© 2020 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 045/20 Zum Gefahrenpotential von Ethylenoxid Dokumentation Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 2 Zum Gefahrenpotential von Ethylenoxid Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 045/20 Abschluss der Arbeit: 2. September 2020 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Ethylenoxid 4 3. Einzelne Vorfälle in Chemie-Produktionsanlagen in Europa 7 4. Einschätzung der United States Environmental Protection Agency, EPA 9 5. Zum Gefahrenpotential für Anwohner 9 Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 4 1. Einleitung Für in unmittelbarer Nähe von chemischen Anlagen lebenden Bürgern ergeben sich insbesondere zwei Gefahrenbereiche. Zum einen ist dies die Gefahr von unvorhergesehenen Unfällen und auf der anderen Seite das Ausmaß an Dauerbelastung beispielsweise durch andauernde Emission gesundheitsschädlicher Stoffe. Die Produktion von Ethylenoxid führt aktuell in den USA zu kontroversen Debatten über die vertretbaren Risiken und die Ableitung sinnvoller Grenzwerte.1 Gerade in Hinblick auf den Schutz der Bevölkerung – sehr viel weniger mit Blick auf den Arbeitsschutz – zeigt sich sehr schnell, dass die Datenlage zu diesem Thema sehr dünn ist. Wenn nicht unmittelbar auftretende Schäden wie Verätzungen, Verbrennungen etc. bewertet werden, sondern vielmehr gesundheitliche Beeinträchtigungen , die ggf. erst nach Jahren oder Jahrzehnten (z.B. Krebs) auftreten, muss man diese im Verhältnis zu den seinerzeit emittierten Stoffmengen setzen. Dies kann im Rahmen langfristig angelegter Studien untersucht werden. Derzeit liegen derartige Daten jedoch nur in sehr begrenztem Ausmaß vor. In der vorliegenden Arbeit wird zunächst der Stoff Ethylenoxid vorgestellt und auf gesundheitliche Auswirkungen bei der Aufnahme der Chemikalie verwiesen. Weiterhin werden einzelne Chemie-Unfälle in Europa, bei denen Ethylenoxid beteiligt war, aufgelistet. Sodann wird auf die Neubewertung von Ethylenoxid der United States Environmental Protection Agency (EPA) aus dem Jahr 2016 eingegangen. Abschließend werden Quellen vorgestellt, die sich mit der Frage der Belastung für Anwohner beschäftigen. 2. Ethylenoxid Ethylenoxid (kurz EO) ist ein farbloses, hochentzündliches Gas mit süßlichem Geruch. Bei der Herstellung verschiedener Chemikalien, unter anderem von Ethylenglykol, entsteht Etyhlenoxid als Zwischenprodukt. Ethylenoxid findet Anwendung als Desinfektionsmittel2 für Nahrungsmittel , organische Dämmstoffe (Wolle, Pflanzenfasern), Textilfasern und medizinische Geräte.3 Die Benennung der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) von Ethylenoxid lautet 1,2-Epoxyethan. Des Weiteren wird es als auch Oxiran oder Dimethylenoxid bezeichnet. Historisch gesehen erlangte Ethylenoxid erstmals im Ersten Weltkrieg als Vorläufersubstanz für das Kühlmittel Ethylenglykol sowie als chemische Waffe Bedeutung. Industriell wird Ethylen- 1 Siehe hierzu z.B.: https://www.epa.gov/il/ethylene-oxide-emissions-frequent-questions; https://cen.acs.org/environment /pollution/Ethylene-oxide-less-hazardous-US/98/i20. 2 Ethylenoxidgas tötet Bakterien, Schimmel und Pilze ab. 3 https://www.chemie.de/lexikon/Ethylenoxid.html. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 5 oxid durch die Umsetzung von Ethen und Sauerstoff bei 200 bis 300 °C an einem Silberkatalysator hergestellt.4 In Europa werden (Stand 2011) jährlich 3,8 Mio. Tonnen Ethylenoxid produziert .5 Laut Angaben der GESTIS-Stoffdatenbank6 ist Ethylenoxid giftig und krebserregend. Hauptaufnahmeweg sind die Atemwege und die Haut. Akut wirkt EO reizend (Reizwirkung auf Augen, Atemwege und Haut, Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems). Es wird angenommen, dass eine menschliche Exposition gegenüber EO zu Schäden führen kann, die vererbt werden können.7 In vitro-Experimente8 haben gezeigt, dass EO mit der Erbsubstanz (DNA) reagiert: „Ethylenoxid ist beim Menschen in somatischen Zellen eindeutig gentoxisch. Bei Menschen, die am Arbeitsplatz gegen EO exponiert waren, wurde ab einer Konzentration von 5 ppm (etwa 9,2 mg/m³) eine Erhöhung von Chromosomenaberrationsraten in peripheren Lymphozyten beobachtet . Erhöhte Raten von Mikronuklei waren in allen Studien bei Expositionskonzentrationen über 0,4 ppm (etwa 0,7 mg/m³) zu finden. Über 1 ppm (etwa 1,8 mg/m³) wurde in Studien nahezu durchweg erhöhte Raten an Schwesterchromatidaustauschen beobachtet. Insgesamt waren die Befunde für alle genannten Veränderungen dosisabhängig. Genetische Schäden in Keimzellen wurden im Tierversuch an Ratten und Mäusen nach inhalativer Exposition nachgewiesen. Beschrieben wurden die Induktion von dominanten Letalmutationen und anderen vererbten Mutationen bei den Nachkommen der mit EO behandelten Elterntiere.“9 Die Internationale Agentur für Krebsforschung, kurz IARC,10 stufte Ethylenoxid mit Verweis auf nur begrenzte epidemiologische Daten beim Menschen als Karzinogen ein:11 Es gibt beim Menschen bislang nur wenige Hinweise auf eine ursächliche Assoziation von Ethylenoxid und lymphatischen und hämatopoetische Krebsarten (speziell lymphoide Tumoren, d. h. Non-Hodgkin- Lymphom, multiple Myelom und chronische lymphatische Leukämie) und Brustkrebs. Aller- 4 Ebd. 5 JW Cherrie et al.: Health, socio-economic and environmental aspects of possible amendments tot he EU Directive on the protection of workers from the risks related to exposure to carcino-gens and mutagens at work; IOM Research project P937/12; Mai 2011; https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=10149&langId=en. Seite 1. 6 https://www.dguv.de/ifa/gestis/gestis-stoffdatenbank/index.jsp. Die GESTIS-Stoffdatenbank ist eine frei zugängliche Datenbank chemischer Verbindungen. Herausgeber der Datenbank ist das Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Die GESTIS-Stoffdatenbank enthält Informationen für den sicheren Umgang mit Gefahrstoffen und anderen chemischen Stoffen am Arbeitsplatz. 7 http://gestis.itrust.de/nxt/gateway.dll/gestis_de/000000.xml?f=templates$fn=default.htm$vid=gestisdeu:sdbdeu $3.0. 8 Experimente außerhalb des lebenden Organismus („im Reagenzglas“). 9 http://gestis.itrust.de/nxt/gateway.dll/gestis_de/000000.xml?f=templates$fn=default.htm$vid=gestisdeu:sdbdeu $3.0. 10 Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation; https://www.iarc.fr/. 11 IARC: Ethylene Oxid; IARC Monographs 100F; https://monographs.iarc.fr/wp-content/uploads /2018/06/mono100F-28.pdf. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 6 dings liegen ausreichend experimentelle Nachweise in Tieren für die Kanzerogenität von Ethylenoxid vor. Starke Hinweise existieren, dass die Ethylenoxid gentoxisch wirkt.12 Diese Angaben werden abgeleitet aus Primärpublikationen wissenschaftlicher Studien, auf die in der zitierten Arbeit des IARCs zu jedem einzelnen Befund verwiesen wird.13 Ethylenoxid wurde 2012 von der EU gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 (REACH) im Rahmen der Stoffbewertung in den fortlaufenden Aktionsplan der Gemeinschaft (CoRAP) aufgenommen .14 Im Zuge dieser Bewertung wurden die Auswirkungen des Stoffes auf die menschliche Gesundheit bzw. die Umwelt analysiert und beurteilt. Die Bewertung fand ab 2012 statt und wurde von Österreich (Umweltbundesamt GmbH) durchgeführt. Im anschließend veröffentlichten Abschlussbericht15 wird festgestellt, dass es auf Basis dieser Stoffbewertung notwendig sei, dass eine Diskussion über akzeptable Risikostufen für Arbeitnehmer und die allgemeine Bevölkerung im Hinblick auf das krebserzeugende Potenzial von Substanzen geführt werde. Dies betreffe nicht allein Ethylenoxid. Aus diesem Grunde könne im Rahmen der Arbeit nicht abschließend eine Risikostufenbewertung für Etyhlenoxid vorgenommen werden.16 In einem Zwischenbericht des britischen „Institute of Occupational Medicine“ aus dem Jahr 2011 werden gesundheitsrelevante Aspekte des Arbeitsschutzes im Umgang mit unterschiedlichen kanzerogenen Substanzen beleuchtet. Hier kommen die Autoren zum Schluss, dass es in der EU schätzungsweise etwa fünf Leukämie-Todesfälle jährlich gab (Zeitraum um das Jahr 2000 herum) und etwa acht Krebsregistrierungen, die möglicherweise auf die Exposition gegenüber Ethylenoxid am Arbeitsplatz in den frühen 1980er Jahren zurückzuführen sind. Dies entspricht etwa 0,012% aller Todesfälle durch Leukämie. Die Autoren schätzen, dass bereits seit ca. 20 Jahren ein Grenzwert (occupational exposure limit, OEL) von 1,8 mg/m3 eingehalten werde. Daher gebe es ab 2010 keine zurechenbaren Registrierungen oder Todesfälle mehr.17 Im Jahr 2017 erschien ein Artikel im British Journal of Cancer, in dem auf arbeitsplatzbedingte Krebserkrankungen aufgrund der Exposition gegenüber verschiedener Chemikalien eingegangen wird.18 Während für verschiedene Chemikalien Indizien für die Einführung von Grenzwerten abgeleitet werden, stellen die Autoren in Hinblick auf Ethylenoxid fest, dass hierfür keine Todesfälle aufgrund früherer 12 In Abhängigkeit von der Dosis wurde eine Erhöhung der Häufigkeit von durch Ethylenoxid abgeleiteten Hämoglobinaddukte bei exponierten Menschen und Nagetieren beobachtet, ebenso wie eine dosisabhängige Erhöhung der Häufigkeit von durch Ethylenoxid bedingten DNA-Addukten in exponierten Nagetieren. 13 https://monographs.iarc.fr/wp-content/uploads/2018/06/mono100F-28.pdf. 14 https://echa.europa.eu/de/information-on-chemicals/evaluation/community-rolling-action-plan/corap-table/- /dislist/details/0b0236e1807e3c4e. 15 Ebd. 16 Ebd., Seite 10. 17 JW Cherrie et al.: Health, socio-economic and environmental aspects of possible amendments tot he EU Directive on the protection of workers from the risks related to exposure to carcino-gens and mutagens at work; IOM Research project P937/12; Mai 2011; https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=10149&langId=en. 18 https://www.nature.com/articles/bjc2017161. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 7 oder zukünftiger Expositionen abgeleitet werden könnten. Unter Berücksichtigung gesundheitlicher , sozioökonomischer und ökologischer Auswirkungen wird für die Einführung eines occupational exposure limit (OEL) von 1 ppm (1,8 mg/m3) plädiert. Die Autoren weisen darauf hin, dass es keine zusätzlichen Kosten verursachen würde, diesen Wert festzulegen. Es führe allerdings auf der anderen Seite auch nicht zu Gesundheitsvorteilen, da der Wert bereits eingehalten werde.19 Über die Expositionsgrenzwerte für Anwohner wurden hierin keine Angaben gefunden. Bei der Betrachtung der Grenzwerte für Anwohner ist zu beachten, dass es sich hierbei um eine Dauerbelastung (24 Stunden) handelt und Grenzwerte, anders als beim Schutz von Arbeitern, auch den Schutz von Personengruppen wie Älteren, Kranken, Schwangeren und Kindern mit einbeziehen müssen. 3. Einzelne Vorfälle in Chemie-Produktionsanlagen in Europa Unfälle in Chemie-Produktionsanalgen können zu Vergiftungen und Todesfällen nicht nur von Mitarbeitern, sondern prinzipiell auch zu Beeinträchtigungen bei Anwohnern führen. Unter den größten bzw. folgenschwersten Unfällen der letzten Jahrzehnte finden sich auch einzelne Unfälle in Ethylenoxid-Anlagen oder in Anlagen, in denen EO verwendet wurde. Nachfolgend findet sich eine Auflistung europäischer Vorfälle der letzten Jahrzehnte. Mit Ausnahme eines Falles, bei dem ein Anwohner nach einer Explosion durch ein Metallteil erschlagen wurde, konnten keine Angaben gefunden werden, dass in direktem Zusammenhang mit Unfällen – nicht etwa mit einer unfallunabhängigen Dauerbelastung – Anwohner unmittelbar getötet wurden. Tarragona Tarragona ist eine Hafenstadt in Katalonien im Nordosten Spaniens. In einer Chemiefabrik kam es am 15. Januar 2020 gegen 19 Uhr zu einer Explosion in einem Tank, der mit Ethylenoxid gefüllt war. Hierbei wurden drei Menschen getötet, einer von ihnen war ein Mann, der in seiner drei Kilometer von der Fabrik entfernten Wohnung durch eine Metallplatte, die durch die Explosion durch die Luft geschleudert wurde, erschlagen wurde. Kurze Zeit nach der Explosion wurde durch die Behörden vor giftigen Dämpfen gewarnt, die Warnung wurde wenig später durch den Zivilschutz aufgehoben.20 Moerdijk Moerdijk ist eine Gemeinde in den Niederlanden. Am 1. Juni 2014 kam es in einer Chemiereaktoranlage einer Raffinerie der Firma Shell zu einer Explosion. Die Anlage war zum damaligen Zeitpunkt wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet. Es wurden zwei Mitarbeiter verletzt. Die Anlage wurde erst nach Reparaturarbeiten Ende 2015 wieder angefahren.21 Bei der Explosion wurde 19 JW Cherrie et al.: Health, socio-economic and environmental aspects of possible amendments tot he EU Directive on the protection of workers from the risks related to exposure to carcino-gens and mutagens at work; IOM Research project P937/12; Mai 2011; https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=10149&langId=en. 20 https://www.chemie.de/news/thema/ethylenoxid/. 21 https://www.k-aktuell.de/branche/shell-gerichtliches-nachspiel-wegen-moerdijk-explosion/. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 8 auch der Stoff Ethylbenzol (nicht Ethylenoxid) freigesetzt.22 Nach Presserecherchen konnte eine Freisetzung von Ethylenoxid nicht gefunden werden. Allerdings werden dem Unternehmen zu hohe Emissionen von Ethylenoxid in den Jahren 2015 und 2016 vorgeworfen.23 Stenungsund Stenungsund ist ein Ort in Schweden, der nördlich von Göteborg liegt. Schwedischen Pressemeldungen zufolge ist in einer Chemiefabrik in Stenungsund 2011 Ethylenoxid ins Meer gelangt. Ein Bauleiter bezeichnete das Leck, durch das 32 Tonnen giftiges Gas ins Wasser geleitet wurde, als „sehr schwerwiegend“. Umweltexperten und Toxikologen des Unternehmens wurden beauftragt, die Ausbreitung der Chemikalie und ihre Auswirkungen auf Meeresorganismen zu untersuchen. Der Landkreis hatte angekündigt, eine Anzeige gegen das Unternehmen wegen mutmaßlicher Umweltverstöße einzureichen.24 Eine weitergehende Analyse, inwiefern Umweltauswirkungen auf die Meereswelt festgestellt wurden, konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ermittelt werden. Antwerpen Im Jahr 1989 (am 7. März 1989) kam es in einer Anlage der Firma BASF in Antwerpen zu einer Ethylenoxid-Explosion. Ursache war durch einen Riss austretendes Ethylenoxid.25 Laut Angaben einer Publikation, in der die 319 schwerwiegendsten Industrieunfälle seit 1927 auflistet werden, wurden bei diesem Explosions-Unfall elf Personen verletzt und 32 getötet.26 Zwei Jahre zuvor (4. Juli 1987) kam es ebenfalls in Antwerpen zu einer Explosion in einer BP Chemiefabrik. Laut einer Studie aus dem Jahr 199127 wurden vierzehn Personen im Krankenhaus behandelt, keiner war allerdings schwerwiegend verletzt. 22 https://www.spiegel.de/panorama/verletzte-bei-explosion-und-brand-in-chemiewerk-von-shell-in-moerdijk-a- 973253.html. 23 https://www.kunststoffweb.de/branchen-news/shell_gerichtliches_nachspiel_wegen_moerdijk-explosion _t242021. 24 https://sverigesradio.se/sida/artikel.aspx?programid=2054&artikel=4513994. 25 Morongowski Sachverständige, Fallbeispiele: https://www.morongowski.com/referenzen/fallbeispiele/; siehe auch: Explosion of EO/EG manufacturing facilities at BASF Antwerp factory; BASF sha Antowapu kojo EO/EG seizo sochi bakuhatsu jiko. Japan: N. p., 1995. Web. https://www.osti.gov/etdeweb/biblio/52125. 26 Michailidou, E. et al. (2012). The 319 Major Industrial Accidents since 1917. International Review of Chemical Engineering. Rapid Communications (I.RE.CH.E.). 4. 1-12. 27 Mellin, B.E.: Ethylene oxide plant explosion, 4 July 1987, BP Chemicals, Antwerp, Belgium, Loss Prevention Bulletin 100. https://de.scribd.com/document/138062335/LPB-100-1991-Ethylene-Oxide-Plant-Explosion-3-Jul- 1987-BP-Chemicals-in-Belgium. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 9 4. Einschätzung der United States Environmental Protection Agency, EPA Die EPA hat 2016 eine Bewertung der Inhalationskarzinogenität von Ethylenoxid publiziert. Diese Bewertung befasst sich mit der potenziellen Karzinogenität einer langfristigen Inhalationsexposition gegenüber Ethylenoxid. Auf Grundlage dieser Analyse wurden Informationen zur Kanzerogenität von Ethylenoxid von 1985 aktualisiert.28 In der Neubewertung heißt es, dass die mutagene, krebserregende und tumorinduzierende Wirkung von Ethylenoxid als erwiesen gilt. Bei Menschen, die in Ethylenoxid-Produktionsstätten und in Sterilisationsanlagen beschäftigt seien, gebe es starke Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko für das lymphohämatopoetische System und für Brustkrebs bei Frauen. Basierend auf den Untersuchungen kommt die EPA zum Schluss, dass die Ethylenoxidkonzentration, die mit einem 1:1-Millionen-Krebsrisiko für eine lebenslange kontinuierliche Exposition verbunden ist, 0,0002 µg/m3 betrage29 und die Ethylenoxidkonzentration, die mit einem 100-in-einer-Million-Krebsrisiko für eine lebenslange kontinuierliche Exposition verbunden ist, 0,02 µg/m3 betrage.30 Im Mai 2020 wurde berichtet, dass Texas die Einschätzungen der EPA kritisiere und Ethylenoxid für weniger gefährlich halte.31 Am 15. Mai legte die Texas Commission on Environmental Quality (TCEQ) ein höheres Risiko-Screening-Niveau für Ethylenoxid fest, das über ein Leben hinweg kumulativ inhaliert werden kann.32 Im Februar dieses Jahres hingegen hatten elf Bundesstaaten in den USA von der EPA strengere Vorschriften für kommerzielle Nutzung von Ethylenoxid gefordert .33 5. Zum Gefahrenpotential für Anwohner Für Anwohner spielen zwei Gefahrenquellen eine wesentliche Rolle. Zum einen ist dies die Gefahr bei Unfällen in der Produktionsanlage in irgendeiner Form zu Schaden zu kommen. Diesem Risiko soll durch einen ausreichenden Notfallschutz begegnet werden. Wie die vorhergehende Darstellung gezeigt hat, sind Unfälle in Ethylenoxid-Produktionsanlagen auch in Europa bereits 28 U.S. EPA. Evaluation of the Inhalation Carcinogenicity of Ethylene Oxide (Final Report). U.S. Environmental Protection Agency, Washington, DC, EPA/635/R-16/350F, 2016. https://cfpub.epa.gov/ncea/iris_drafts/recordisplay .cfm?deid=329730. 29 Ein Krebsrisiko von 1 zu 1 Million bedeutet, dass eine Person wahrscheinlich an Krebs erkrankt, wenn 1 Million Menschen über 70 Jahre (eine angenommene Lebensdauer) kontinuierlich (24 Stunden pro Tag) derselben Schadstoffkonzentration ausgesetzt sind. 30 https://www.epa.gov/il/ethylene-oxide-emissions-frequent-questions. 31 https://cen.acs.org/environment/pollution/Ethylene-oxide-less-hazardous-US/98/i20. 32 Ebd. 33 https://www.medicaldesignandoutsourcing.com/11-states-ask-epa-to-crack-down-on-ethylene-oxide-emissions/. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 10 vorgekommen. Inwiefern aufgrund von einem Unfall und einer daraus resultierenden länger andauernden inhalativen Belastung gesundheitliche Schäden bei den Anwohnern eingetreten sind, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht ermittelt werden. Es wurden keinerlei Datenerhebungen zu Belastungsprofilen im Anschluss von Unfällen sowie parallele Gesundheitsprofilerstellungen gefunden. Die zweite Gefahrenquelle für Anwohner besteht in der Dauerbelastung durch Ethylenoxid. Nach Untersuchungen der EPA beträgt in den USA die durchschnittliche Hintergrundkonzentration in der Nähe bekannter EO-Quellen 0,0044 μg/m3.34 Unter Berufung auf Daten der EPA („EPA Toxics Release Inventory“) findet sich in einem Artikel der Zeitschrift „Chemical & Engineering News“35 eine Darstellung der Emissionen der acht größten Ethylenoxid Emittenten der USA. Hiernach sind die Größenordnungen sehr unterschiedlich: Im Jahr 2017 war Huntsman Petrochemical in Texas mit 18,42 kg emittierten Ethylenoxid der mit Abstand größte EO-Emittent der USA: 36 34 NATA 2005-Daten, http://www.epa.gov/ttn/atw/nata2005/tables.html. 35 Internationale Chemische Fachzeitschrift 36 Quelle: https://cen.acs.org/environment/pollution/time-crack-down-ethylene-oxide/97/i38. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 11 Auf den Internetseiten der Umweltbehörde EPA37 findet sich die Einschätzung, dass selbst eine geringe Exposition gegenüber einem Karzinogen (wie Ethylenoxid), wie sie beispielweise bei Anwohnern gegeben ist, ein gewisses Krebsrisiko bedeuten könnte. Auf der Webplattform Bloomberg Law erschien 2019 ein Artikel zu den stärksten Ethylenoxid Emittenten in den USA.38 In diesem Artikel wird darauf hingewiesen, dass die „Agency for Toxic Substances and Disease Registry “ (Teil des „Department of Health and Human Services“) im Auftrag der EPA 2018 festgestellt habe, dass die Freisetzung von Ethylenoxid in Illinois ein „erhöhtes Krebsrisiko“ für die Bewohner und externen Mitarbeiter in der Gemeinde darstelle. Der Bericht hatte dazu geführt, dass strengere Maßnahmen angemahnt wurden und schließlich die entsprechende Produktionsanlage stillgelegt worden war, nachdem weitere Luftqualitätsprüfungen durch die US-Umweltschutzbehörde ergeben hatten, dass sich die Freisetzung von Ethylenoxid an bestimmten Tagen im Vergleich zu früheren Ergebnissen mehr als verdoppelt hatte. Im Januar 2020 erschien eine wissenschaftliche Arbeit zur Quantifizierung der Ethylenoxidexposition basierend auf Umgebungsluftmessungen in der Nähe einer Sterilisationsanlage in den USA.39 Die Wissenschaftler kommen zu dem Schluss, dass nach ihren Schätzungen die maximale 24-Stunden-Exposition gegenüber durch diese spezifische untersuchte Sterilisationsanlage produzierten Ethylenoxid in den angrenzenden Stadtteilen 1,83 µg/m3 über dem Hintergrundniveau lag. Dies bedeute ein zusätzliches Krebsrisiko von ungefähr einem unter hundert Personen, falls man davon ausgehe, dass die gemessenen Werte jährliche mittlere Expositionswerte darstellten. Inwiefern und in welchem Umfang es baulich möglich ist, Emissionen niedrig zu halten oder sogar gänzlich zu verhindern, konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ermittelt werden.40 Mit größerer Distanz zur Emissionsquelle sinkt die Ethylenoxid-Konzentration deutlich ab. Dies wurde in der zitierten Arbeit vom Januar 2020 in einer Grafik verdeutlicht, die nachfolgend abgebildet wird41: 37 https://www.epa.gov/il/ethylene-oxide-emissions-frequent-questions. 38 https://news.bloomberglaw.com/environment-and-energy/largest-sources-of-cancer-causing-ethylene-oxide-gounnoticed . 39 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6981767/. 40 Im Zusammenhang mit der Neuansiedlung einer Ethylenoxid-Anlage im Stadtteil Lülsdorf in Niederkassel gibt die zuständige Firma (Duisburger Chemiekonzern PCC) an, dass die geplante Ethylenoxid-Anlage und das - Tanklager geschlossene Systeme sein werden, deren Konstruktion Emissionen verhindere. In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen dieses realisierbar ist, wurde im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht und bewertet. (https://www.pcc-luelsdorf.de/das-projekt/) 41 Quelle: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6981767/pdf/ijerph-17-00042.pdf. Seite 3. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 12 Laut Angaben des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit42 ist das Gefahrenpotenzial das von Anlagen ausgeht, in denen Ethylenoxid vorhanden ist, aufgrund der Eigenschaften des Stoffes und in Abhängigkeit der Größe der Anlagen als hoch einzuschätzen . Ab einer Mengenschwelle von 5.000 kg Ethylenoxid insgesamt in Anlagen eines Betreibers unterliege dieser Betriebsbereich dem Anwendungsbereich der 12. BImSchV43, der sogenannten Störfallverordnung. So liege nach BImSchG und Störfallverordnung ein Betriebsbereich der sogenannten unteren Klasse vor, wenn in einer oder mehreren Anlagen eines Betreibers, die in Zusammenhang betrieben werden, 5.000 kg oder mehr an Ethylenoxid vorhanden sind oder vorgesehen sind oder vorhanden sein können. Ab 50.000 kg oder mehr handele es sich um einen Betriebsbereich der oberen Klasse, d.h. der Betreiber hat zusätzliche, weitergehende Anforderungen zu erfüllen. Zu den zentralen Anforderungen der Störfallverordnung zählen: „1. Der Betreiber hat nach Art und Ausmaß der möglichen Gefahren die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um Störfälle zu verhindern. 42 Angaben vom 31. August 2020. 43 Erste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes; https://www.gesetze-im-internet .de/bimschv_1_2010/. Wissenschaftliche Dienste Dokumentation WD 8 - 3000 - 045/20 Seite 13 2. Darüber hinaus sind vorbeugend Maßnahmen zu treffen, um Auswirkungen von Störfällen so gering wie möglich zu halten. 3. Die Beschaffenheit und Betrieb der Anlagen des Betriebsbereichs müssen dem Stand der Sicherheitstechnik entsprechen. 4. Der Betreiber eines Betriebsbereichs der oberen Klasse ist verpflichtet, interne Alarm- und Gefahrenabwehrpläne zu erstellen. 5. Die zuständige Behörde hat ein Überwachungssystem einzurichten. 6. Die zuständigen Behörden haben externe Alarm- und Gefahrenabwehrpläne gemäß Landesrecht aufzustellen. Zusätzlich sind nach § 50 BImSchG bei raumbedeutsamen Planungen und Maßnahmen, die für eine bestimmte Nutzung vorgesehenen Flächen einander so zuzuordnen, dass schädliche Umwelteinwirkungen und von schweren Unfällen in Betriebsbereichen hervorgerufene Auswirkungen auf die ausschließlich oder überwiegend dem Wohnen dienenden Gebiete sowie auf sonstige schutzbedürftige Gebiete so weit wie möglich vermieden werden. Diese Anforderung kann im Rahmen der Bauplanung in Form von Sicherheitsabständen zwischen entsprechenden Anlagen in Betriebsbereichen und sogenannten Schutzobjekten, wie Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten , Versammlungsstätten, umgesetzt werden.“44 Von verschiedenen Seiten wird seit einiger Zeit darauf hingewiesen, dass die Datenlage zur Bewertung der Gefahren für die Bevölkerung zu dünn sei, um umfangreiche und allgemeingültige Aussagen zu treffen. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat bereits 2003 eine Arbeit zu Ethylenoxid publiziert, in der unter anderem der Frage nach umweltbedingter Exposition von Menschen gegenüber Ethylenoxid nachgegangen wird. Es wird darauf hingewiesen, dass die Datenlage zu Ethylenoxidkonzentration in der Umgebungsluft sehr limitiert sei, so dass allgemeingültige Schätzungen zur Exposition der Bevölkerung nicht gegeben werden könnten.45 Auch in der im Auftrag der EU durchgeführten Stoffbewertung von Ethylenoxid durch Österreich aus dem Jahr 2012 wird darauf hingewiesen, dass eine Risikostufenbewertung für die allgemeine Bevölkerung im Hinblick auf das krebserzeugende Potenzial von Ethylenoxid nicht abschließend vorgenommen werden könne. *** 44 Informationen des BMU vom 31. August 2020. 45 https://www.who.int/ipcs/publications/cicad/en/cicad54.pdf?ua=1, Seite 11.