, • die Anzahl in Quarantäne befindlicher Personen, • die Anzahl oder Anteil betroffener Berufsgruppen, • die Verteilung der wahrscheinlichen Infektionsquellen, • die COVID-19-ursachenspezifische Sterblichkeit, • der Anteil an Fällen, die zuvor als Kontaktperson identifiziert waren, sowie der Anteil der Kontaktpersonen, bei denen eine SARS-CoV-2 Infektion nachgewiesen wird, • die Dynamik der o.g. Indikatoren über Raum und Zeit.39 In einer „Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen (BT-Drucksache 19/26545)“ vom 22. Februar 2021 erneuert Krause seine Kritik und führt in Hinblick auf die ausschließliche Verwendung des Inzidenzwertes aus: „Durch die im Dritten Bevölkerungsschutzgesetz beschlossene Koppelung von Maßnahmen an einen einzigen Indikator, nämlich alleinig den Inzidenzwert der Fallmeldungen, hat der Gesetzgeber die Exekutive in Abhängigkeit eines Messwertes gegeben, der nachweislich keine konstante Messgrundlage hat. […] Zur sachgerechten Bewertung der Fallmeldezahlen ist zusätzlich mindestens notwendig, einen Referenzwert über die Zahl der überhaupt durchgeführten Tests zu erheben . Der Gesetzgeber hatte im Frühjahr 2020 eine entsprechende Regelung eingeführt, diese aber im November 2020 aus nachvollziehbaren Gründen wieder zurückgezogen. Dabei wurde allerdings versäumt, eine datenschutzrechtlich und technisch umsetzbare Ersatzregelung zu schaffen. 38 Gérard Krause: Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite; Deutscher Bundestag Ausschuss für Gesundheit . Öffentliche Anhörung „Drittes Bevölkerungsschutzgesetz“; 12. November 2020: https://www.bundestag .de/resource/blob/806694/70a4311b5e62c3e6d028f1495960270d/19_14_0246-21-_ESV-Prof-Dr-Gerard- Krause-3-BevSchG-data.pdf. 39 Ebd., Seite 6. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 16 Es wäre dringend erforderlich, eine anonyme aggregierte Meldepflicht für durchgeführte Nukleinsäurenachweise (PCR) von SARS-CoV-2 einzuführen, um so strategiebedingte Schwankungen der Testaktivitäten korrigieren zu können. Diese Meldungen sollten wöchentlich erfolgen und nach Altersgruppe und dreistelliger Postleitzahl der untersuchten Person stratifiziert sein. […] Die Antigentests, die vielfach als sogenannte „point of care“ und als „Selbst-Tests“ zum Einsatz kommen, blieben in einer solchen Erfassung unberücksichtigt. Da aber die Fallmeldungen differenziert nach Untersuchungsmethode gefiltert werden können, könnte dennoch ein hinreichend genauer Quotient gebildet werden, der eine Korrektur gegen Verzerrungen durch schwankende Testaktivitäten erlaubt.“40 Die Verwendung einer Vielzahl verschiedener Indikatoren, die jeder für sich genommen auch wiederum Schwächen hinsichtlich der umfassenden Darstellung des Pandemiegeschehens aufweist , führt zu einem detailreicheren Bild über die Infektionslage. Es bleibt allerdings offen, wie diese multidimensionale Darstellung sich in einheitliche Maßnahmen umsetzen lässt. Krause schlägt in seiner Stellungnahme vom 12. November 2020 vor, dass das Robert Koch-Institut im Benehmen mit der Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden und unter Verwendung definierter Indikatoren Leitlinien für die Indikationsstellung der in Absatz 1 zu treffenden Maßnahmen erstelle.41 5.2. Zu weiteren Kenngrößen Die Verwendung der Positivenquote, die als Ersatz oder als zusätzliche Kenngröße zum Inzidenzwert gefordert wurde, und die damit verbundenen Schwierigkeiten sind bereits in den vorangegangenen Kapiteln erörtert worden. Weitere Lösungsvorschläge umfassen42: - Krankenhausneuzugänge und Intensivbettenbelegung. Dieser Indikator greift mit Zeitverzug , da er erst Tage, ggf. Wochen nach Infektion zählt. Er stellt aber ein Maß für die Schwere dar. Er bildet Ausbrüche unter jüngeren Infizierten nur unzureichend ab. Durch die Zeitverzögerung eignet er sich als alleinigen Faktor nicht. - Sterbezahlen. Auch diese Kenngröße greift um Wochen verzögert nach Infektion (und potenzieller Infektionsweitergabe), beschreibt aber zu einem gewissen Grad die Schwere der Pandemie. - Altersstruktur. Finden Infektionen vornehmlich in jüngeren Altersgruppen statt (z.B. Schulklasse), ist die Gefährdungslage insbesondere in Hinblick auf möglich Krankenhauskapazitäten anders zu bewerten als bei Infektionen von älteren Personen. 40 Gérard Krause: Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Gesetzes zur Fortgeltung der die epidemische Lage von nationaler Tragweite betreffenden Regelungen; BT-Drucksache 19/26545 vom 22. Februar 2021. Im Internet abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource /blob/824558/4b8cafedcdb0f4e7b2d6a16cdf272ce0/19_14_0288-21-_ESV-Prof-Dr-G%C3%A9rard- Krause_EpiLage-data.pdf 41 Gérard Krause: Stellungnahme als Einzelsachverständiger zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite, Seite 7. 42 Siehe hierzu beispielsweise: https://www.focus.de/gesundheit/news/gastbeitrag-von-katharina-schueller-statistikerin -kritisiert-inzidenz-glaeubigkeit-5-werte-sagen-viel-mehr-ueber-pandemie-aus_id_13182985.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 050/21 Seite 17 - Clusterausbrüche. Ausbrüche in definierten, lokalisierbaren Gruppen (Wohngruppen beispielsweise ) sind im Prinzip anders zu bewerten als flächendeckende Ausbrüche. Ob ein lokal beginnender Ausbruch tatsächlich begrenzt geblieben ist, dürfte jedoch oftmals erst mit einer gewissen Zeitverzögerung klar sein. - Anteil Geimpfter und Genesener. Der Anteil immuner oder teil-immuner Personen hat Einfluss auf die Infektionswahrscheinlichkeit in der Bevölkerung. Je mehr Menschen immun sind, desto geringer wird das Infektionsrisiko. - Regionale Testungspraxis. Der Anteil der „zufällig“ getesteten Personen, ihre Altersstruktur beeinflusst die zu erwartende Anzahl positiver Testergebnisse (vgl. Kapitel zur Positivenquote ). - Repräsentative Testung Testet man repräsentativ (und ohne Anlass, d.h. nicht wegen Symptomen, positiven Schnelltests, Kontakten etc.), so entspricht die Positivrate der Prävalenz in der Bevölkerung und spiegelt den Anteil der Infizierten in der Bevölkerung wider.43 - Abwasserdaten Im Zuge eines Abwassermonitorings wird vorgeschlagen, Fragmente des Coronavirus, die im Abwasser zu finden sind, zu identifizieren. Diese Methodik hat das Ziel, das Infektionsgeschehen in der jeweiligen Einzugsregion abzubilden, identifiziert naturgemäß aber nicht einzelne Infizierte. Er kann aber als unterstützender Maßnahmen-Indikator eingesetzt werden.44 Im Zuge der Etablierung pandemiebegleitender Früh- und Entwarnungssysteme fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Entwicklung eines Corona-Monitoring über Abwässer mit drei Verbundprojekte.45 Laut Empfehlung der Europäischen Kommission vom 17.3.202146 soll als ergänzender und unabhängiger Ansatz für die COVID-19-Überwachung und -Teststrategien eine Abwasserüberwachung in den Mitgliedstaaten eingerichtet werden. Dabei werden „die Mitgliedstaaten […] nachdrücklich aufgefordert, so bald wie möglich, spätestens jedoch bis zum 1. Oktober 2021 ein nationales Abwasserüberwachungssystem einzurichten, das auf die Erhebung von Daten über SARS-CoV-2 und seine Varianten im Abwasser abzielt.“47 *** 43 Science Media Center: Laborkapazität an PCR-Tests sinnvoll nutzen. vom 23.02.2021, https://www.sciencemediacenter .de/alle-angebote/rapid-reaction/details/news/laborkapazitaet-an-pcr-tests-sinnvoll-nutzen/. Siehe hierzu auch: Seite 557 in: Bayerisches Landesamt für Statistik: Bayern in Zahlen; Fachzeitschrift für Statistik , Ausgabe 09|2020; https://www.statistik.bayern.de/mam/presse/biz09_2020_kennzahlen_corona_aus_statistiksicht _z1000g_202009.pdf. 44 Eine Einleitung in das Abwassermonitoring bietet der Infobrief: Abwasserbasierte Epidemiologie; Abwassermonitoring als Frühwarnsystem für Pandemien; WD 8 - 3010 - 059/21 vom 14. Juni 2021. 45 https://www.bmbf.de/de/corona-frueh-und-entwarnsystem-aus-dem-abwasser-14458.html. 46 EMPFEHLUNG (EU) 2021/472 DER KOMMISSION vom 17. März 2021 über einen gemeinsamen Ansatz zur Einführung einer systematischen Überwachung von SARS-CoV-2 und seinen Varianten im Abwasser in der EU; https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32021H0472&from=EN. 47 Ebd.