Unabhängige Pharmaforschung - Ausarbeitung - © 2008 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 – 046/08 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Unabhängige Pharmaforschung Ausarbeitung WD 8 - 3000 – 046/08 Abschluss der Arbeit: 30.06.2008 Fachbereich WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W. - 3 - 1. Einleitung: Pharmaforschung Die Pharmaforschung profitiert stark von den rasanten Fortschritten, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf den Feldern der Molekularbiologie und Biotechnologie erzielt wurden: Es ist heute möglich, sehr viel systematischer als früher neue Wirkstoffe zu entwickeln und diese auf ihre Wirksamkeit, d.h. auf ihre biochemischen Reaktionen mit bestimmten körpereigenen oder körperfremden (krankheitserregenden) Stoffe zu testen. Dennoch bleibt die Entwicklung marktreifer Medikamente sehr aufwändig und kostenträchtig, vor allem in der klinischen Phase, die sich an die Grundlagenforschung im Labor anschließt. Zum Zwecke der Zulassung eines Medikaments müssen üblicherweise drei Phasen von klinischen Studien durchlaufen werden, anhand derer die Verträglichkeit / Sicherheit (Nebenwirkungen…) und die Wirksamkeit des neuen Medikaments überprüft werden. In Phase I wird an einer kleinen Zahl von gesunden Freiwilligen („Probanden“) bei geringer Dosis untersucht, wie sich der Wirkstoff im menschlichen Körper verhält. In Phase II wird an einer größeren Zahl (einige Hundert) von Patienten ermittelt, ob und wie der Wirkstoff gegen die Krankheit wirkt. Phase III, die an einer noch größeren Zahl (bis zu mehrere Tausend) von Patienten durchgeführt wird, dient schließlich der Erhebung von genauen Daten über die optimale Dosierung und mögliche Nebenwirkungen (statistische Häufigkeit), der Risiko-Nutzen-Abwägung sowie dem statistisch signifikanten Nachweis der Wirksamkeit des neuen Medikaments im Vergleich zu (evtl. existierenden) älteren Medikamenten (zum Verfahren der klinischen Studien siehe z.B. auch Prinz (2008)). Alle diese Phasen der Medikamentenentwicklung erfordern qualifizierte Fachkenntnisse , eine spezialisierte Infrastruktur sowie erhebliche Zeit (oft 10-12 Jahre bis zur Marktreife ). Der gesamte Prozess ist daher oft sehr teuer. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass die anfängliche Investition sich meist erst nach ein bis zwei Jahrzehnten in Form von Umsätzen auf dem Arzneimittelmarkt wieder auszahlt. Außerdem ist die Investition mit erheblicher Unsicherheit behaftet, da vermeintlich vielversprechende Ansätze für neue Wirkstoffe oft im Zuge der klinischen Studien als ungeeignet erkannt werden. In diesen Fällen muss die entsprechende Entwicklungslinie aufgegeben und die getätigten Investitionen abgeschrieben werden. Aus diesen Gründen wird die Arzneimittelentwicklung meist nur von einigen wenigen, besonders kapitalkräftigen Akteuren betrieben. Zu nennen sind insbesondere einige große , internationale Unternehmen sowie der Staat. 1.1. Arbeitsteilung zwischen Staat und Unternehmen - 4 - In der Pharmaforschung hat sich seit einigen Jahrzehnten eine typische Arbeitsteilung zwischen Staat und Unternehmen entwickelt, die etwa wie folgt charakterisiert werden kann: Der Staat fördert die Grundlagenforschung – d.h. die Entwicklung von Wirkstoffen , die Aufklärung von biochemischen Mechanismen und Prozessen im menschlichen Körper etc. – und betreibt diese oft auch selbst an Hochschulen, Instituten und Forschungszentren . Pharmaunternehmen kooperieren mit den staatlich finanzierten Akteuren , entwickeln Wirkstoff-Konzepte weiter und übernehmen die konkrete Produktentwicklung , veranlassen und finanzieren die Durchführung klinischer Studien und betreiben die Vermarktung. Motiviert werden kann diese Arbeitsteilung etwa durch das Argument, dass vor allem klinische Studien so teuer sind, dass sie nicht regelmäßig aus Steuermitteln bezahlt werden können; dies können nur Unternehmen, die diese Investition später durch entsprechende Gewinne am Arzneimittelmarkt refinanzieren können. Umgekehrt ist die Grundlagenforschung mit so hohen Risiken und wenig absehbaren Erfolgschancen behaftet, dass Unternehmen nicht ohne weiteres in sie investieren würden. Tut der Staat dies jedoch , so fördert er nicht nur die Wissenschaft, sondern auch (im Erfolgsfalle) die Konjunktur am Arzneimittelmarkt, die Exportchancen der heimischen Pharmaindustrie sowie das Wohl der Patienten. Zu beachten ist, dass auch in der von Unternehmen dominierten „zweiten Phase“ der Pharmaforschung der Staat weiterhin eine erhebliche Rolle spielt, indem er das Verfahren der Marktzulassung für Medikamente definiert, die Kriterien für Patentierbarkeit von Arzneimitteln aufstellt und die entsprechenden Prüfverfahren durchführt, im Zuge von Marktregulierung und Kartellkontrolle die Pharmaunternehmen überwacht, im Rahmen der Gesundheitspolitik die Regeln z.B. für eine Arzneimittel-Kostenübernahme durch die staatlichen Krankenkassen festsetzt und so zur Preisbildung beiträgt. 2. Problemfelder: Seltene Krankheiten, vernachlässigte Krankheiten Das oben skizzierte, typische Modell der Medikamentenentwicklung und der Arbeitsteilung zwischen privaten und staatlichen Akteuren wird zunehmend kritisiert (vgl. BuKo Pharma 2005, Ärzte ohne Grenzen 2008). Es sei zu teuer, produziere zu wenig wirkliche Innovationen, koste den Steuerzahler wie den Patienten zu viel, und diene vor allem einer bedeutenden Untergruppe von Kranken überhaupt nicht. Letztere Kritik bezieht sich vor allem auf zwei Arten von Krankheiten: einerseits seltene, andererseits vernachlässigte Krankheiten. Seltene Erkrankungen sind solche, an denen (in Industrieländern) nur ein sehr geringer Prozentsatz der Bevölkerung pro Jahr erkrankt. Die genaue Definition variiert, doch handelt es sich typischerweise um 5-10 Erkrankungen pro Jahr auf 10.000 Einwohner. - 5 - Seltene Krankheiten sind in vielen Fällen genetisch bedingt. „Vernachlässigte“ Krankheiten hingegen sind solche, die meist Menschen in Entwicklungsländern betreffen, die nur eine geringe Kaufkraft haben. Oft handelt es sich um Tropenkrankheiten, die durch Infektionen oder von Parasiten ausgelöst sind. In beiden Fällen müssen Unternehmen, die eine betriebswirtschaftliche Entscheidung für oder gegen ein Engagement in der Entwicklung von Arzneimitteln gegen eine bestimmte Krankheit zu treffen haben, davon ausgehen, dass der im Erfolgsfalle zu erwartende Markt nur geringe Umsätze verspricht. Sie werden sich daher meist gegen ein solches Engagement entscheiden, und ihr Kapital lieber in die Entwicklung von Arzneimitteln gegen (in Industrieländern) weiter verbreitete Krankheiten investieren. Dennoch ist es gesundheits- und entwicklungspolitisch zweifellos sinnvoll und wünschenswert , auch die Entwicklung von Medikamenten gegen seltene und vernachlässigte Krankheiten zu fördern und voranzutreiben. Die Frage nach einer „unabhängigen Pharmaforschung“ betrifft also u.a. die Frage, wie eine solche Forschung in Teilen unabhängig von den Gewinninteressen und Renditezwängen der großen Pharmaunternehmen gemacht und dauerhaft sichergestellt werden kann1. Im Fall der vernachlässigten Krankheiten besteht ein starker Zusammenhang mit der Entwicklungspolitik. Ein häufig gemachter Vorschlag lautet etwa, die Pharmakonzerne müssten eine differenzierte Preisgestaltung betreiben, bei der sie ihre Medikamente an Entwicklungsländer zum „Selbstkostenpreis“ (der Herstellung) abgeben. Die Refinanzierung ihrer Forschungskosten müsste dann allein über die höheren Preise in den Industrieländern sichergestellt werden. Solche Maßnahmen werden von einigen Pharmakonzernen in Einzelfällen freiwillig praktiziert. Teilweise werden sie auch von Staaten per „Zwangslizenz“ gegen den Willen der Patent-Inhaber durchgesetzt (AIDS-Mittel in Südafrika). Es handelt sich dabei jedoch potenziell um einen Verstoß gegen Regelungen der WTO, der „World Intellectual Property Organization“ (WIPO) und des „Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum“ (TRIPS- Abkommen). Auch wenn eine genaue juristische Prüfung des Einzelfalls hier nicht durchgeführt werden kann, handelt es sich jedenfalls um heikle internationale Fragen, die weit über die nationale oder europäische Forschungspolitik hinausreichen. Daher 1 Darüber hinaus lassen sich auch weitere Fragen stellen: Wie z.B. die wissenschaftliche Unabhängigkeit klinischer Studien von den Interessen der jeweiligen Geldgeber gesichert werden kann, wie das Wohl der Probanden und Patienten in diesen Studien garantiert werden kann, wie die Unabhängigkeit des rationalen Medikamenten-Einsatzes vom Werbeeinsatz der Pharmahersteller gesichert wird. Einige dieser Fragen wurden in letzter Zeit auf gesundheitspolitischer Ebene durch die Einführung von Positiv-/Negativ-Listen, durch die Schaffung von Ethik-Kommissionen für klinische Studien oder etwa durch die Etablierung des „Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen “ (IQWiG) strukturell angegangen. Sie werden daher im Rahmen der vorliegenden Darstellung nicht weiter thematisiert. - 6 - soll das Problemfeld der vernachlässigten Krankheiten hier zunächst nicht weiter diskutiert werden. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Problematik der seltenen Erkrankungen. 3. „Orphan Drugs“ Für Arzneimittel zur Behandlung seltener Krankheiten hat sich in den letzten 20 Jahren der Begriff „Orphan Drugs“ durchgesetzt. Die Problematik bei der Entwicklung dieser Medikamente liegt darin, dass die geringen Fallzahlen nur einen geringen Absatzmarkt für zukünftige Medikamente erwarten lassen und Aktivitäten in Forschung und Entwicklung für Pharmaunternehmen daher unter ökonomischen Gesichtspunkten meist unattraktiv sind. Erschwerend kommt hinzu, dass schon klinische Studien darunter leiden , dass es wegen der Seltenheit der Erkrankung oft nicht einfach ist, eine hinreichende Anzahl an Patienten für die Erprobung zu finden. Zahlenverhältnisse zu seltenen Krankheiten nennt z.B. B. Wetterauer in ScienceAllemagne (2006): „Von den ca. 30.000 bisher bekannten Krankheiten werden 5.000 bis 7.000 zu den „seltenen Erkrankungen“ gezählt, da weniger als einer von 2.000 Menschen unter einem spezifischen Krankheitsbild leidet. … Oft sind die Krankheitsursachen noch nicht erforscht. Zwar ist bekannt, dass ca. 80% der seltenen Erkrankungen genetischen Ursprungs sind oder dass genetische Risikofaktoren vorliegen. Für viele der Erkrankungen sind die betroffenen Gene allerdings noch nicht identifiziert . Je seltener und schwerer die Erkrankung, desto schwieriger sind jedoch die Voraussetzungen für Familienanalysen oder Assoziationsanalysen zu erfüllen. Bei anderen Erkrankungen sind nicht einmal Ansätze zur Erforschung der Krankheitsursachen bekannt.“ „Insgesamt jedoch ist die Forschung zu seltenen Erkrankungen – besonders die klinische Forschung mit erschwerten Ausgangsbedingungen konfrontiert. Dazu zählen u.a. (i) eine geringe Anzahl an Wissenschaftlern, die an einer spezifischen Erkrankung arbeiten: eine hohe krankheitsbezogene Spezialisierung bietet oft keine guten Voraussetzungen für eine klinische bzw. klinischwissenschaftliche Karriere (ii) fehlendes, nicht ausreichend koordiniertes oder dokumentiertes Untersuchungsmaterial aus der Klinik, (iii) eine geringe Anzahl an Patienten, deren überregionale Verteilung die Durchführung klinischer Studien erschwert.“ (B. Wetterauer in ScienceAllemagne 2006) - 7 - 3.1. Handlungsoptionen Will man die Entwicklung von Medikamenten für seltene Krankheiten fördern, so sind generell verschiedene Instrumente vorstellbar: Der Staat kann mehr Steuermittel investieren , um Projekte, Institutionen oder die Vernetzung von Forschern im Bereich der Pharmaforschung zu stärken. Ebenso kann er gezielt den Wissens-Transfer in die Anwendung finanziell unterstützen. Ebenso ist es möglich, die Entwicklung von marktreifen Medizinprodukten durch Unternehmen auf anderem Wege zu fördern: etwa durch Reduzierung der Anforderungen an klinische Studien (solange dies nicht die Sicherheit der Patienten gefährdet), durch vereinfachte Zulassungsverfahren, niedrigere Gebühren für die Zulassung, oder durch Steuernachlässe für forschende Unternehmen, durch ausgedehnte Vermarktungsrechte und umfangreicheren Patentschutz. 3.2. EU-Verordnung zu „Orphan Drugs“ Vor diesem Hintergrund erließ die Europäische Union im Jahr 2000 eine „Verordnung (Nr. 141/2000) über Arzneimittel für seltene Leiden“. Wesentliche Regelungspunkte sind ein erleichtertes Genehmigungsverfahren für die Zulassung und ein alleiniges Vertriebsrecht über 10 Jahre für den Entwickler des Medikaments. Ebenfalls wurde bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) ein eigener Ausschuss geschaffen, der Anträge prüft und ein Register über zugelassene „Orphan Drugs“ führt. Bis 2008 wurden europaweit 46 Arzneimittel als „Orphan Drugs“ zugelassen2. Hagn/Schöffski (2005) stellen in ihrem Buch einen politisch-ökonomischen Vergleich dieser EU-Verordnung mit entsprechenden Regelungen in den USA, Australien und Japan an (S. 85, „Orphan drug laws compared“). Außerdem legen sie in Kapitel 8 dar, welche Maßnahmen die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten zur Umsetzung und Ergänzung der EU-Verordnung ergriffen haben (S. 45-51, Supplementary measures within EU member states“). Die EU-Verordnung wurde vielfach begrüßt, wird jedoch teils auch kritisiert. Die Kritik von McCabe (2005) lässt sich etwa wie folgt zusammenfassen: Durch eine übermäßige Konzentration von Forschungsanstrengungen auf seltene Krankheiten könne es zu einer Verschlechterung der Kosten-Nutzen-Relationen im öffentlichen Gesundheitssystem kommen. Forschungs-Ressourcen, die in die Behandlung seltener Krankheiten investiert werden, wären an anderer Stelle (bei weiter verbreiteten Krankheiten) effektiver eingesetzt . Die Autoren plädieren deshalb dafür, zumindest bei Entscheidungen zur Übernahme von Medikamentenkosten durch staatliche Krankenversicherungssysteme die 2 Liste im Internet z.B. unter http://www.vfa.de/de/forschung/am-entwicklung/orphan-drugs-list/ abrufbar. - 8 - üblichen Kriterien zur Kosten-Nutzen-Relation im Falle der „Orphan Drugs“ nicht weniger streng anzuwenden als sonst. 4. Konkrete politische Maßnahmen 4.1. Deutschland Die politische Verantwortung für die Pharmaforschung liegt in Deutschland in der Hand des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Dieses startete im Jahr 2007 als Teil der Hightech-Strategie der Bundesregierung u.a. die „Pharma-Initiative für Deutschland“3, mit der u.a. versucht werden soll, Deutschlands verlorenen Titel als „Apotheke der Welt“ neu zu begründen. Teil der Initiative ist eine neue Maßnahme namens "BioPharma - Der Strategiewettbewerb für die Medizin der Zukunft" mit einem Fördervolumen von 100 Mio. Euro für die Zeit von 2007 bis 2011. Die aktuelle Situation in der speziellen Förderung der Forschung zu seltenen Krankheiten stellte eine Vertreterin des BMBF in einem Vortrag am 22.04.2008 im Überblick dar (Wetterauer 2008a). Sie hob darin hervor, dass es zwar gute Ansätze und Strukturen im Bereich der Grundlagenforschung gebe, dass deren Erkenntnisse aber zu selten Eingang in die klinische Forschung und in neue Therapien fänden. Als Konsequenz aus dieser Feststellung will das BMBF zukünftig verstärkt die Vernetzung existierender Forschergruppen in den Bereichen Grundlagenforschung, klinische Forschung und Versorgungsforschung fördern und verstreute Kapazitäten bündeln. Weitere Details sind einer Darstellung derselben Autorin im Heft „ScienceAllemagne“ zu entnehmen: „Daher hat das Bundministerium für Bildung und Forschung eine spezifische Fördermaßnahme für seltene Erkrankungen geschaffen. Sie lehnt sich an bisherige Erfahrungen mit den „Kompetenznetzen in der Medizin“ an, deren Ziel es ist, Kapazitäten zu vernetzen und interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern. Die Verzahnung von Grundlagenforschung mit klinischer Forschung ist besonders bei den seltenen Erkrankungen vordringlich. Von einer engen Zusammenarbeit von Grundlagenforschern mit Klinikern profitieren die Grundlagenprojekte durch leichtere Verfügbarkeit von Proben und deren klinischer Charakterisierung. Auch ein direkter Informationsfluss von der Laborbank zu den Patientenbetten und damit eine Verbesserung der Patientenversorgung ist zu erwarten. Für die Förderung von nationalen Netzwerken sind insgesamt Mittel in Höhe von ca. 30 Mio. € für eine Gesamtlaufzeit von bis zu 5 Jahren vorgesehen. Seit 2003 werden insgesamt 10 Netzwerke gefördert. In den Netzwerken werden sehr unterschiedliche Erkrankungen bearbeitet: Skelettdysplasien, Störungen der somatosexuellen Differenzie- 3 http://www.bmbf.de/de/10540.php - 9 - rung, Muskeldystrophien, erbliche Bewegungsstörungen mit neuronalen Ursachen , Leukodystrophien, Systemische Sklerodermie, Ichthyose, Epidermolysis bullosa, erbliche Blutbildungsstörungen und erbliche Stoffwechselerkrankungen. Von den über 90 Teilprojekten widmen sich mehr als 20 dem Aufbau von zentralen Strukturen, wie z. B. zentralen Serviceeinrichtungen, besonders für molekulare und biochemische Diagnose, zentralen Daten- und Materialbanken und der Koordinationszentralen , die die effiziente Kommunikation der Netzwerkmitglieder gewährleisten. Ein Schwerpunkt der Projekte liegt bei experimentellen Untersuchungen zur Krankheitsentstehung, die eine wesentliche Vorraussetzung für die spätere Entwicklung von Therapien darstellen. Der Fokus bei den klinischen Studien liegt auf der standardisierten Dokumentation des Krankheitsverlaufs unter den heutigen therapeutischen Möglichkeiten, um eine ausreichende abgesicherte Vergleichsbasis für spätere Therapiestudien zu entwickeln.“ (B. Wetterauer in ScienceAllemagne 2006) Diese Aktivitäten ordnen sich ein in den Hintergrund ähnlich gerichteter Bemühungen der Europäischen Union: Als Teil des „Europäischen Forschungsraums“ (European Research Area, ERA) fördert die EU ein sogenanntes ERA-Netz mit dem Namen E- RARE, das der Erforschung seltener Krankheiten gewidmet ist. Ziel ist die Koordinierung nationaler Forschungsförderungsprogramme, die Erstellung gemeinsamer transnationaler Förder-Bekanntmachungen und die Bereitstellung von Mittel für die Koordinierung und den Austausch von Wissenschaftlern, die in verschiedenen europäischen Ländern an ähnlichen Themen arbeiten. Die Finanzierung der Forschungsprojekte selbst bleibt dabei weiterhin in der Hand der einzelnen Mitgliedsstaaten. 4.2. Spanien Auftragsgemäß sollte im Falle von Spanien die Frage geklärt werden, ob dort – zusätzlich zu den allgemeinen, EU-weiten Maßnahmen zu seltenen Krankheiten, die oben diskutiert wurden – eine „Zwangsabgabe der Pharmaindustrie für Forschung“ eingeführt wurde und wie diese gegebenenfalls ausgestaltet sei. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass eine solche Maßnahme in den relevanten neueren Übersichten zur Pharma- Forschungspolitik europäischer Länder nicht erwähnt wird (vgl. Wetterauer 2008b). Anfragen des Wissenschaftlichen Dienstes an die Spanische Botschaft in Berlin, an die Deutsche Botschaft in Madrid sowie an das Europäische Zentrum für Parlamentarische Wissenschaft und Dokumentation (EZPWD) brachten ebenfalls keine Hinweise auf die Existenz einer solchen „Zwangsabgabe“. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht im Internet kurze Überblicke sowie längere Berichte über die Lage der Gesundheitspolitik in ihren Mitgliedsländern. - 10 - Der aktuelle Überblick im Fall von Spanien4 erwähnt eine vermeintliche Zwangsabgabe ebenfalls nicht. In der Langfassung5 wird jedoch angeführt, dass die Regierung im Jahr 2005 einen Gesetzentwurf (engl: „Bill on Guarantees and Rational Use of Medicines and Medical Devices“) beschlossen habe, mit dem der zuvor beobachtete massive Anstieg der Medikamentenkosten im nationalen Gesundheitssystem gebremst werden soll. Hierzu dient eine staatlich verordnete Preissenkung um 20% (bzw. reduzierte Kostenerstattung ) für alle Medikamente, die seit mehr als 10 Jahren auf dem Markt sind und (noch) nicht durch ein günstigeres Generikum ersetzt werden können. Die Webseite des „Health Policy Monitor“6 („Internationales Netzwerk Gesundheitspolitik, ein Projekt der Bertelsmann Stiftung“) führt in ähnlichem Zusammenhang an, dass bereits früher im Jahr 2005 mehrere Preissenkungen in geringerer Höhe staatlich verordnet worden seien, die von den betroffenen Unternehmen wie eine zusätzliche Verkaufs-Steuer empfunden würden. Zwar gibt es nach dieser Darstellung eine Ermäßigung auf die Preissenkung für solche Firmen, die besonders stark in Forschung und Entwicklung investieren. Ansonsten aber handelt es sich bei dieser Maßnahme offenbar nicht um eine spezifische Maßnahme zur Stärkung der Forschung; vielmehr geht es darum, den Anstieg der Medikamenten -Ausgaben des staatlichen Gesundheitssystems zu verlangsamen. Dass die so gesparten Gelder in erheblichem Maße der Forschung zugute kämen, ist nicht ersichtlich . Spezifische Maßnahmen zur Förderung der spanischen Forschung zu seltenen Krankheiten werden bei Hagn (2005) und Wetterauer (2008b) erwähnt. In Abschnitt 8.2.13 ihres Buches weisen Hagn und Schöffski darauf hin, dass die spanische Medizinprodukte -Agentur Forscher und Unternehmen bei klinischen Studien zu seltenen Krankheiten berät. Außerdem gebe es Erleichterungen bei der Marktzulassung für neue Medikamente . Schließlich betreibe die Universität Barcelona öffentlich einsehbare Datenbanken mit Therapie-Informationen für Patienten, die an seltenen Krankheiten leiden. Wetterauer und Schuster (2008b) nennen weitere Details: „Das Spanische Nationale Forschungsprogramm für seltene Erkrankungen wird vom Instituto de Salud Carlos III (ISCIII) [14] implementiert. Das ISCIII ist ein dem Ministerium für Gesundheit und Verbraucherschutz zugeordnetes Institut im Bereich biomedizinischer Forschung, Gesundheitsforschung und Public Health. Sein Etat beläuft sich auf ca. 300 Mio. EUR pro Jahr (2005) für die intramurale 4 http://www.euro.who.int/Document/E89491sum.pdf bzw. http://www.euro.who.int/observatory/CtryInfo/CtryInfoRes?COUNTRY=SPA 5 http://www.euro.who.int/Document/E89491.pdf 6 http://www.hpm.org/en/Surveys/CRES_Barcelona/05/Pharmaceutical_Plan_For_The_Spanish_NHS .html - 11 - und extramurale Projektförderung, davon entfielen 130 Mio. EUR auf die extramurale Projektförderung in der Biomedizin. … Zudem existiert eine intramurale Förderung für das Institute for Research on Rare Diseases (IIER), das auf Forschung zu seltenen Erkrankungen spezialisiert ist (Themen: Ätiologie, Epidemiologie, klinische Forschung). IIER hat große Erfahrung mit Datenbanken, DNA- und Gewebebanken und führt das spanische Informationssystem zu seltenen Erkrankungen (SIERE)“ (Wetterauer und Schuster 2008b). 4.3. Frankreich Die französische Botschaft in Deutschland vergleicht in ihrem Themenheft „Seltene Erkrankungen“ die Forschungspolitik in Deutschland und Frankreich und stellt fest: „Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten haben Frankreich und Deutschland zwei unterschiedliche Forschungsstrategien entwickelt. So haben die Franzosen im April 2002 eine wissenschaftliche Interessengemeinschaft (GIS) – das Institut für seltene Erkrankungen gegründet, dessen Ziele einerseits darin bestehen eine nationale Forschungspolitik zu seltenen Erkrankungen zu definieren und umzusetzen und andererseits die Forschungen zu koordinieren und die Mittel zusammenzuführen . Der deutsche Ansatz ist gezielter und besteht in der Schaffung von Kompetenznetzen, die sich jeweils einer seltenen Erkrankung widmen.“ (Science Allemagne 2006). Wetterauer und Schuster (2008b) nennen weitere Details zum französischen Forschungsprogramm zu seltenen Erkrankungen: „Das französische Forschungsprogramm wird durch INSERM über das Institut „Groupement d’Intérêt Scientifique – Institut des Maladies Rares“ (GIS-IMR) umgesetzt, das 2002 gegründet wurde [13]. Es handelt sich beim GIS nicht um ein Institut, das eigenständig Forschung durchführt, sondern um eine kleine Geschäftsstelle für Förder- und Koordinierungsaktivitäten. Betriebskosten und umgesetzte Fördermittel wurden zu Beginn gemeinsam durch ein Konsortium der großen öffentlichen Einrichtungen und Stiftungen finanziert, die mit Versorgung und Forschung zu seltenen Erkrankungen befasst sind: das Forschungsministerium , das Gesundheitsministerium, das Wirtschaftsministerium, das CRNS, Inserm, die Nationale Sozialversicherung CNAMTS, die französische Gesellschaft für Muskeldystrophie (AFM) und die Allianz für Seltene Erkrankungen. Seit Einrichtung der neuen französischen Forschungsagentur ANR im Jahre 2005 arbeitet das GIS in dessen Auftrag und administriert Mittel der ANR und der AFM. Ziel des GIS ist es, neue Forschungsaktivitäten zu seltenen Erkrankungen zu stimulieren, die Zusammenarbeit zwischen Forschungsgruppen und Instituten zu verbessern, - 12 - den Zugang zu Forschungsinfrastrukturen und Technologieplattformen zu optimieren (z. B. Mausklinik zur Phänotypisierung von Tiermodellen, Hochdurchsatz- Screening-Facilities) und den Zugang zu den Small-molecule-Banken der pharmazeutischen Industrie zu erleichtern (ERDITI Initiative). Das GIS führt etwa jährlich Ausschreibungen durch und fördert krankheitsorientierte Netzwerke und interdisziplinäre Forschungsprojekte zu seltenen Erkrankungen. Insgesamt wurden für Projekte von bis zu 3 Jahren Laufzeit zwischen 5 und 11 Mio. € pro Jahr bereitgestellt. Seit 2002 wurden ca. 200 Projekte gefördert. Für Einzelprojekte werden ca. 80.000 EUR/Jahr veranschlagt, für die Vernetzung von Akteuren ca. 40.000 EUR/Jahr. Da in Frankreich Personalstellen typischerweise grundfinanziert sind, stellen diese Projektfördermittel einen starken Anreiz dar“ (Wetterauer und Schuster 2008b). 5. Stimmen Von manchen Nicht-Regierungsorganisation werden über die oben diskutierten Instrumente hinaus weitergehende Maßnahmen zur Stärkung der unabhängigen Pharmaforschung gefordert. Die Vorschläge der Organisation „medico international“ zielen teils auf stärkere öffentliche Finanzierung von Pharmaforschung und klinischen Studien ab (BuKo Pharma 2005). Vor allem aber verlangen die Autoren eine Erleichterung des Zugangs der Öffentlichkeit zu Forschungsergebnissen, einen freien Austausch unter Wissenschaftlern ohne „kommerzielle Geheimhaltungsinteressen“ sowie einen erleichterten Wissenstransfer in Länder der Dritten Welt. Diese Forderungen lassen sich als eine Konkretisierung des übergreifenden „Open Access“-Ansatzes (vgl. Lübbert 2007) für den Spezialbereich Pharmaforschung interpretieren. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ veröffentlichte im April 2008 einen Bericht über die (aus ihrer Sicht unzureichende) deutsche Forschung zu vernachlässigten Krankheiten. Darin erhebt sie konkrete Forderungen an verschiedene Akteure der deutschen Forschungslandschaft, um die Forschung zu stärken. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und/oder die Helmholtz-Gemeinschaft sollten spezifische Programme zur Erforschung seltener und vernachlässigter Krankheiten auflegen und diese mit adäquaten finanziellen Mitteln ausstatten. Die Bundesländer und die Universitäten müssten verstärkt neue Lehrstühle mit entsprechenden Profilen einrichten. Die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft und die Leibniz-Gemeinschaft könnten die Aktivitäten ihrer einschlägigen Institute stärken bzw. neue Institute speziell für die Erforschung vernachlässigter Krankheiten einrichten. Schließlich solle die Bundesregierung Preise für die erfolgreiche Entwicklung neuer Medikamente ausschreiben. Diese Preise wären mit substanziellen Geldmitteln auszustatten; im Gegenzug müssten die ausgezeichneten - 13 - Forscher auf Patentschutz verzichten und ihre Erkenntnisse sogleich der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen (Ärzte ohne Grenzen 2008). 6. Literatur Ärzte ohne Grenzen (2008). Forschungszwerg Deutschland – kaum Forschungsmittel für vernachlässigte Krankheiten. Im Internet: http://www.aerzte-ohnegrenzen .de/Medikamentenkampagne/Aktuell/Forschungsbericht-Deutschland.php BuKo Pharma / medico International (2005). Arzneimittelforschung - Plädoyer für eine Wissenschaft im öffentlichen Interesse. Im Internet: http://www.medicointernational .de/kampagne/gesundheit/downloads/mi_arzneimittelforschung_it.pdf Hagn, Daniel; Schöffski, Oliver (2005). Orphan Drugs – A Challenge for the Pharmaceutical Industry in Europe. Schriften zur Gesundheitsökonomie, Bd. 6. Nürnberg / Burgdorf: Health Economics Research Zentrum (HERZ). Koslowski, Peter; Prinz, Aloys (Herausgeber) (2008). Bittere Arznei – Wirtschaftsethik und Ökonomik der pharmazeutischen Industrie. München: Wilhelm Fink Verlag. Lübbert, Daniel (2007). Open Access: Freier Zugang zu wissenschaftlicher Information. Aktueller Begriff der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages. Im Internet : http://www.bundestag.de/wissen/analysen/2007/Open_Access___.pdf McCabe, Christopher; Claxton, Karl; Tsuchiya, Aki (2005). Orphan Drugs and the NHS: should we value rarity? British Medical Journal, Bd. 331, S. 1016. Im Internet: http://eprints.whiterose.ac.uk/948/1/claxtonk3.pdf Pies, Ingo; Heilscher, Stefan (2008). Das Problem der internationalen Arzneimittelversorgung : eine wirtschaftsethische Perspektive. In: Koslowski/Prinz (2008), S. 209- 234. Prinz, Aloys (2008). Ethik und Ökonomik der pharmazeutischen Industrie. In: Koslowski/Prinz (2008), S. 13-44. Science Allemagne (2006). Seltene Erkrankungen in Deutschland – Forschungs-, Diagnostik -, Therapieansätze. Themenheft Nov. 2006; Informationsblatt der französischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Im Internet: http://www.wissenschaft-frankreich.de/Resources_fm/Maladies_rares_de.pdf Wetterauer, Birgit (2008a). Forschungsförderung für seltene Erkrankungen. Vortrag, Beitrag des BMBF zum Workshop „Seltene Erkrankungen im Fokus von Medizin und Politik“ am 22.04.2008 in Berlin. Im Internet: http://www.glaxosmithkline.de/docs-pdf/gesundheitspolitik/080422/08- Vortrag_Wetterauer.pdf Wetterauer, Birgit; Schuster, R. (2008b). Seltene Krankheiten – Probleme, Stand und Entwicklung der nationalen und europäischen Forschungsförderung. Bundesgesundheitsblatt , Bd. 51, S. 519-528. Im Internet: http://dx.doi.org/10.1007/s00103-008- 0524-7 bzw. http://www.springerlink.com/content/0307163846036100/