Homeschooling in westlichen Industrienationen Verbreitung, Evaluationsergebnisse, Elternmotive - Ausarbeitung - © 2009 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 047/2009 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Homeschooling in westlichen Industrienationen Verbreitung, Evaluationsergebnisse, Elternmotive Ausarbeitung WD 8 - 3000 - 047/2009 Abschluss der Arbeit: 20.5.2009, aktualisiert am 25.6.2009 Fachbereich WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. Inhalt 1. Einleitung: Definition, Phänomen und Problemaufriss 3 2. Rechtliche Grundlagen und Verbreitung des Homeschoolings 2.1. Nordamerika und Down Under: Legal, wachsende Verbreitung 6 auf insgesamt niedrigem Niveau 2.2. Innereuropäischer Vergleich: Häufig möglich, sehr geringe 8 Verbreitung, teilweise zunehmend 2.3. Deutschland: Illegal, geringfügig praktiziert, gerichtlich untersagt 12 3. Leistungsfähigkeit des Heimunterrichts 3.1. Outcome-Variable Lernerfolg 17 3.2. Outcome-Variable soziale und staatsbürgerliche Kompetenz 19 4. Elternmotive 4.1. Quantitativ: Religiosität als Hauptmotiv in den USA 21 4.2. Qualitativ: Zwischen ideologischem und pädagogischem Anspruch 24 4.3. Deutsche Homeschooling-Eltern: "Fromme" und "Alternative" 26 als Mehrheit 5. Fazit 28 6. Verwendete Literatur 30 - 3 - 1. Einleitung: Definition, Phänomen und Problemaufriss Der Begriff Homeschooling stammt aus den USA. Das Phänomen als solches wird begrifflich vielfältig beschrieben. Nicht nur unterschiedliche weitere Schreibweisen wie Home Schooling, Home-Schooling, Home-Schooling finden sich, auch die Termini Home Education, Educating children at home, Home Learning oder in Deutschland Hausunterricht, Heimbeschulung, Bildung zu Hause, Familienunterricht, schulfreies Lernen oder Freilerner sind verbreitet. Zum Teil drücken sich in ihnen auch unterschiedlich abgrenzende Bedeutungen gegenüber den etablierten Schulstrukturen und Lernvorstellungen aus. Im wissenschaftlichen Kontext haben sich jedoch die Begriffe Homeschooling und vor allem im britischen Raum Home Education durchgesetzt. International ist dieser Begriff neben den jeweiligen Landesbezeichnungen (z.B. educación libre in Spanien oder l'école à la maison in Frankreich) gängig. Auch in Deutschland deckt der Begriff Homeschooling am ehesten die Bandbreite der Bewegung ab. Definitorisch bezeichnet Homeschooling „[…] den Bildungsansatz, bei dem Kinder in ihrem eigenen häuslichen Umfeld [zeitweise oder dauerhaft] lernen, anstatt eine Schule [staatlich oder in privater Trägerschaft] zu besuchen1. Gestaltet wird dieser Lernprozess meist durch die Eltern, seltener durch andere der jeweiligen Familie zugehörige oder nahestehende Personen“ (Spiegler 2008: 11). Dabei ist Homeschooling „[…] keinesfalls die Fortsetzung des althergebrachten Hauslehrerunterrichts, der aus sittlichen oder traditionellen Erwägungen einer Familie praktiziert wurde oder weil in erreichbarer Nähe keine Schule zur Verfügung stand. Vielmehr wird die Entscheidung für Homeschooling vor dem Hintergrund eines verfügbaren und hoch entwickelten öffentlichen Bildungssystems getroffen und ist damit eine bewusste Entscheidung der Eltern gegen dieses System – entweder aus einer generellen [z.B. religiös motivierten], schulkritischen Haltung heraus oder als Reaktion auf die individuellen Bedürfnisse eines Kindes“ (Fischer 2007: 1). Da beim Homeschooling die Entscheidung gegen den Schulbesuch also weder auf Grund ökonomischer Zwänge oder fehlender Bildungseinrichtungen getroffen wird, sind Homeschooler deutlich von der UNESCO-Kategorie der so genannten „out-of-school children“ zu unterscheiden. In ihr werden alle Kinder erfasst, die auf Grund von Armut oder wegen der politischen Verhältnisse im Grundschulalter keinen Zugang zu qualitativ 1 Spiegler weist darauf hin, dass aus der Einfachheit dieser Definition auch Unschärfen folgen. Ungeklärt blieben darin die Fragen, was mit den Schülern von Fernlerninstitutionen ist und bis zu welchem Verhältnis von häuslichen zu schulischem Lernen von Heimunterricht gesprochen werden könne. Da beide Punkte jedoch vor allem dann Bedeutung haben, wenn das Homeschooling quantitativ erfasst werden soll, sei die Definition ansonsten aber völlig ausreichend (Spiegler 2008: 11). - 4 - hochwertiger Schulbildung haben (UNESCO-Kommission 2009: 6).2 Ebenso ist die Kategorie der Schulverweigerer3 von den Homeschoolern zu differenzieren. Eine legale Alternative zum Schulbesuch ist das Homeschooling seit den achtziger Jahren in den USA. Dort findet es mit einem Anteil von ca. 3% auch seine größte Verbreitung . Kanada, Neuseeland und Australien gehören auch zu den so genannten Homeschooling -Ländern. In Europa ist Heimunterricht am ehesten in Großbritannien mit knapp 1% verbreitet. In anderen europäischen Staaten ist das Homescholling ebenfalls häufig erlaubt, in weiteren unerwünscht, aber geduldet und in einigen untersagt. In Deutschland existiert explizit eine Schulpflicht. Homeschooling ist damit grundsätzlich verboten. Die allermeisten Schulgesetze der Bundesländer sehen zwar Ausnahmen von der Schulpflicht vor, eine Genehmigung zur Heimbeschulung im Sinne des Homeschoolings ist jedoch kaum möglich. Das Thema Homeschooling spielt in der deutschen Bildungsdiskussion eine eher unwesentliche Rolle. Die politische und wissenschaftliche Schuldebatte in Deutschland ist insbesondere geprägt von Auseinandersetzungen über die Einführung einer Gemeinschaftsschule in Abgrenzung zum dreigliedrigen – teilweise zweigliedrigen – Schulsystem , über die Bedeutung von Ganztagsschulen beim Abbau von Bildungsbenachteiligung oder über den Zuwachs an Privatschulen (vgl. Oelkers 20084) und privater Bildungsfinanzierung . Entsprechend wenig bzw. so gut wie gar keine Arbeiten finden sich in Deutschland, die sich dem Homeschooling aus wissenschaftlicher Perspektive widmen. International, hauptsächlich in den USA und Großbritannien, gibt es inzwischen zahlreiche Studien zu dem Thema – wenn auch relativ stark aus der Homeschooling-Bewegung selbst heraus. In Deutschland wird die Schulbesuchspflicht in den letzten Jahren vor allem im Rahmen von Publikationen zum alternativen Lernen thematisiert. Im Wissenschaftsbereich hingegen existieren nur eine Handvoll qualitativ höchst unterschiedlicher Haus- bzw. Ab- 2 Im Jahr 2006 besuchten weltweit insgesamt 75 Millionen Kinder keine Schule. Annähernd die Hälfte der Kinder, die keine Schule besuchen, lebt in Subsahara-Afrika, ein weiteres Viertel in Süd- und Westasien (Pakistan z.B. 6,8 Millionen). Hochrechnungen ergeben, dass auch 2015 noch 29 Millionen Kinder keine Schule besuchen werden (UNESCO-Kommission 2009: 7). 3 Das Thema „Schulversäumnisse und Schulpflichtverletzung“ im Zusammenhang mit Schulschwänzerinnen und Schulschwänzern ist Gegenstand einer nicht unbeachtlichen Menge an sozialpädagogischer Fachliteratur in Deutschland. Beispielsweise lag für Mecklenburg-Vorpommern die Quote der Schulversäumnisse am deutlich höchsten in den Förderschulen mit Werten zwischen 7-12% an Unterrichtsversäumnis in den Klassen 5-9 (Ehrmann; Rademacker 2003: 43). 4 Oelkers stellt fest, dass die Monopolstellung der staatlichen Schulen weltweit überall herausgefordert ist und sich Privatschulen zunehmend öffentlicher Wertschätzung erfreuen (Oelkers 2008: 4). In Australien besucht inzwischen ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler „non-govermental schools“. Die Mehrzahl kommt aus der Mittel- und Oberschicht (ebd.: 21). - 5 - schlussarbeiten, zunehmend Aufsätze zur rechtlichen Situation sowie ein Sammelband der beiden Kommunikationswissenschaftler Ladenthin und Fischer, der jedoch relativ stark pädagogikhistorisch ausgerichtet ist, und eine erste und umfassende empirische Dissertation des Soziologen Spiegler aus dem Jahr 2006, die im letzten Jahr veröffentlicht wurde. Heimunterricht findet in Deutschland jedoch in den letzten Jahren eine vor allem größere mediale Beachtung. Insbesondere die juristischen Verfahren, die von deutschen Eltern angestrengt wurden und werden, um ihre Kinder zu Hause unterrichten zu können, werden in Tageszeitungen, Hörfunk- oder Fernsehbeiträgen begleitet. Das mag auch damit zu tun haben, dass die deutsche Hausschulbewegung, die sich seit den neunziger Jahren herausbildet und der nach eigenen Angaben derzeit schätzungsweise 300-500 aktiv unterrichtende Familien angehören, relativ stark (besonders mit den USA) vernetzt ist und intensive Lobbyarbeit5 betreibt. Bekannt wurden dadurch in den letzten Jahren zum Beispiel die Rechtskonflikte der bayrischen Glaubensgemeinschaft der „Zwölf Stämme“6, der sieben – mittlerweile ausgewanderten – Baptistenfamilien in Paderborn oder einer streng religiösen hessischen Familie, die Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht hatte und gescheitert ist. Aber auch die Bremer Eltern Neubronner, die schon als „Chef-Lobbyisten der deutschen Hausschüler“ (Spiegel-Online vom 3. Februar 2009) bezeichnet wurden und die seit Jahren juristisch und medial7 gegen die deutsche Schulpflicht kämpfen, sind Gegenstand intensiver Berichterstattung8. Ganz aktuell sorgt nun der Fall der schwäbischen evangelikalen Familie Romeike für Aufsehen. Nachdem die Familie im letzten Jahr ausgewandert ist, hat die amerikanische 5 Gerade über das Internet werben die deutschen Organisationen um Unterstützung und treten dort stark in Erscheinung. Einige wichtige Webseiten der deutschen Homeschooling-Bewegung sowohl aus dem christlichen als auch säkularen Bereich sind: www.homeschooling.de, www.hausunterricht.de, www.philadelphia-schule.de, www.schuzh.de, www.sfev.de, www.diefreilerner.de, www.familie-istzukunft .de, www.netzwerk-bildungsfreiheit.de, www.leben-ohne-schule.de, www.bvnl.de/natuerlicheslernen .de, www.homeschool.de. Die wichtigste internationale Homeschooling-Organisation ist die Home School Legal Defense Association , die sich 1983 in den USA gründete: www.hslda.org. „Obwohl die HSLDA nicht ausschließlich christliche Homeschooler vertritt, legitimiert sie weitgehend das eigene Handeln anhand der göttlich inspirierten Offenbarung“ (Preußkner 2000: 4). 6 Diese Glaubensgemeinschaft gründete schließlich eine eigene Privatschule in Bayern, die strengen behördlichen Auflagen unterliegt. 7 Unter anderem treten sie regelmäßig in der RTL-Sendung Stern-TV auf. 8 Nicht zuletzt seit der Vater im letzten Jahr mit den beiden Kindern nach Frankreich ausgewandert ist, um sie dort zu unterrichten. Und ganz aktuell wieder, nachdem am 3.2.2009 ihre Berufung gegen das Urteil des Bremer Verwaltungsgerichts vom 8. November 2006 der Ablehnung ihres Schulpflichtbefreiungsantrages vom Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen wurde (Oberverwaltungsgericht der freien Hansestadt Bremen, OVG 1A 21/07 vom 3.2.2009). - 6 - Homeschool-Organisation HSLDA im November 2008 einen Antrag auf politisches Asyl für die Romeikes in den USA eingereicht. Begründet wird dieser damit, dass sich die Familie von deutschen Behörden, die drei ihrer Kinder polizeilich in die Schule bringen ließen, verfolgt fühlt. Die HSLDA nutzt das einmalige Verfahren für vehemente Öffentlichkeitsarbeit gegen die deutsche Schulpflicht. In diesem Zusammenhang verweist sie immer wieder auf den Nationalsozialismus und die auch dort praktizierte Schulpflicht sowie darauf, dass auch „Juden, Schwarze, Behinderte und Katholiken schon in Deutschland verfolgt worden seien“ (Spiegel-Online vom 3. April 2009). Das Auswärtige Amt in Berlin beobachtet den Fall, äußert sich aber nicht zum laufenden Verfahren. Es ist damit zu rechnen, dass dieser Fall bis zur Entscheidung des amerikanischen Immigrationsgerichts, die nicht vor Dezember 2009 erwartet wird, weiterhin für Schlagzeilen sorgen wird. 2. Rechtliche Grundlagen und Verbreitung des Homeschoolings 2.1. Nordamerika und Down Under: Legal, wachsende Verbreitung auf insgesamt niedrigem Niveau In den USA ist Homeschooling im internationalen Vergleich am verbreitetsten. Auf ganz aktuell ca. 1,5 Millionen9 „homeschooled students“ und damit ca. 3% aller weit mehr als 50 Millionen Schülerinnen und Schülern schätzt das National Center of Education Statistics ihre Anzahl. Dabei ist der Anstieg gerade in den letzten Jahren nicht unbeachtlich : Während 1999 noch 850.000 Schüler zu Hause unterrichtet wurden, waren es 2003 bereits 1,1, Millionen (U.S. Departement of Education 2008: 1f). Homeschooling hat in den USA eine lange Tradition. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Kinder (vor allem in religiösen Belangen) überwiegend im familiären Umfeld unterrichtet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwand der Heimunterricht aber völlig, weil sich die Auffassung durchsetzte, dass Kinder auf staatliche und durch Steuergelder finanzierte Schulen gehen sollten. Bis 1918 erließen alle Bundesstaaten Schulpflichtgesetze, wodurch die Wissensvermittlung zu Hause – bis auf wenige Ausnahmen bei Religionsgemeinschaften – nicht mehr stattfand. Erst Ende der siebziger Jahre entwickelte sich in den USA unter religiösem Einfluss bzw. unter Einfluss der Civil Rights Movement eine `erneute` Homeschooling-Bewegung – zunächst gegen den Widerstand von Schulbehörden und Gerichten (Preußkner 2000: 8). In den achtziger Jahren folgte dann bis in alle Bundesstaaten hinein eine Legalisierung. 9 Der ehemalige Lehrer und jetzige US-Homeschooling-Lobbyist der HSLDA (und Direktor ihres National Home Education Research Institute) Dr. Brian Ray schätzt die Anzahl der homeschooled students 2007/2008 hingegen auf 1,8-2,5 Millionen (Ray 2008: 1). Das NCES selbst geht von einer Fehlertoleranz von +-230.000, also von 1,27-1,74 Millionen, aus. - 7 - Die Bundesstaaten räumen den lehrenden Eltern allerdings sehr unterschiedliche Freiheiten ein. Grundsätzlich lassen sich dabei vier Kategorien unterscheiden: Staaten mit gar keiner, niedriger, moderater oder aber hoher Regulierung. In Texas, Oklahoma, Idaho und Illinois zum Beispiel ist Homeschooling komplett auflagenfrei und muss nicht einmal gemeldet werden. Die nordöstlichen Staaten New York, Vermont, Pennsylvania, Rhode Island, Massachusetts und North Dakota hingegen knüpfen das Homeschooling an hohe Auflagen. Neben einer Registrierung werden beispielsweise Nachweise über die Lehrbefähigung der Eltern und regelmäßige Leistungstests der zu Hause unterrichteten Schüler gefordert, auch behördliche Hausbesuche sind vorgesehen (HSLDA 2009). Dass die genannten Auflagen ausgeweitet bzw. in weiteren Bundesstaaten eingeführt werden, ist eher nicht zu erwarten. Die Homeschooling-Vereine sind innerhalb von drei Dekaden zu sehr einflussreichen US-Lobby-Organisationen im Bildungsbereich geworden.10 In Virginia scheiterte beispielsweise im Jahr 2000 an ihrem Protest die Einführung eines Gesetzentwurfes, der das High School Diplom an die Teilnahme an einem verpflichtenden und für den ganzen Bundesstaat einheitlichen standardisierten Test gebunden hätte (Preußkner 2000: 6f). Der hohe Grad der Lobbytätigkeit drückt sich auch darin aus, dass US-Homeschooling-Eltern und ihre Unterstützer selbst angeben, das Telefonsystem des Weißen Hauses mit rund 86.000 Anrufen innerhalb von drei Stunden lahmlegen zu können (Cooper; Sureau 2007: 110). Auch in Kanada, Neuseeland und Australien ist Heimunterricht legal. In den letzten 15 Jahren wuchs der Anteil der zu Hause unterrichteten Kinder auf ungefähr jeweils 1% an11, in Australien blieb er jedoch darunter (Spiegler 2008: 13f).12 In Neuseeland entspricht dieses knappe Prozent 2008 rund 6.500 zu Hause unterrichteten Kindern und 3380 Familien. Wie in den anderen genannten Ländern auch, gibt es im Neuseeland die Verpflichtung zur compulsory education vom 6. bis zum 16. Lebensjahr, was wohl mit dem Begriff Unterrichts- oder Bildungspflicht übersetzt werden könnte. Homeschooling- Familien benötigen dort die Anerkennung des Bildungsministeriums. Sie sind verpflichtet den Kindern einen der Schulbildung äquivalenten Unterricht zu bieten, erhalten aber 10 Die Ablehnung von Homeschooling sank in den USA von 1985 mit 73% auf 57% im Jahr 1997 (Spiegel -Online vom 13.5.2005). 11 Die Zahlen für die einzelnen Länder variieren je nach Quelle extrem stark. Schirrmacher geht für Kanada sogar von 3-4% aus (Schirrmacher 2006: 215). 12 In Südafrika und bedingt in Japan ist Homeschooling auch möglich. 2003 praktizierten nach Angaben der „Home-School Support Association of Japan“ insgesamt etwa 3000 Personen das Homeschooling in ganz Japan – darunter waren allerdings allein 2000 Mitglieder einer christlichen Organisation (Sakurai 2004: 125). Das japanische Schulgrundgesetz schreibt vor, dass Erziehungsberechtigte die Verpflichtung haben, ihre Kinder in die Grund- und Mittelschule einschulen zu lassen. Eine Verletzung dieser Verpflichtung wird mit einer Geldstrafe geahndet. Das japanische Erziehungsministerium ist aber der Auffassung, dass im Falle der Schulverweigerung das Lernen zu Hause genehmigt werden kann, jedoch dürften die Erziehungsberechtigten die Bildung zu Hause nicht aktiv allein durchführen (ebd.: 127). - 8 - auch eine jährliche finanzielle Unterstützung für Unterrichtsmaterialien (Ministery of Education of New Zealand 2008). 2.2. Innereuropäischer Vergleich: Häufig möglich, sehr geringe, aber teilweise zunehmende Verbreitung In Europa ist das Homeschooling am stärksten in Großbritannien verbreitet. Schätzungen gehen von einem Anteil von ca. 1%+x aus (Spiegler 2008: 13). Während 1995 etwa 10.000 Kinder zu Hause unterrichtet wurden, sollen es aktuell zwischen 50.000-170.000 sein (Koller 2007: 25)13. In Großbritannien ist im Bildungsgesetz eine Unterrichts- keine Schulpflicht festgelegt. Ziel ist, dass Eltern aller Kinder im schulpflichtigen Alter dafür sorgen, dass sie angemessenen Vollzeitunterricht erhalten „[…] either by regular attendance at school or otherwise” (hier: Education Act 1996 437 (1)). Die irische Verfassung erlaubt das „educating children at home“ nach „Article 42 of Bunreacht na hÉIreann “. Mit dem Education Act aus dem Jahr 2000 sind Registrierungs- und Prüfungsanforderungen eingeführt worden. Es ist davon auszugehen, dass ca. 2000 Familien in Irland Homeschooling praktizieren, ca. 500 Familien sind registriert In Frankreich ist Home Education nach „l`article L. 131-2 du code de l`éducation“ durch die Eltern oder eine von ihnen ausgesuchte Person ebenfalls erlaubt Die Zahl der Homeschooler wird auf 10.000-20.000 taxiert (Spiegler 2008: 13). Bei einer Gesamtschülerzahl von über 12 Millionen entspricht das einem Anteil von ca. 0,1%. Der Staat macht allerdings strenge Auflagen. So sind Eltern verpflichtet, den Hausunterricht gegenüber der örtlichen städtischen und der schulischen Vertretung zu melden und den Besuch von Schulinspektoren zuzulassen. Außerdem müssen sie ihre Kinder für anerkannte Kurse an Fernschulen einschreiben, damit der für alle Kinder gleichermaßen geltende Pflichtlehrplan erfüllt werden kann. Bei Verstößen gegen die Meldepflicht drohen Geldbußen in Höhe von 1500 Euro, gegen die Einschreibungspflicht bis zu 7500 Euro und eine sechsmonatige Haftstrafe Dänemark stellt es in den Eltern nach Artikel 76 der dänischen Verfassung frei, in welcher Form sie der Bildungsverpflichtung gegenüber ihren Kindern nachkommen wollen. Homeschooling ist damit erlaubt14 und 2007 wurden knapp 8400 Kinder (aus unter- 13 keine genauen Angaben zur Anzahl von britischen Homeschooling-Kindern gemacht. Schätzungen aus Zeitungen, die sich auf Angaben der Homeschooling-Organisationen bezogen, die sich (wie bei Koller) zwischen 50.000 und 170.000 bewegten. Alle alternativen Schätzungen aus dem akademischen Bereich sollen weit darunter liegen und von 35.000-50.000 ausgehen 14 Genauere Angaben zu den Anforderungen finden sich in Kapitel VIII des dänischen Privatschulgesetzes Nr. 962 vom 26.9.2008. - 9 - schiedlichsten Gründen) zu Hause unterrichtet, was einem Anteil von ca. 1,2% entsprechen würde ( ). Auch in Polen ist die absolute Zahl der Kinder, die auf Grund von Genehmigungen „außerhalb der Schule“ (nicht automatisch zu Hause und von ihren Eltern) Unterricht erhalten, im innereuropäischen Vergleich und auf Grundlage der Daten, die vorliegen, relativ hoch: 2007/2008 waren es über 15.500 Kinder (ca. 9200 im Grundschulalter). Das entspricht einem Anteil von knapp einem halbem Prozent aller Schülerinnen und Schüler. In Polen können Eltern bei der jeweils zuständigen Schulleitung (seit März dieses Jahres auch bei Leitungen privater Schulen) eine Erlaubnis zur „obligatory education outside the school“ einholen . Dafür müssen sie ein günstiges psychologisch-pädagogisches Gutachten, eine Erklärung, dass ihr Kind nach dem allgemeinen Lehrplan unterrichtet wird und eine Einwilligungserklärung zur Teilnahme ihres Kindes an jährlichen Schulprüfungen einreichen . Bei Leistungsabfall oder ausbleibender Prüfungsteilnahme der Kinder kann die Erlaubnis zum Homeschooling zurückgenommen werden . Österreich15, Portugal16, Estland17, Tschechien18, Slowenien19, Belgien20, Finnland21, Italien22, Island, Norwegen und die meisten Kantone der Schweiz gestatten das Home- 15 Nach § 11 Abs. 2 Schulpflichtgesetz kann „[…] die allgemeine Schulpflicht [..] ferner durch die Teilnahme an häuslichem Unterricht erfüllt werden“ 16 Die Erlaubnis zum Homeschooling gründet auf Gesetzen von 1949 (Decree law no 37545), 1952 (Decree no 38969) und 1957 (Order no 32/77). Diese Gesetze sind nach wie vor gültig. 17 Nach § 20 des „Basic Schools and Upper Secondary Schools Act“ kann die Schulpflicht in Estland „[…] also be fulfilled by stuying at home“. In der Grundschule kann das Homeschooling auf Grund gesundheitlicher Probleme oder aber auf Grund eines elterlichen Gesuchs, in dem der Grund für das Homeschooling und der Lehrende angegeben werden muss, gestattet werden. Über den Antrag entscheidet „the pedagogical council of the school“ . 18 Artikel 5 des tschechischen “Education Act” bietet Schulleitungen die Möglichkeit, Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen, eine Erlaubnis dazu zu geben, wenn sie den Bildungsstand („familiy educational standard“) der Eltern als entsprechend hoch einschätzen 19 Laut Artikel 88 des „Elementary School Act“ haben Eltern das Recht „[…] to provide elementary education of their children as homeschooling”. Dieser Wunsch muss der zuständigen Schule mindestens 3 Monate vor Schulbeginn angezeigt werden. Eltern müssen dafür den Namen von Kind und Lehrendem, den Ort des Unterrichts und das zu nutzen beabsichtigte staatlich anerkannte Lehrmaterial angeben 20 In allen drei Gemeischaften Belgiens ist das Homeschooling anerkannt. Die Regionen erlassen aber unterschiedliche Anforderungen zur Genehmigung . 21 Finnland hat nach dem „Basic Education Act“ eine Bildungs-, aber keine Schulbesuchspflicht. Erziehungsberechtigte , die ihr Kind zu Hause unterrichten wollen, können dies ohne Einschränkungen tun. Sie müssen jedoch der Bildungspflicht nachkommen, ansonsten droht ihnen eine Geldstrafe. Die jeweiligen Gemeindebehörden „[…] are responsible for monitoring the child´s progress […]. Legislation does not stipulate how this supervision is organised; instead, the municipal authorities decide on practical arrangement .“ Häufig wird ein Lehrer beauftragt, die entsprechende Aufsicht zu führen, für die Elternberatung zur Verfügung zu stehen und die Leistungen der homeschooled Kinder zu prüfen - 10 - schooling ebenso, allerdings ist es dort nur gering verbreitet.23 Amtliche Zahlen gibt es nur wenige. Vorhandene Schätzungen gehen von ca. 100 Schweizer Familien und bis zu 400 Kinder in Belgien aus (Koller 2007: 24f). In Portugal waren es 2006 nach behördlichen (aber nicht offiziellen) Angaben weniger als 20 Homeschooling-Kinder , in Tschechien 2008 ca. 430 in Estland sind es dieses Jahr gut 66024 und in Österreich waren es 2006 geschätzte 350 Kinder, die häuslichen Unterricht oder eine Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht besuch[t]en“ Alle Länder25 verlangen eine regelmäßige (staatliche) Leistungs-Überprüfung der Homeschooling-Kinder. In Portugal sind beispielsweise neben optionalen vierteljährlichen Prüfungen am Ende der 6. und der 9. Klasse große Examen vorgesehen, um den Kindern einen fließenden Schulübergang zu ermöglichen. Homeschooled Kinder müssen in fast allen Ländern mindestens ein bis zwei Mal jährlich an den Schulen oder in einigen Ländern von staatlich anerkannten Lehrern geprüft werden. Bei Nicht-Bestehen der Prüfungen müssen sie zumeist wieder die Schule besuchen26; bei Bestehen gilt allerdings beispielsweise in Slowenien das homeschooled certificate [as] an official document“ In fast allen genannten Ländern ist ferner festgelegt , dass der häusliche Unterricht dem an einer staatlichen oder privaten Schule gleichwertig sein muss (vgl. § 11 Abs. 2 österreichisches Schulpflichtgesetz sogar „mindestens gleichwertig“27). Einen ambivalenten Status hat Homeschooling in Schweden und den Niederlanden. Danach ist Homeschooling dort nicht grundsätzlich verboten, aber auch nicht als Alternative zum Schulbesuch erwünscht und (zumindest in den letzten Jahren) eher selten zugelassen . In Schweden gibt es für alle Schüler eine Schulbesuchspflicht. Das Schulgesetz gestattet aber für ein Jahr “special education […] because of illness or for similar 22 Artikel 111 des „Consolidated Legislation on the School“ gestattet das Homeschooling in Italien. Allerdings ist es nur für Kinder zwischen dem 6. und 10. Lebensjahr möglich 23 Schirrmacher und Spiegler gruppieren diese Länder zumeist ähnlich – nennen auch Island, Norwegen und die Schweiz (Schirrmacher 2006: 237; Spiegler 2008: 13f). 24 Davon werden allein 566 Kinder wegen gesundheitlicher Probleme zu Hause unterrichtet, nur 96 auf Grund eines elterlichen Gesuchs. 25 Auf der Internetseite der Lobby-Organisation www.hausunterricht.de wird Belgien als Land ohne Einschränkungen lediglich mit einer Informationspflicht beschrieben. 26 In Österreich ist z.B. gegen eine entsprechende Entscheidung des Bezirksschulrates kein ordentliches Rechtsmittel zulässig. 27 Nach österreichischem Recht, kann der Bezirksschulrat, dem der Heimunterricht vor Beginn des Schuljahres angezeigt werden muss, das Homeschooling untersagen, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass geforderte Gleichwertigkeit des Unterrichts nicht gegeben . Das Letztentscheidungsrecht hat in diesen Fällen der Landesschulrat - 11 - reasons“. Die Begrifflichkeit “similar reasons” ist nicht näher bestimmt und wurde von den örtlich politisch Zuständigen ausgedehnt interpretiert: Neben Schülern mit Sozialphobien oder psychologischen Problemen, Schulschwänzern, Kindern von reisenden oder fahrenden Eltern wurde das Homeschooling auch für Schüler erlaubt, „[…] whose parents for varying reasons wishes to teach their children at home“. Laut Bildungsministerium ist es daher in einigen Kommunalverwaltungen Praxis, Homeschooling im Grundschulalter zu gestatten.28 Die derzeit 102 erteilten Genehmigungen für Eltern, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, sind regional stark unterschiedlich verteilt In den Niederlanden können die Eltern beispielsweise Einwände gegen die Orientierung („richting“) von Schulen in der näheren Umgebung vorbringen.29 Gerichtentscheidungen haben schließlich konkretisiert, dass es sich dabei um religiöse oder philosophische Einwände der Eltern handeln darf, damit Kinder zu Hause unterrichtet werden können30 In Lettland ist Homeschooling bis zur vierten Klasse in folgenden Ausnahmefällen (2008 waren es 16) gestattet31: Wenn der Schüler „[…] needs special conditions that cannot be provided at the educational institution“, „has frail health“ oder „[…] is not psychologically ready to study in a group“. – Oft sind entsprechend rechtliche Auseinandersetzungen in den genannten Ländern um eine Erlaubnis erforderlich (Spiegler 2008: 14).32 kann geschlossen werden, dass im Vergleich eher weniger Länder das Homeschooling gänzlich verbieten bzw. weitestgehend ausschließen. In der Slowakei ist „individual education“ nur für Kinder mit medizinischen Problemen, oder von diplomatischem Personal möglich. Dieser Unterricht zu Hause darf nur von qualifizierten Fachkräften durchgeführt werden und wird staatlich kontrolliert Auch in Griechenland ist Homeschooling nur für besonders erkrankte Kinder möglich; im noch laufenden Schuljahr wurden 220 Genehmigungen in diesen Fällen erteilt Gleiches gilt für Litauen. Dort können Kinder nur auf Grund von Krankheit oder besonderen medizi- 28 Allerdings ist geplant, dass die Möglichkeiten für das Homeschooling in den nächsten Monaten von der schwedischen Regierung deutlich ausgeweitet werden. Die Regierung möchte so Artikel 2 des Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention nach eigenen Angaben stärker gerecht werden 29 Nach Art. 5 Abs. b des niederländischen Compulsory Education Law. 30 Im Schuljahr 2005/06 gab es 170 niederländische Homeschooling-Kinder in 100 Familien. 31 Krankheitsbedingter Unterricht zu Hause wird separat erfasst. 32 Schirrmacher listet nur Deutschland als einziges europäisches Land auf, in dem Homeschooling verboten ist, erwähnt Spanien und Polen als Länder, die es nur in Ausnahmefällen gestatten und stellt ansonsten für alle EU-Länder fest, dass Heimunterricht gesetzlich erlaubt sei, ohne jedoch die gesetzlichen Grundlagen zu benennen (Schirrmacher 2006: 237f). - 12 - nisch indizierten Beschwerden zu Hause unterrichtet werden. Dazu muss ein Attest vorliegen und eine genaue Lehrvereinbarung mit der zuständigen Schule getroffen werden. Bei Kindern mit komplexen Behinderungen entscheidet eine medizinische Kommission über die Länge des (durch Lehrer durchgeführten) Homeschoolings Auch in Rumänien ist der Hausunterricht ausdrücklich nur für erkranke bzw. psychisch oder physisch beeinträchtigte Schüler berücksichtigt.33 In Spanien sind Ausnahmen zugunsten des Homeschoolings nur dann vorgesehen, wenn Kinder krank sind, viel reisen oder im Ausland leben. Der Oberste Gerichtshof entschied jedoch, dass Heimunterricht, wenn auch nicht legal, kein kriminelles Vergehen ist Darüber hinaus gelten in Europa neben Deutschland Bulgarien und Malta als Staaten, die so gut wie keine Ausnahmen von der Schulbesuchspflicht gewähren (Spiegler 2008: 14).34 2.3. Deutschland: Illegal, geringfügig praktiziert, gerichtlich untersagt Im Deutschland wie auch in Europa insgesamt ist das, was wir heute unter einer allgemeinen Schul- bzw. Unterrichtspflicht verstehen, ca. 250 Jahre alt. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich die Idee der allgemeinen Beschulung der Bevölkerung in den deutschen Kleinstaaten durch. Grundlegend dafür war insbesondere die „[…] Einsicht in die Notwendigkeit einer qualifizierten Bevölkerung um ihres eigenen Erhaltes willen. Nur gebildete Menschen können die Existenz eines Staates auf einem akzeptablen Niveau in Verwaltung, Versorgung und Kultur garantieren“ (Fischer 2006: 11). Die Bewertung , dass „[…] diese Schulpflicht einzig und allein in einer staatlich organisierten oder zumindest staatlich kontrollierten Institution abgeleistet werden kann“ (ebd.), wurde durch das reformierte Schulgesetz der Weimarer Republik gesetzlich gefasst. In der Verfassung von 1919 wurde erstmals die allgemeine Schulpflicht verankert (vgl. Art. 145 Satz 1 WRV). Von da an war in Deutschland die Möglichkeit der häuslichen Beschulung nicht mehr gegeben – denn auch die BRD sah und sieht die häusliche Beschulung nicht als Alternative zur institutionalisierten vor. Auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde diese Regelung nicht strittig diskutiert; die Eltern sollten über die Teilnahme am Religionsunterricht entscheiden können. Lediglich über die Wahlfreiheit zwischen den Schulformen und die Privatschulfreiheit wurde gestritten (Reimer; Thurn 2008: 719). Der Artikel 145 Satz 1 WRV wurde allerdings nicht über- 33 34 Bisher kommt es häufig zu sich zum Teil widersprechenden Angaben: So führt das Oberverwaltungsgericht Bremen neben Griechenland und Spanien auch Polen und Italien als Länder an, die eine Schulbesuchpflicht hätten, weil sie den Schulbesuch in ihren Verfassungen vorsehen (Oberverwaltungsgericht der freien Hansestadt Bremen, OVG 1A 21/07 vom 3.2.2009: 9). - 13 - nommen, hingegen Artikel 144 Satz 1 zur Staatsaufsicht über das Schulwesen (vgl. Beaucamp 2009: 222). Das Grundgesetz stellt mit Artikel 7 Abs. 1 GG das gesamte Schulwesen unter die Aufsicht des Staates. Abgeleitet wird daraus ein umfassender staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag . Er wird durch die Schulpflicht konkretisiert.35 Daraus folgend und nach föderaler Kompetenzzuordnung ist die allgemeine Schulpflicht in allen Bundesländern gesetzlich festgelegt, in den meisten sogar ausdrücklich in der Landesverfassung36. Ausnahmen sind allenfalls in seltensten (nachfolgend genannten) Einzelfällen möglich37. Neben diesen Einzelfällen sollen trotzdem in Deutschland nach Schätzungen der deutschen Homeschooling-Lobbyorganisationen derzeit ca. 300-500 Familien mit bis zu 1000 Kindern Rechtshilfeverein Schulunterricht zu Hause, als so genannte Schulboykotteure zu Hause unterrichten38. 35 Beaucamp kritisiert diese interpretative Herleitung. Er stellt fest, dass das gesamte Schulwesen auch unter der Aufsicht des Staates stehen kann, wenn nicht alle Kinder eines Jahrgangs die Schule besuchen. Allerdings räumt er ein, dass sich bedingt sowohl aus der Betrachtung des Art. 7 als umfassenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag als auch aus der Systematik der Norm (Eltern können über Teilnahme am Religionsunterricht entscheiden und haben die Möglichkeit der Wahl zwischen staatlicher und privater Schule) möglicher- aber nicht verpflichtender Weise eine Schulpflicht ableiten ließe. In der Gesamtbetrachtung kommt Beaucamp zu dem Schluss, dass die Bundesländer nicht durch das Grundgesetz daran gehindert seien, die Schulpflicht zu beseitigen. Lediglich der Art. 13 Abs. 2a des UN-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zwinge die Bundesländer zur Beibehaltung ausschließlich der Grundschulpflicht (Beaucamp 2009: 221-224). Auch Reimer leitet aus der Aufsicht des Staates über das Schulwesen keine allgemeine gesetzliche Schulpflicht ab. Er begründet dies damit, weil der Parlamentarische Rat eben die Aufsicht des Staates über das Schulwesen aus Art. 144 Satz 1 der WRV in das GG übernahm, die Schulpflicht aus Art. 145 Satz 1 aber eben nicht. Zu Unrecht sei „[…] die Schulpflicht in der bundesrepublikanischen Praxis von einer durch Art. 6 Abs. 2 GG begrenzten Option der Länder zu einer abwägungsfesten bundesverfassungsrechtlichen Grundpflicht mutiert“ (Reimer; Thurn 2008: 721). Tangermann hingegen verweist mit vielen anderen darauf, dass das GG explizit eine Wahlfreiheit unter bestimmten Schulformen zur Auswahl stellt und so und nicht anders die Verwirklichung des Elternwillens im Bildungsbereich nach der verfassungsgeberischen Vorstellung gewährleistet sein soll. Elterlicher Heimunterricht sei daher keineswegs im Bereich des Möglichen oder zumindest nicht explizit Ausgeschlossenen zu verorten, er sei deutlich „nicht gewollt“ (Tangermann 2006: 412). 36 In der Verfassung des Landes Baden-Württemberg heißt es in Art. 14 Abs. 1 beispielsweise: „Es besteht allgemeine Schulpflicht.“ Im Schulgesetz wird unter § 72 aufgeführt: Abs. 1 „Schulpflicht besteht für alle Kinder und Jugendlichen, die im Land Baden-Württemberg ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt […] haben.“ Abs. 4 „Die Schulpflicht ist durch den Besuch einer deutschen Schule zu erfüllen . Über Ausnahmen entscheidet die Schulaufsichtsbehörde.“ Nach § 76 Abs. 1 heißt es: „Zum Besuch der in § 72 Abs. 2 Nr. 1 bezeichneten Schulen sind alle Kinder und Jugendlichen verpflichtet, soweit nicht für ihre Erziehung und Unterrichtung in anderer Weise ausreichend gesorgt ist. An Stelle des Besuchs der Grundschule darf anderweitiger Unterricht nur ausnahmsweise in besonderen Fällen von der Schulaufsichtsbehörde gestattet werden.“ 37 Vgl. zu den Ausnahmetatbeständen der Länder und den jeweiligen Paragraphen ihrer Schulgesetze das Rechtsgutachten von Goldbecher (Goldbecher 2007: 2). 38 Die Schätzungen reichen in den Publikationen von 100-1000 Familien, von 500-3000 Kinder. Die Angabe 300-500 Familien ist eine vielfach übereinstimmende Schätzung. Wobei jedoch zu bedenken ist, - 14 - Entsprechend identifiziert der Kommunikationswissenschaftler Fischer vier Gruppen von Homeschoolern in Deutschland: „1. Deutsche Kinder und Jugendliche, die im Ausland aufwachsen und keine deutschsprachige Schule in erreichbarer Nähe vorfinden und deshalb von der Schulpflicht befreit werden. In dieser Gruppe finden sich vorwiegend Diplomaten - und Missionarskinder. Ursächlich für Homeschooling sind in dieser Gruppe keine schulkritische Haltung der Eltern, sondern äußere Umstände. 2. Kinder und Jugendliche, die aus unterschiedlichsten Gründen, zumeist einer psychischen oder physischen Erkrankung, der Beschulung in Institutionen nicht gewachsen sind und deshalb ebenfalls von der Schulpflicht, wenn auch oft erst nach harten Kämpfen der Eltern, befreit sind. Auch in dieser Gruppe liegt nicht unbedingt eine schulkritische Einstellung der Eltern vor. Vielmehr handeln die Eltern auf Grund der spezifischen Notlage eines speziellen Kindes, während dessen Geschwister oft eine Regelschule besuchen. 3. Jugendliche, die auf Grund hoher medialer Popularität nicht (mehr) beschulbar sind, weil ihre Anwesenheit die Aufrechterhaltung eines normalen Schulbetriebes gefährden würde. Diese erst in jüngster Zeit entstandene Gruppe ist zahlenmäßig natürlich äußerst gering, ihre Fälle werden aber dafür umso lauter medial begleitet . Zu nennen wären z. B. die noch schulpflichtigen Mitglieder der Gruppe Tokio Hotel oder die als LaFee bekannte Sängerin Christina Klein. Über eine schulkritische Haltung der Eltern ist in beiden Fällen nichts bekannt. [Zu dieser Gruppe werden faktisch wohl auch die Kinder von Schaustellern und Binnenschiffern gezählt (vgl. dazu auch Goldbecher 2007: 11).] 4. Kinder und Jugendliche, die auf Grund schulkritischer und anderer weltanschaulicher Erwägungen ihrer Eltern zu Hause unterrichtet werden, in einigen Fällen mit stillschweigender Duldung der Behörden, in anderen unter großen persönlichen Opfern der Eltern im Kampf mit den Behörden.“ (Fischer 2007: 5f). Diejenigen Eltern der vierten Gruppe, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, begehen – geahndet oder geduldet – eine Ordnungswidrigkeit. In einigen Bundesländern können sie sich unter bestimmten Bedingungen auch strafbar machen: In Hamburg, Bremen, Hessen , Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland drohen ihnen (auf Antrag der Schulaufsichtbehörde ) bei dauerndem oder wiederkehrendem Schulentzug ihrer Kinder bis zu sechs Monate Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen (vgl. z.B. § 114 HmbSG; § 140 SchulG M-V). dass die Anzahl der deutschen Homeschooling-Familien in den letzten zwei Jahren eher rückläufig sein dürfte, da viele Familien ins Ausland abwandern. - 15 - Um die Schulpflicht durchzusetzen, werden in den letzten Jahren durch die ansteigende Zahl der Homeschooler zunehmend die Gerichte angerufen. Immer wieder geht es in den Verfahren um die Kollision der allgemeinen gesetzlichen Schulpflicht aus Artikel 7 Abs. 1 mit dem von den Beschwerdeführern vorgebrachten elterlichen Erziehungsrecht aus Artikel 6 Abs. 2 (1)39 GG und/oder mit ihrer Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 240. Der gesetzlichen Schulbesuchspflicht liegen die Überlegungen zu Grunde, dass das gemeinsame Lernen in der Schule der Vermittlung sozialer Kompetenzen dient und dass der Umgang mit Andersdenkenden als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft dort besonders gut eingeübt werden kann. Die Gerichte, auf nationaler wie auf europäischer Ebene, haben dies in ihren Ausführungen bisher immer wieder gestützt. So führte das Bundesverfassungsgericht im Mai 2006 aus, dass Eltern nicht berechtigt sind, ihre Kinder aus religiöser Überzeugung vom Schulbesuch abzuhalten.41 Das elterliche Erziehungsrecht wird danach grundsätzlich zulässig durch die „zur Konkretisierung des staatlichen Erziehungsauftrages erlassene[n] allgemeine[n] Schulpflicht“ beschränkt . Der 2. Senat stellte fest, dass der staatliche Erziehungsauftrag nicht nur dazu dient, Wissen zu vermitteln. Kinder sollen sich auch frei zu eigenständigen Persönlichkeiten 42 entwickeln können. Sie sollen zu verantwortlichen Staatsbürgern werden, die an den demokratischen Prozessen in einer pluralistischen Gesellschaft teilhaben können. Durch den gemeinsamen Schulbesuch sollen Kinder in das Gemeinschaftsleben hineinwachsen . Dabei können soziale Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung eingeübt werden. Dies gelingt nach Auffassung der ersten Kammer noch besser, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und mit Menschen mit unterschiedlichen Meinungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern eine (schulische) Alltagserfahrung sind. Das BVerfG betonte, dass die Gemeinschaft darüber hinaus berechtigterweise daran interessiert ist, dass möglichst keine religiös oder weltanschaulich geprägten `Parallelgesellschaften` entstehen. Minderheiten sollen integriert werden. Der 39 Art. 6 Abs. 2 (1) GG: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ 40 Art. 4 Abs. 1 GG: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Abs. 2: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet .“ 41 Schon 2003 hatte das BVerfG in einem Nichtannahmenbeschluss beschieden, dass grundgesetzliche Gewährleistungen nicht verletzt werden, wenn die Genehmigung für elterlichen Heimunterricht bei grundschulpflichtigen Kindern abgelehnt wird (vgl. BVerfG, 1 BvR 436/03 vom 29.4.2003). Vgl. in ähnlicher Weise dazu BVerfG, 1 BvR 235/89 vom 21.2.1989 und BVerfG, 1 BvR 794/86 vom 5.9. 1986. 42 Entgegen dem Los eine eventuell in der „Erziehung begründete Unmündigkeit erleiden zu müssen“ (Reimer; Thurn 2008: 719). - 16 - 2. Senat machte deutlich, dass Integration dabei voraussetzt, dass religiöse oder weltanschauliche Minderheiten sich nicht selbst abgrenzen und sich mit Andersdenkenden und -gläubigen regelmäßig auseinandersetzen. Dies einzuüben und zu praktizieren ist eine wichtige Aufgabe der Grundschule. Das BVerfG entschied ferner, dass Eltern durch ihr Recht auf Glaubensfreiheit nicht beanspruchen können, dass ihre Kinder vollständig von fremden Glaubensbekundungen oder Absichten verschont bleiben43. Außerdem wurde klar gestellt, dass weder der Sexualkunde- noch der Biologieunterricht das staatliche Neutralitätsgebot verletzt (BVerfG, 2 BvR 16937/04 vom 31.5.2006: vor allem 16-2144). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte im September 2006 fest, dass die deutsche Schulbesuchspflicht mit europäischem Recht ebenso vereinbar ist wie mit der Menschenrechtskonvention. Die (stark religiösen) Beschwerdeführer gegen die BRD sahen durch Artikel 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention 45, dem Recht auf Bildung, ein Recht auf Hausunterricht gegeben. In dem Artikel heißt es: „Niemandem darf das Recht auf Bildung verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen “ (Art. 2 EMRKZusProt). Die Kammer bescheinigte den deutschen Gerichten sorgfältig begründete Entscheidungen. Dass das Integrationsziel durch den Schulbesuch besser als durch Heimunterricht erreicht werden kann, ist danach „[…] keine Fehleinschätzung und fällt in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten, den sie bei der Festlegung und Auslegung von Regelungen für ihre Bildungssysteme haben“.46 Der EGRM entschied, „dass Eltern einem Kind das Recht auf Bildung nicht auf Grund von Überzeugungen verwehren dürfen“. Er unterstrich die „Bedeutung des Pluralismus für die Demokratie“ und stellte in den Mittelpunkt, dass das Recht des Kindes auf eigene Entwicklung gegebenenfalls auch vor den Eltern geschützt werden muss (EGMR, Nr. 35 504/03 vom 11.9.2006). 43 In extremen Einzelfällen, so das Bundesverfassungsgericht, kann allerdings das gezielte Fernbleiben von bestimmten Unterrichtseinheiten ermöglicht werden. Der Staat muss einen „bewussten Verstoß“ gegen die Schulpflicht eventuell hinnehmen, wenn dies der letzte Ausweg aus „einem ansonsten unauflöslichen Konflikt zwischen staatlichen und religiösen Verhaltensanforderungen“ ist. In solchen Fällen kann die „seelische Bedrängnis“ des Gläubigen überwiegen und eine Strafe daher seine Menschenwürde verletzen. Dies ist aber bei den klagenden hessischen Eltern nicht der Fall gewesen (BVerfG, 2 BvR 1693/04 vom 31.5.2006). 44 Vgl. ebenso BGH, XII ZB 41/07 vom 11.9.2007: 5-7. 45 Die EMRK gilt in Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 GG wie einfaches Bundesrecht. 46 Reimer stellt in diesem Zusammenhang fest, dass aber die „entscheidende Frage, inwiefern auch die EMRK gerade vor der Integration des Einzelnen in die Gesellschaft schützen soll“ unerörtert bleibt (Reimer; Thurn 2008: 722). - 17 - Und auch der Bundesgerichtshof urteilte im Oktober 2007, dass Eltern, die jeglichen Schulbesuch ihrer Kinder (aus Glaubensgründen) beharrlich verweigern, rechtmäßig das Aufenthaltsbestimmungsrecht und ein Teil-Sorgerecht entzogen werden kann47. Das Gericht stellte fest, dass Eltern ihr Sorgerecht missbrauchen, wenn sie sich weigern, ihrem Kind einen Schulbesuch zu ermöglichen. Der BGH beschied, dass sie auch dann nicht dazu berechtigt sind, wenn einzelne Lehrinhalte oder -methoden der Schule ihren Glaubenüberzeugungen entgegenstehen. Dies gilt so lange, wie der Staat seinem Erziehungsauftrag im Sinne des Grundgesetzes verantwortungsvoll nachkommt. Und Gegenteiliges ist nicht der Fall (BGH, XII ZB 42/07 vom 17.10.2007). Schon im September 2007 hatte der Bundesgerichtshof in derselben Angelegenheit bestätigt, was sowohl die Vorinstanzen als auch das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hatten (BGH, XII ZB 41/07 vom 11.9.2007). Derzeit sind nach Angaben der Pressestelle fünf Verfahren beim Bundesverfassungsgericht zum Themenkomplex Schulpflicht/Heimunterricht offen. Die Fallgestaltungen sind vielfältig – auch nicht religiös motivierte Fälle sollen darunter sein. Mit Nicht- /Annahmeentscheidungen zu auch nur einer der Beschwerden ist in diesem Jahr nicht mehr zu rechnen 3. Leistungsfähigkeit des Heimunterrichts 3.1. Outcome-Variable Lernerfolg Häufig wird von den Kritikern angenommen, dass das Homeschooling zwangsläufig zu einem Bildungsmangel bei den Kindern führe. Eltern seien als Lehrkräfte inkompetent und Homeschooling-Kinder könnten fachlich nicht an höhere Schulklassen anschließen. Die Homeschooling-Befürworter hingegen sind mittels nicht weniger Untersuchungen stetig bemüht, den Bildungserfolg der Homeschooling-Schüler zu belegen. Allerdings sind die vorhandenen Studien bei weitem nicht so repräsentativ wie die Homeschooling- Verfechter es gern sehen und wie wissenschaftliche Maßstäbe es voraussetzen würden. 47 Zuvor hatte das zuständige Amtsgericht das Sorgerecht in Bezug auf Schulangelegenheiten auf einen Pfleger übertragen. Entschieden wurde auch, dass im Falle einer notwendig werdenden Fremdunterbringung der Kinder keine Heimunterbringung, sondern eine Unterbringung in einer ebenfalls baptistischen Pflegefamilie erfolgen solle, welche aber die allgemeine Schulpflicht anerkenne. Eine eingelegte Beschwerde wurde vom Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Alle vorangehenden Bemühungen seitens der Stadt innerhalb von Gesprächen, durch einen Bußgeldbeschluss und ein schließlich eingeleitetes Zwangsgeldverfahren die Eltern dazu zu bewegen, ihre Kinder in die Schule zu geben, waren gescheitert . Zur Zeit des Beschlusses des Bundesgerichtshofes befand sich die Mutter mit den beiden schulpflichteigen Kindern in Österreich, um sie dort selbst unterrichten zu können. Ihren Wohnsitz hat die Familie aber nach wie vor in Deutschland (BGH, XII ZB 42/07 vom 17.10.2007). - 18 - Eine besonders oft zitierte Studie ist „Homeschooling grows up“ im Auftrag der US- Homeschooling-Lobbyorganisation HSLDA. Ray kommt dabei in der letzten Befragung von 2003 bei über 7300 homeschooled Erwachsensen zu dem Ergebnis, dass sie bessere Bildungsabschlüsse schafften als Abgänger staatlicher Schulen – allerdings stimmte die Vergleichgruppe der Alterskohorte der 18-24-Jährigen der durchschnittlichen US- Bevölkerung nur zu dreivierteln mit der in der Studie Befragten überein! Danach besuchte die Hälfte der Home-Educated ein College, während dies nur 34% ihrer Fast- Altersgenossen aus öffentlichen Schulen taten. Nicht nur, dass jedoch unklar ist, wie Ray zu den anderen Kategorien für die von ihm unterschiedenen Bildungsgraden kommt, auch wurden die zu Grunde gelegten Daten nur durch die freiwillige Teilnahme an der Befragung ermittelt (Ray 2003: 2f)48. Dass US-Homeschooling-Schüler allerdings vielfach auch einen akademischen Abschluss anstreben und dies unterstützt wird, zeigt sicher der Verweis, dass fast 75% der US-Hochschulen Regeln für den Zugang der homeschoolers haben (Cooper; Sureau 2007: 127). Die britische Wissenschaftlerin Rothermel stellt in ihrer Leistungsstudie für Großbritannien fest: “The results show that 64% of the home-educated Reception aged children scored over 75% on their PIPS Baseline Assessments [Performance Indicators in Primary Schools] as opposed to 5.1% of children nationally” (Rothermel 2002: 3).49 Mehrfach werden in weiteren Untersuchungen die methodischen Grenzen der Aussagekraft der eigenen bzw. aller bisherigen diesbezüglichen Ergebnisse herausgestellt: Kein noch so hervorragendes Bildungsergebnis der Homeschooling-Schüler lässt die Behauptung zu, dass das Homeschooling zu besseren Lernresultaten führt. Denn Informationen darüber, welche Leistungen die jeweiligen Schüler auf öffentlichen oder privaten Schulen erbringen würden, liegen nicht vor (vgl. dazu Lubienski 2003; Spiegler 2008: 130f). Inwiefern jeweils soziodemografischen Faktoren (also z.B. der familiäre Hintergrund) nicht vielmehr mit entsprechenden Bildungserfolgen korrelieren als es das Homeschooling tut, bleibt weitgehend unbeantwortet. Insgesamt kann damit zwar (in allen einschlägigen Publikationen und Zeitungsartikeln) auf eine Vielzahl von besonders erfolgreichen Einzelbiografien verwiesen werden. Eine 48 Die Kanadier Basham u.a. kommen gestützt auf die Daten der vorangehenden Befragungen von Ray sogar zu der (nicht nachvollziehbar hergeleiteten) Aussage, dass empirisch belegt werden könne, dass Homeschooling direkt potenziell negative Effekte bestimmter Hintergrund-Faktoren (wie niedriges Familieneinkommen , geringe Bildung der Eltern, ethnische Zugehörigkeit u.a.) auf den Bildungserfolg ausschalten könne (Basham; Merrifield; Hepburn 2007: 14). Damit soll nachgewiesen sein, dass gerade Kinder aus sozial schwachen Familien durch das Homeschooling einen größeren Lernerfolg erzielen. 49 Rothermel hat Fragebögen von 419 home-educating families erhoben und knapp 200 komplexe Prüfverfahren an den homeschooled students durchgeführt. Damit hat sie (nach eigenen Angaben und vielfach auch so rezipiert) die erste englische Studie zum Homeschooling vorgelegt, die unterschiedliche Methoden mit einer großen Untersuchungsgruppe und weit gefassten Fragestellung verbindet. - 19 - wissenschaftlich repräsentative Studie, die über Erfolg des Hausunterrichts hinreichend Aufschluss geben könnte, liegt aber nicht vor; allerdings auch keine, die schlechte Leistungen belegen würde. 3.2. Outcome-Variable soziale und staatbürgerliche Kompetenz Neben Bedenken gegenüber den Lernerfolgen durch das Homeschooling wird als zweiter und weit bedeutenderer Einwand gegen den Heimunterricht ein so genanntes `lack of socialization` vorgebracht. Insbesondere in den Gerichtsurteilen wird immer wieder darauf Bezug genommen, dass der staatliche Erziehungsauftrag nicht nur auf Wissensvermittlung , sondern vor allem auf sozialen und staatsbürgerlichen Kompetenzerwerb abzielt . In den Erziehungswissenschaften wird die Frage danach, wie die Schule die soziale Kompetenz von Kindern beeinflusst, differenziert diskutiert. Sicherlich ist zu bedenken, dass Sozialkompetenz nicht einheitlich definiert, gemessen und auch angeeignet werden kann. Gezweifelt wird nicht daran, dass der Schulbesuch den Interaktionskreis und auch den kulturellen Horizont der Kinder zu erweitern vermag. Durch den Schulbesuch eröffnet sich automatisch eine weitere soziale Umwelt. Dass jedoch per se das Vermögen zum gesellschaftlichen Engagement oder die Urteils- und Kritikfähigkeit durch den Schulbesuch erworben werden, wird vielfach bezweifelt. Teilweise wird diesbezüglich der stärkere Einfluss weiterer Faktoren (z.B. des familiären Hintergrundes) hervorgehoben . Auch innerhalb der Homechooling-Forschung wird der automatisch positive Einfluss eines Schulbesuches in Frage gestellt; teilweise wird der Schulbesuch sogar als ausgesprochen problematisch dargestellt. Sehr kritisch äußert sich der australische Entwicklungspsychologe Thomas, indem er die Gleichaltrigen-Kultur in den Blick nimmt. Thomas interviewte ca. 100 australische und englische Familien und fertigte teilnehmende Beobachtungen an. Für ihn steht fest, dass Homeschooling-Kinder zwar offenkundig weniger Gelegenheit haben, Gleichaltrige zu treffen, dies aber weder ihre persönliche oder soziale Entwicklung noch den Erwerb sozialer Kompetenzen zu beeinträchtigen scheint. Gerade die Eltern würden darauf hinweisen, dass ihre Kinder in der Schule ja nur sehr wenig soziale Kontakte zu Erwachsenen hätten, was beim Homeschooling anders sei, aber eine wesentliche soziale Kompetenz für das spätere Leben darstelle. Thomas hält die Frage für vernünftig, ob gerade die Schule der geeignetste Ort ist, um soziale Kompetenzen zu erwerben - abgesehen von denjenigen, die offenkundig für das Überleben in der Schule notwendig seien. Denn insbesondere die Schule führe dazu, dass Kinder sich wegen der „[…] existierenden Subkultur der Gleichaltrigengruppen mit - 20 - ihrer begrenzten Weltanschauung und dem teilweise sogar körperlichen Zwang, sich ihren Gedanken anzupassen“, eingeengt fühlten (Thomas 2007: 253).50 Seit Beginn der neunziger Jahre wurden vornehmlich in den USA (Vergleichs-)Studien durchgeführt, um zu klären, ob und inwieweit Homeschooling-Kinder soziale Defizite haben. Diese Studien weisen jedoch fast durchgehend methodische Schwächen auf.51 Sie kommen fast immer zu dem Ergebnis, dass es keine signifikanten Unterschiede in der sozialen Kompetenz zwischen Homeschooling-Schülern und der jeweiligen Vergleichsgruppe gibt. Die Forscherin Rothermel resümiert: „Results from the psychosocial instruments confirm the home-educated children were socially adept and without behavioural problems. Overall, the home-educated children demonstrated […] good social skills” (Rothermel 2002: 152). In einigen Untersuchungen wird sogar ein besseres Sozialverhalten (reifer, führungsfähiger , sozial engagierter) zugunsten der Homeschooling-Kinder ermittelt. Ray beispielsweise kommt in seiner sehr groß angelegten Befragung von insgesamt 7300 zu Hause unterrichteten US-amerikanischen Erwachsenen zu dem Ergebnis, dass bei über 5000 Antwortenden diese überdurchschnittlich stark als Staatsbürger engagiert sind. Als Belege führt er die eigenen und folgenden Aussagen der Befragten von 2003 an und stellt sie (methodisch fragwürdig) den Aussagen der 18-39-Jährigen bei der National Household Education Survey von 1997 gegenüber: 98% von ihnen haben im letzten halben Jahr ein Buch gelesen (69% der ähnlich alten US-Erwachsenen), 88% sind Mitglied einer – z.B. kirchlichen – Organisation (50% der US-Erwachsenen), 71% nehmen an einem dauerhaften – z.B. sportlichen, kirchlichen – Dienst in der Gemeinde teil (37% der US-Erwachsenen), 16% haben schon einmal Geld für eine Partei oder eine politische Sache gespendet (7% der US-Erwachsenen), 41% haben schon einmal einen Leser- oder Bürgerbrief verfasst (32% der US-Erwachsenen) und mehr als doppelt so viele von ihnen sind innerhalb der letzten fünf Jahre wählen gegangen (Ray 2003: 3ff). Die National Educational Association, der größte US-Lehrendenverband, weist im Gegensatz dazu in den letzten Jahren in seinen Resolutionen immer wieder darauf hin, dass sie die Kritik der sozialen Isolation von Homeschooling-Kindern stützen. Die Mehrzahl 50 Auch der Sozialwissenschaftler Rest verweist darauf, dass die Entwicklung des Individuellen, Persönlichen , Einzigartigen, was als `Personalisation` den einen Teil des Sozialisationsprozesses darstelle, nachweislich durch die Zwangserziehung in altershomogenen Gruppen eher unterdrückt und behindert werde. Der andere Teil der Sozialisation, die `Enkulturation` im Sinne des Erwerbs der Kulturtechniken und eigener und fremder Kulturgüter, würde in der Schule gut möglich sein. Während Schulkinder daher unbedingt einen Ausgleich durch angemessene Personalisations-Angebote bräuchten, würden Homeschooling-Kinder in familiennaher, altersheterogener Erziehung nahezu umfassend sozialisiert (Rest 2009: 2f). 51 Problematisch sind z.B. zu kleine Samples, nicht repräsentative Vergleichgruppen, neuartige Datenverarbeitung . 52 Ihre Studie gehört mit zu den methodisch am wenigsten angreifbaren. - 21 - von ihnen würde der Möglichkeit divergierender Einflüsse beraubt. Homeschooling wäre ein Beispiel für wachsendes `cocooning` (vgl. u.a. National Education Association 2008/2009: 36). Kritisch bewertet ebenso Ladenthin eine Tendenz bei Heimschuleltern, ihre Kinder sehr eng an sich zu binden und ihnen wenig Gelegenheit zu geben, das in der Familie Gelernte draußen zu überprüfen. Dadurch würden der Erfahrungshorizont der Kinder deutlich eingeschränkt und ihre Sozialisationseinflüsse generell zu gering gestreut (Ladenthin im Kölner Stadtanzeiger vom 14.09.07). Auch der Hinweis, dass Homeschooling-Kinder nicht ausreichend sozial beobachtet werden könnten, ist im Zusammenhang mit dem Isolationsargument nicht unwichtig. Die soziale Kontrolle durch den Schulbesuch kann außerordentlich bedeutend sein, wenn es darum geht, möglichst viele Möglichkeiten zu haben, um Kindesmisshandlung oder -missbrauch erkennen zu können. Homeschooling findet hingegen häufig (vor allem in den USA) „unsichtbar“ statt. In North Carolina sind beispielsweise Kindesmisshandlungen bei einigen zu Hause unterrichteten Kindern entdeckt worden. Trotz der Annahme, dass es sich dabei wahrscheinlich um sehr seltene Fälle handelt, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Homeschooling dann, wenn keine behördliche oder sonstige regelmäßige Aufsicht vorgesehen ist, auch soziale Isolation für diejenigen Kinder bedeuten würde, die von Misshandlungen tatsächlich betroffen wären (vgl. dazu Cooper; Sureau 2007: 126). Empirisch ist derzeit jedoch weder der Sozialkompetenzvorsprung der Homeschooling- Kinder methodisch unangreifbar noch der generelle Isolationsvorwurf nachweisbar. Ob nun Homeschooling-Kinder andere Kinder hinsichtlich ihrer sozialen Kompetenz übertreffen , muss also dahin gestellt bleiben53. Unumstritten ist unter Wissenschaftlern aber die Aussage, dass sie ihnen in ihrem Sozialverhalten zumindest keineswegs nachstehen. 4. Elternmotive 4.1. Quantitativ: Religiosität als Hauptmotiv in den USA Die Motive für Homeschooling zu ergründen ist schwieriger, als die zunächst einfache Frage nach ihnen vermuten lässt. Zahlreiche Einflüsse sind über den kulturellen oder weltanschaulichen Hintergrund der Eltern hinaus nicht unerheblich. Spiegler führt beispielsweise die regionale Schulsituation, die rechtlichen Rahmenbedingungen oder die 53 „Die Tatsache, dass viele Studien Homeschooler im Vorteil sehen, hängt mit Einschränkungen auch damit zusammen, dass in dieser Bewegung Familien mit bildungs- und kompetenzfördernden Merkmalen überrepräsentiert sind“ (Spiegler 2008: 141). - 22 - eigene Biografie an (2008: 4654), die die Entscheidung von Eltern für das Homeschooling beeinflussen können. Außerdem besteht für jede Erhebung die methodische Schwierigkeit , dass Motive keine stabile Größe darstellen. So können etwa beim praktischen Homeschooling neue Motive hinzukommen, die nachträglich von Eltern in ihre Motivbeschreibung aufgenommen, aber als solche nicht kenntlich gemacht werden. Ebenso wie es ungenau sein kann, nicht zwischen Motiven zu unterscheiden, die einmal dazu führten, sich für einen Unterricht zu Hause zu entscheiden und denen, die dazu führen, dass man ihn beibehält. International gibt es inzwischen eine Vielzahl von Studien, die die Gründe für Homeschooling in den Blick nehmen. Quantitative Erhebungen, bei denen Eltern mehrere Motive für ihre Wahl angeben können , kommen automatisch immer zu sehr allgemeinen Aussagen. Dadurch wird eher der Eindruck erweckt, es handele sich um eine relativ homogene Elternschaft. Die entsprechend aktuellste vorliegende Befragung stammt vom National Center for Education Statistics im Auftrag des US-Bildungsministeriums aus dem Frühjahr 2007 (veröffentlicht im Dezember 2008). Seit 1999 erhebt das National Center regelmäßig im Rahmen des National Household Education Surveys Programm (NHES) auch repräsentative Daten zum US-amerikanischen Homeschooling in den landesweit durchgeführten Telefoninterviews. Im Jahr 2007 wurden Eltern von knapp 11.000 Schülern und davon rund 290 homeschooled students, von denen 84% ausschließlich zu Hause unterrichtet werden, befragt. Die Homeschooling-Eltern mussten mittels mehrerer Fragen ihre Zustimmung oder Ablehnung gegenüber bestimmten Gründen angeben. Dabei haben die Eltern vor allem vier Motive genannt: 1. Achtundachtzig Prozent wollen ihre Kinder nicht dem schlechten Schulklima aussetzen. Dazu gehören geäußerte Bedenken zur Sicherheit ihrer Kinder im schulischen Umfeld, bezüglich des Inkontaktkommens mit Drogen oder auf Grund negativer Einflüsse durch Gruppendruck. 2. Dreiundachtzig Prozent wollen ihren Kindern ihre eigenen religiösen und moralischen Werte weitergeben. 54 Spiegler weist u.a. darauf hin, dass die Angabe, dass 82% der ehemaligen US-amerikanischen Homeschoolschüler selbst Homeschooling praktizieren wollen, sowohl mit den eigenen positiven Erfahrungen begründet werden kann, aber auch damit „dass es offensichtlich kulturelle Kontexte mit einer gewissen Disposition für diesen Weg gibt, die eine große Sensibilität im Mehrgenerationenverlauf aufweisen. Dies kann dazu führen, dass sich Milieus bilden, in denen eher der Besuch einer öffentlichen Schule als die Entscheidung für Homescholling erklärungsbedürftig erscheinen“ (Spiegler 2008: 49). - 23 - 3. Dreiundsiebzig Prozent sind mit der Bildungs- und Leistungsvermittlung an Schulen unzufrieden. Und 4. Fünfundsechzig Prozent präferieren eine eigene, nicht traditionelle Herangehensweise in der Kindererziehung (U.S. Departement of Education 2008: 2). Während der letzt genannte Grund zum ersten Mal im Jahr 2007 erhoben wurde, erhöhte sich der Anteil der drei ersten Gründe jeweils um einige Prozent gegenüber der Befragung 2003. Der Anteil derjenigen, die den Wunsch hatten, ihren Kindern durch das Homeschooling ihre eigenen religiösen und moralischen Werte zu vermitteln nahm, stieg sogar um 11% (U.S. Departement of Education 2005). Um zu spezifischeren Aussagen zu kommen, wurden die Eltern darüber hinaus gebeten, ihren jeweiligen Hauptgrund für das Homeschooling anzugeben. Mit großem Abstand nennen 36% der Eltern (gegenüber 30% 2003) die Vermittlung ihrer Religiosität als Hauptmotiv. Mit 21% (gegenüber 31% 2003) folgt das schlechte Schulklima als ursächliches Motiv und mit 17% (wie 2003) die Unzufriedenheit mit den Bildungsstandards. Für 14% der Eltern (gegenüber 9% 2003) sind andere Gründe wie Familienzeit, Finanzen , Reisen oder die Entfernung ausschlaggebender Grund für das Homeschooling. Und für jeweils weit dahinter liegende prozentuale Anteile von Homeschooling-Eltern liegt der Hauptgrund darin, dass ihr Kind einen besonderen Förderbedarf, spezielle physische oder psychische Probleme hat oder aber sie einen besonderen pädagogischen Ansatz verfolgen (U.S. Departement of Education 2008: 3). In der Untersuchung von Brabant u.a. zu den Motiven von gut 200 kanadischer Quebecer Homeschooling-Elternpaaren werden insgesamt sieben Motivationen ausgemacht. Die vier Hauptmotive sind nach Rangfolge: 1. der Wunsch nach Homeschooling als Familienprojekt, wobei gemeinsam gelernt und gelebt werden soll, 2. eine Abneigung gegenüber der sozialen und pädagogischen Bedingungen in der Schule, 3. die Annahme zu Hause eine bereicherndere und individuellere Bildung anbieten zu können und 4. die Sorge um eine gute psychische und soziale Entwicklung der Kinder in der Schule. Erst an 5. Stelle folgt der Wunsch der Erziehung gemäß einer bestimmten religiösen oder spirituellen Orientierung. Als Besonderheit ihrer Ergebnisse stellen Brabant u.a. - 24 - fest, dass weder religiöse noch philosophische oder staatskritische Gesichtpunkte in irgendeiner Weise dominieren, eher gegenteilig (Brabant; Bourdon; Jutras 2003). Allein durch die angeführten quantitativen Erhebungen in den beiden nordamerikanischen Ländern wird deutlich, dass die Elternmotive beim Homeschooling von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt sind und mehr oder weniger stark variieren (können). 4.2. Qualitativ: Zwischen ideologischem und pädagogischem Anspruch In den qualitativen Studien wird zumeist darauf gezielt, ein Muster der Motive erarbeiten zu können. Dass das gelingt, hängt damit zusammen, dass die Studien kontextbezogener angelegt werden. Trotz der vielfältigen Aspekte in den Motivlagen tritt dabei häufig ein wiederkehrendes dichotomes Muster auf. So werden Homeschooling-Eltern vereinfacht und hauptsächlich, wenn auch jeweils begrifflich abweichend, in Ideologen und Pädagogen unterschieden. Sicher wird man mit dieser Vereinfachung der Differenz und der Gleichzeitigkeit mehrerer Motive nicht gerecht. Aber die entsprechenden Typisierungen sind auf einer gemeinsamen logischen Ebene: Sie erfassen tiefgreifende Überzeugungen der Eltern in Bezug auf den Lebensstil und/oder den Lernstil, unterscheiden sie in einem Hauptmerkmal voneinander und ordnen ihnen griffige Bezeichnungen zu. Van Galen veröffentlichte 1988 eine der ersten wissenschaftlichen und bis heute noch einflussreichen US-Studien, die die genannte Typisierung vornimmt. In breit angelegten Kategorien fasst sie die Homeschooling-Eltern in Ideologues und Pedagogues. Sie beschreibt die Ideologen als größtenteils konservative Christen, die der Meinung sind, dass das, was sie glauben, nicht in öffentlichen und privaten Schulen gelehrt werde55 und die ihre Beziehung zu ihren Kindern verfestigen wollen. Im Gegensatz üben Pädagogen vor allem an der Art und Weise des Unterrichts Kritik, der dem natürlichen Wunsch der Kinder nach Lernen und Kreativität nicht entsprechen würde. Sie entscheiden sich für das Homeschooling “[…] because they [believe] that their children would be harmed academically and emotionally by the organization and pedagogy of formal schools" (Van Galen 1988: 55). Auch Mayberry kommt Ende der achtziger Jahre auf Grund von geführten Interviews zu einer ähnlichen, aber zunächst differenzierteren Typisierung: 1. Religiöse Eltern, die es als ihre wichtigste Aufgabe verstehen, ihren Glauben und religiöse Werte an ihre Kinder weiterzugeben. 2. Akademische Eltern, die der Meinung sind, dass ihre Kinder zu Hause mehr lernen können. 3. Beziehungsorientierte Eltern, die besonderen Wert auf die Familieneinheit und ein förderliches soziales Umfeld legen. Und 4. „New-Age“-Eltern, die ihre Kinder esoterisch/spirituell erziehen möchten. Später greift sie Van Galens Modell 55 Übereinstimmend werden immer die Evolutionslehre und der Sexualkundeunterricht abgelehnt. - 25 - auf und ordnet die religiösen und New-Age-Eltern der ideologischen sowie die beziehungsorientierten und die akademischen Eltern der pädagogischen Orientierung zu (Mayberry 1989). Nemer erweitert das dichotome Muster gut 10 Jahre später mit dem Hinweis darauf, dass sich inzwischen die Homeschooling-Szene stark vergrößert und diversifiziert habe. Zum einen spricht sie begrifflich von übersetzt „pädagogischen und ideologischen Beweggründen “. Zum anderen kritisiert sie die isolierte Betrachtung und Zuschreibung der binären Motive und schlägt eine immer gemeinsame Betrachtung vor. Danach können die beiden Grundmotive in einer jeweils schwachen oder starken Ausprägung gleichzeitig (gefasst in einem Koordinatensystem, horizontal „ideological motivations“, vertikal „pedagogical motivations“) zum tragen kommen. Denn Ideologen können sowohl pädagogische Leistungen des Homeschoolings positiv werten sowie auch andere Eltern „[…] may explain their homeschooling decision purely in terms of the importance of pedagogy yet may closely link this pedagogy to their broader ideologies“ (Nemer 2002: 8f/14). 56 Trotz der nach wie vor gängigen Typisierung finden sich in den letzten Jahren auch vermehrt kritische Stimmen (vgl. z.B. zur grundsätzlichen Ablehnung einer Typisierung Rothermel 200357). Collom bezweifelt, dass Homeschooler einfach länger in Ideologen und Pädagogen unterschieden werden können. Zwar seien religiöse, und pädagogische bzw. akademische Motive nach wie vor gängig, aber das generelle Missfallen am öffentlichen Schulsystem wie auch familiäre Lebensstilentscheidungen müssten als wichtige und eigenständige Motive anerkannt werden (Collom 2005: 311; vgl. ebenfalls zum nicht typenbasierten Ansatz Green; Hoover-Dempsey 200758). 56 Der US-Soziologe Stevens entwickelt die Dichotomie schließlich metaphorisch. Er typisiert zu „heaven-based“ und „earth-based“. Damit erfasst er in der Typologisierung nicht nur das Motiv für das Homeschooling, sondern auch das damit verbundene Menschenbild und das Lernverständis (Stevens 2001). 57 Rothermel weist darauf hin, dass die dichotome und vereinfachende Art der Typisierung von Homeschooling -Eltern zum Beispiel für Großbritannien zu kurz greift. Sie schlägt stattdessen die Verwendung eines Schichtmodells vor, um der Verschiedenheit der von ihr in einer umfangreichen Studie erfassten 20 Motive englischer Homeschooling-Eltern gerecht zu werden. Die Motive (wie z.B. Unzufriedenheit mit der Schule, andere Vorstellungen von Freiheit, bestimmter Lebensstil) lassen sich ihrer Meinung nach nicht typisieren, sondern den Homeschooling-Eltern nur als 1. homogener oder 2. diversifizierter Gruppe oder ihnen als Familie oder aber eben ihnen als Individuen zuordnen. Innerhalb der zu betrachtenden Schichten treten jedoch neben den Differenzen dann auch Gemeinsamkeiten hervor (Rothermel 2003). 58 Beide beziehen in ihre empirische Arbeit neuere erziehungswissenschaftliche Ansätze mit ein. Sie gehen davon aus, dass Eltern sich grundsätzlich und ausschließlich aus zwei Gründen für das Homeschooling entscheiden: 1. aus psychologischen Motiven, die den Bedarf des Homeschoolings anregen (in Bezug auf ein Verständnis einer aktiven Elternrolle in der Bildung, ihre Wahrnehmung zum Erfolg ihrer elterlichen Erziehung und ihres Lehrens sowie ein Nicht-Zutrauen in die allgemeine Schulbildung) und 2. auf Grund lebenskontextualen Variabeln, die eine Durchführbarkeit anregen (Green; Hoover- Dempsey 2007: 266/281f). - 26 - 4.3. Deutsche Homeschooling-Eltern: „Fromme“ und „Alternative“ als Mehrheit Spiegler hat aus der Befragung von (insgesamt mehr als 100 und hier 32) deutschen Homeschooling-Familien systematisch übergreifende Aspekte der elterlichen Gründe für das Homeschooling herausgearbeitet. Er abstrahiert vier Motive: 1. Home Education für einen selbstbestimmten Alltag: Von fast allen Familien wurde neben anderen Aspekten die Form des Schulunterrichts kritisiert. Der durch den Schulbesuch vorgegebene Tagesund Jahresablauf wird als massiver Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht gesehen. 2. Home Education für individuelle Wertevermittlung: Verschiedene Kritik an den Sozialisationseinflüssen der Schule wird vorgebracht. Dazu gehört die Kritik der Entfremdung von den Eltern, an schulischen Lehrinhalten wie dem (zu frühen) Sexualkundeunterricht, der antichristlichen oder negativen Peergroup-Beeinflussung sowie an den fehlenden Tugenden. 3. Home Education für besseren Wissenserwerb: Nicht selten wird Kritik an dem Inhalt, dem Umfang schulischen Lernens und der Form, also wie gelernt wird, geäußert . Und 4. Home Education für das psychische und physische Wohlergehen des Kindes: Nahezu alle Eltern sind sich unabhängig von ihrer ideologischen Verwurzelung einig in ihrer Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder und darin, ihnen individuell so gut wie möglich gerecht werden zu wollen. Thematisiert werden von einzelnen diesbezüglich auch Gewalt- oder Mobbingerfahrungen der Kinder und (darauf folgende) psychosomatische Reaktionen, auf die sie mit dem Homeschooling in einem konkreten Fall reagieren. Zusammenfassend lassen sich die Motive der Eltern in den seltensten Fällen lediglich auf einen Bereich beziehen. Auch führten die praktischen Erfahrungen einiger Homeschooling-Familien dazu, dass sich ihre Motive im Laufe der Zeit änderten. So traten bei einer Familie neben das ursprüngliche Bemühen um bessere Wissensvermittlung Aspekte der Werterziehung hinzu und in einem anderen Fall veränderten sich die anfänglichen religiösen Gründe in zunehmend pädagogische (Spiegler 2008: 51-75). Trotz der Diversität der Motive stellt Spiegler Konzentrationen fest, die sich für ihn auf zwei vornehmliche, aber idealisierte Typen von Homeschooling-Eltern reduzieren lassen . In Anlehnung an die elterlichen Orientierungen „heaven-based“ bzw. „earth based“ entwickelt Spiegler die deutschen Entsprechungen mit „der Fromme“ und „der Alternative “.59 Dem „Frommen“ ist das Homeschooling eine von Gott gegebene Aufgabe, da die Schule ihm vom antichristlichen (antiautoritären, sexuellen, esoterischen, therapeutischen und leistungsfeindlichen) Einflüssen unterwandert scheint. Dem Kind soll der `richtige 59 Aus den Weltanschauungen der Eltern, aus denen sich für sie Konfliktfelder mit den öffentlichen Schulen ergeben, leitet er die Typisierung ab. Auf Grund der jeweiligen Weltanschauung sehen die Eltern ihre Möglichkeiten zu stark eingeschränkt, die gemäß dem eigenen Glauben (an „Gott Vater“ oder „Mutter Erde“) angestrebte Entwicklung der Kinder zu verwirklichen. - 27 - Glauben` vermittelt werden, in dem die Autorität Gottes unumstößlich ist. Kinder werden als eine anvertraute Gabe Gottes gesehen, die vor kulturellen Gegeneinflüssen geschützt werden sollten. Dabei wird ein stark traditionelles Rollenmodell in der Familie gelebt. Beim „Alternativen“ richtet sich die Grundkritik gegen die grundsätzliche Annahme der Erziehungsbedürftigkeit. Kinder werden als mündige Menschen mit dem Recht auf Selbstbestimmung gesehen, die die Bildungsform eigenständig wählen können sollen. Der Konflikt mit der Schulpflicht entzündet sich neben der Frage der Selbstbestimmung am Ideal einer natürlichen Entwicklung. Sein Ziel ist es, dass Lernprozesse sich an der Neugier und an den Interessen des Kindes orientieren und nicht an starren Vorgaben durch z.B. Lehrpläne (Spiegler 2008: 76-87). Beide Idealtypen spielen in der gegenwärtigen deutschen Homeschooling-Bewegung und in ihren Familien60 die zentrale Rolle. Es gibt zwar in Deutschland eine leicht wachsende Zahl von Eltern, die aus rein pragmatischen Gründen, weil ihr Kind behindert oder außergewöhnlich begabt ist, selbst unterrichten wollen. Ansonsten kann aber die große Mehrheit der deutschen Home Education Eltern mehr oder weniger einem der Cluster um die Idealtypen „der Fromme“ und „der Alternative“ zugeordnet werden (Spiegler 2008: 86). Dabei steht mehr als die Hälfte der Schulverweigerer dem stark religiös geprägten Lager nahe (Spiegler in Süddeutsche Zeitung vom 15.9.2007). Die so genannten evangelikal61 orientierten, die konservativ protestantischen (Fischer 2006: 23) Homeschooling -Eltern sind (medial und in den juristischen Auseinandersetzungen) klar tonangebend . Beleg dafür ist sicher auch, dass einer der bedeutendsten deutschen Interessensverbände Schulunterricht zu Hause e.V. ist. In seiner englischsprachigen Selbstbeschreibung – hingegen nicht in seiner deutschen – weist der Verein darauf hin, dass seinem Vorstand nur Christen angehören und enge Kontakte zur amerikanischen, evangelikal geprägten Home School Legal Defense Association bestehen (Homepage www.schuzh.de, Stand 8.5.2009). Und auch die deutsche Philadelphia-Schule, deren 60 Spiegler beschreibt eine große Bandbreite hinsichtlich der sozialstrukturellen Merkmale deutscher Homeschooling-Familien: Es gibt wohlsituierte Familien, auch einige mit chronischer Finanzknappheit, Wissenschaftler als auch Eltern mit weniger qualifizierten Abschlüssen, relativ häufig Pädagogen. Deutsche Homeschooler finden sich in abgelegenen Dörfern und in Großstädten, einige Elternteile kommen aus europäischen Nachbarstaaten, einige aus ehemaligen Staaten der Sowjetunion oder den USA. Die weltanschaulichen Orientierungen reichen von christlicher Religiosität, Atheismus, über fernöstliche Religionstraditionen bis zur patchworkartigen Spiritualität. Einige Familien haben ein Netzwerk, was sich vor allem in der Homeschooling-Bewegung verortet, andere ein davon unabhängiges, sowohl eine Nähe zur Bürgerlichkeit als auch zu alternativen Wohnprojekten sowie zum Arbeitermilieu finden sich. Eine Gruppe von muslimischen deutschen Homeschooling-Familien ist bisher nahezu nicht existent (Spiegler 2008: 75f). 61 Evangelikale verstanden als Christen, die die Bibel als Gottes nicht auslegungsbedürftiges, irrtumsloses Wort verstehen. - 28 - Heimschulmaterialien von vielen deutschen Homeschoolern benutzt werden, richtet sich ausschließlich an streng gläubige, christliche Eltern.62/63 5. Fazit: Die beiden renommierten Wissenschaftler in der deutschen Homeschooling-Forschung Ladenthin und Spiegler gehen davon aus, dass es in Zukunft eher mehr als weniger Eltern geben dürfte, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen. Der Boom der Privatschulen kann als einer der Vorboten allgemein zunehmender Privatisierungstendenzen im Bildungsbereich gesehen werden. In der Folge wird sich das Bildungssystem hochgradig differenzieren. Ladenthin prognostiziert, dass das unweigerlich dazu führt, dass verstärkt eine dritte (bisher nur marginale) Gruppe von bildungsorientierten Homeschoolern in Erscheinung tritt – neben den religiös motivierten Homeschooling -Eltern, die die Inhalte in den Schulen kritisieren, und den pädagogisch orientierten , die das Umfeld, in dem gelernt wird, beanstanden. Denn viele bildungsambitionierte Eltern würden zunehmend fragen, ob sie bei der Suche nach Alternativen zu „vermassten“ und unterausgestatteten Schulen“ „[d]ann […] doch die Konsequenz ziehen und die Kinder selber unterrichten“ (Ladenthin im Deutschlandfunk am 21.8.2006).64 Dass sich damit möglicherweise die Motive für das Homeschooling in Deutschland erweitern (eventuell sogar verschieben), könnte dazu beitragen, die bisherigen Argumentationsmuster sowohl von Heimunterricht-Befürwortern als auch -Gegnern neu zu justieren . Von wissenschaftlicher, behördlicher und juristischer Seite werden die Bedenken gegenüber einer grundsätzlichen Freigabe des Homeschoolings in Deutschland fast durchweg als außerordentlich berechtigt angesehen. Dabei speist sich die Skepsis vor allem daraus, dass bisher mehrheitlich streng religiöse Eltern auf das Homeschooling abstellten, die ihre Kinder von anderen Weltanschauungen als der eigenen abschirmen 62 Die Philadelphia-Schule richtet sich an Eltern, die „ihr vorstaatliches Erziehungsrecht in der Verantwortung vor Gott wahrnehmen“ wollen. Sie können seit Mitte der achtziger Jahre (nach eigenen Angaben wurden sie von 1980-1997 in NRW geduldet) über das freie Heimschulwerk Unterrichtmaterialien beziehen. Mit diesen Materialien sollen die Kinder dann unterrichtet werden, „eigenes und fremdes Handeln nach biblischen Maßstäben kritisch zu beurteilen“ (Homepage www.philadelphia-schule.de, Stand 8.5.2009). 63 Fischer hält es für schwer, christlich motiviertes Homeschooling überhaupt als Alternative zum staatlich organisierten Schulsystem anzusehen, „[…] denn so sympathisch der Gedanke auch ist, dass der Mensch nur von Gott her gedacht werden kann, stellt er auch eine ideologische Falle dar, die den Unterricht anachronistisch werden lässt. Er fällt hinter den Grunderkenntnissen der Aufklärung von der Autonomie des Menschen zurück und postuliert letztendlich ein geschlossenes Weltbild, das an der Pluralität der Wirklichkeit scheitern muss“ (Fischer 2006: 29). 64 Die Ablehnung des Schulbesuchs dieser Eltern ist nicht religiös oder weltanschaulich motiviert. Sie trauen dem deutschen Schulsystem dann einfach nicht (mehr) zu, ihre Kinder angemessen zu bilden und zu erziehen und würden eine individuelle und bestmögliche Förderung zumindest in der Grundschulzeit lieber selbst in die Hand nehmen. - 29 - wollen. Eindringlich und ausführlich hat das Bundesverfassungsgericht dargestellt, welche Bedeutung in diesen Fällen dem organisatorischen Konzept Schule zukommt; wie die Schule als „Integrationsfaktor erster Güte“ in einer „modernen Gesellschaft“ gebraucht wird (Tangermann 2006: 416). Dazu hat es den besonderen Stellenwert des elternunabhängigen Rechts des Kindes auf Bildung und Erziehung und des staatlichen Erziehungsauftrages für das demokratische Staatswesen herausgestellt. Wenn sich jedoch die „soziologische Heterogenität der Fälle“65 verändert, so der Vorschlag des Rechtswissenschaftlers Reimer, müsste sich aus die „behördliche und gerichtliche Handhabung“ differenzieren (Reimer; Thurn 2008: 720). Es ist daher davon auszugehen, dass die Diskussion um das Homeschooling in Deutschland in den nächsten Jahren intensiver geführt werden könnte. Höchstwahrscheinlich werden neue Argumente eingebracht und neue Vorschläge (neben z.B. dem der moderaten Öffnung für das Homeschooling von Ladenthin66) unterbreitet. Begrüßenswert wäre allemal eine stärkere wissenschaftliche bzw. empirische Auseinandersetzung mit dem (Spezial-)Thema, um auch für Deutschland auf eine breitere Daten- und Studienbasis zugreifen zu können. 65 Ganz plakativ kann dazu z.B. auch der Fall eines hochbegabten oder behinderten Kindes gehören, bei dem der Schulbesuch das Kindeswohl beeinträchtigen könnte. 66 Ladenthin schlägt vor, dass strikte Verbot zu lockern. Deutschland sollte anstatt der „Kriminalisierung der Eltern“ lieber auf klare Regeln und feste Vorgaben setzen. Damit würde aus seiner Sicht der Debatte ohne großes Risiko die Spitze genommen werden. Denkbar wäre aus seiner Sicht, dass Homeschooling- Eltern ihre Arbeit eng mit den Schulen abstimmen müssten, dass sie verpflichtet würden, sich an curriculare Vorgaben zu halten, ihre Arbeit zu dokumentieren und dass ihre Kinder an Klassenarbeiten in den Schulen teilnehmen. Auch müsste der Heimunterricht an Normen gebunden sein. Die Eltern müssten Inhalte unterrichten, die die Gesellschaft als wesentlich erachtet. Unter diesen Voraussetzungen wäre ohnehin nur eine Minderheit der Eltern in der Lage, ihre Kinder kundig und fundiert zu unterrichten (Ladenthin im Deutschlandfunk am 21.8.2006; Ladenthin in der Welt vom 23.3.2007; Ladenthin im Deutschlandradio Kultur am 14.1.2008). - 30 - 6. Verwendete Literatur Zeitungsartikel sind hier im Verzeichnis der verwendeten Literatur nicht aufgeführt; sie finden sich ausschließlich als Angabe im Fließtext bzw. als Beleg der Fußnoteninhalte. Basham, Patrick; Merrifield, John; Hepburn, Claudia R. ((2007). 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