© 2020 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 043/20 Zur Bestimmung der charakteristischen Arten bei der Aufstellung von Vogelschutzgebieten Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 043/20 Seite 2 Zur Bestimmung der charakteristischen Arten bei der Aufstellung von Vogelschutzgebieten Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 043/20 Abschluss der Arbeit: 7. September 2020 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 043/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur Ausweisung von Schutzgebieten nach der Vogelschutz-Richtlinie 4 3. Zum Verhältnis von Artenhilfsprogrammen und Vogelschutzgebieten 6 3.1. Schutzstatus des Birkhuhns im Vogelschutzgebiet Westerzgebirge 6 3.2. Artenhilfsprogramme 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 043/20 Seite 4 1. Einleitung Die Richtlinie 2009/147/EG über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (Vogelschutz-RL)1 verpflichtet die Mitgliedstaaten, für die in Anhang I der Richtlinie aufgeführten Vogelarten besondere Schutzmaßnahmen anzuwenden. Zu den in Anhang I aufgeführten besonders geschützten Vogelarten gehört auch das Birkhuhn (Tetrao tetrix), von dem nach der aktuellen Bestandsaufnahmen (aus den Jahren 2011-2016) in Deutschland noch etwa 850-1300 Exemplare leben.2 Außerhalb der Alpen liegt ein Schwerpunkt des Vorkommens im Erzgebirge. Vor diesem Hintergrund ist in Sachsen im Jahr 2019 ein Artenschutzprogramm für das Birkhuhn aufgestellt worden .3 Die dort vorgesehenen Maßnahmen betreffen vor allem Gebiete, die als europäisches Vogelschutzgebiet gemeldet sind, wobei in den Erhaltungszielen auch andere Vogelarten genannt werden . Im Folgenden werden daher zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ausweisung von Vogelschutzgebieten und die Bestimmung der für ein Gebiet charakteristischen Arten dargestellt . Zudem wird allgemein auf das Verhältnis von Artenschutzprogrammen und Vogelschutzgebieten eingegangen. 2. Zur Ausweisung von Schutzgebieten nach der Vogelschutz-Richtlinie Art. 4 Absatz 1 der Vogelschutz-RL verpflichtet die Mitgliedstaaten, die für die Erhaltung geschützter Vogelarten zahlen und flächenmäßig geeignetsten Gebiete zu Schutzgebieten zu erklären . Dabei sind die Schutzerfordernisse in den geografischen Gebieten, die zu den Mitgliedstaaten der EU gehören, zu berücksichtigen. Zur Erfüllung dieser Pflicht ist es nicht zwingend notwendig, alle Gebiete unter Schutz zu stellen , in denen solche bedrohten Vogelarten vorkommen. Ausreichend ist vielmehr, die Landschaftsräume auszuwählen, die am besten die Gewähr für die Verwirklichung der Richtlinienziele bieten.4 Die Auswahl hat allein anhand naturschutzfachlicher Kriterien zu erfolgen.5 Hierzu 1 Verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009L0147&from=DE. 2 B. Gerlach u.a., Vögel in Deutschland – Übersichten zur Bestandssituation, 2019, verfügbar unter: https://www.bfn.de/fileadmin/BfN/monitoring/Dokumente/ViD_Uebersichten_zur_Bestandssituation.pdf. 3 Landesamt Umwelt, Landwirtschaft und Geologie des Freistaates Sachsen, Artenschutzprogramm Birkhuhn für den Freistaat Sachsen, 2019, verfügbar unter: https://www.umwelt.sachsen.de/umwelt/download/Artenschutzprogramm Birkhuhn_LfULG-SBS-SMUL_Endfassung_Versi.pdf. 4 OVG Lüneburg, Urteil vom 21.5.2019, 4 KN 141/17 – juris, Rn. 55; Martin Beckmann, Zur nachträglichen Einbeziehung weiterer Vogelarten in den Schutz eines faktischen Vogelschutzgebietes, NuR 2020, S. 289. 5 Ständige Rechtsprechung seit EuGH, Urteil vom 2.8.1993, Rs. C-355/90 – Santoña, Slg. 1993, I-4221; Michael Heugel, in Lütke/Ewer, BNatSchG, 2. Auflage 2018, § 32 Rn. 3. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 043/20 Seite 5 gehören Gesichtspunkte wie die Seltenheit, Empfindlichkeit, Gefährdung und Erhaltungsperspektiven einer Vogelart, die Populationsdichte und Artenvielfalt eines Gebietes, sein Entwicklungspotential und seine Verknüpfung mit anderen Schutzgebieten.6 Wenn der Lebensraum einer regionalen Population einer schützenswerten Art die Grenzen zwischen zwei Mitgliedstaaten der EU überschreitet, ist für die naturschutzfachliche Beurteilung eine grenzüberschreitende Betrachtung geboten.7 Ein einseitiger Verweis, dass die Art auch durch den anderen Mitgliedstaat geschützt werden könnte, würde die Zielvorgaben des europäischen Rechts daher nicht erfüllen. Für die Frage, für welche Arten ein Schutzgebiet ausgewiesen worden ist und wie die Erhaltungsziele definiert werden, ist zunächst der sogenannte „Standarddatenbogen“ von Bedeutung, den die Mitgliedstaaten der EU-Kommission im Zuge der Meldung von Vogelschutzgebieten übermitteln. Dabei kann ein Mitgliedstaat im Zuge der Auflistung der im Gebiet vorkommenden Arten eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenvorkommen treffen. So hatte Rheinland-Pfalz in einem vom OVG Koblenz entschiedenen Fall bei der Ausweisung eines Vogelschutzgebietes bestimmte Hauptvorkommen von Vogelarten festgelegt, die für die Bestimmung der Erhaltungsziele charakteristisch waren. Für die übrigen geschützten Arten waren andere Schutzgebiete ausgewiesen worden.8 Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Rechtsauffassung in einem Beschluss, in dem die Nichtzulassung der Revision bestätigt wurde, gebilligt.9 Nach Abschluss der Schutzgebietsmeldungen sind die zuständigen Stellen verpflichtet, die weitere Entwicklung zu beobachten und neuere Erkenntnisse zu berücksichtigen. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass eine Nachmeldung von Vogelarten bzw. Gebieten erfolgen muss. Die Anforderungen an die Begründung einer Nachmeldung sind bislang nicht abschließend geklärt. Umstritten ist insbesondere, ob bereits eine Erhöhung von Bestandszahlen einer bislang nicht als wertbestimmend gemeldeten Vogelart eine Nachmeldung rechtfertigen kann oder ob besondere weitere Umstände hinzutreten müssen.10 Praktische Bedeutung hat dies insbesondere, wenn eine Nachmeldung private Grundstückeigentümer in ihrer Nutzung eines Grundstückes beschränkt. In Natura 2000-Gebieten sind Projekte, die geeignet sind, das Gebiet erheblich zu beeinträchtigen, und nicht unmittelbar der Verwaltung des Gebietes dienen, vor ihrer Zulassung oder Durchführung auf die Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen zu überprüfen (§ 34 Absatz 1 BNatSchG). Kann das Projekt zu erheblichen Beeinträchtigungen des Gebietes in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen, ist es in der Regel unzulässig 6 Beckmann (Anm. 4), S. 289 f. 7 Im Kontext der in diesem Punkt parallelen FFH-Richtlinie EuGH Urteil vom 10. Oktober 2019, Rs. C-674/17 – Tapiola, Rn. 58 ff. 8 OVG Koblenz, Urteil vom 8.11.2007, 8 C 11523/06 – juris, Rn. 76 f. 9 BVerwG, Beschluss vom 17.7.2008, 9 B 15.08, https://www.bverwg.de/170708B9B15.08.0, Rn. 12, 31. 10 Beckmann (Anm. 4), S. 291, 292 f. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 043/20 Seite 6 (§ 34 Absatz 2 BNatschG). Ausnahmen sind aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses möglich (§ 34 Absatz 3 BNatschG). Sind auch prioritäre Arten betroffen, können als Gründe nur solche im Zusammenhang mit der Gesundheit des Menschen, der öffentlichen Sicherheit oder den maßgeblich günstigen Auswirkungen des Projektes auf die Umwelt berücksichtigt werden (§ 34 Absatz 4 Satz 1 BNatSchG).11 Stehen mehrere Erhaltungsziele in einem potentiellen Konflikt , ist auf Grundlage von fachlichen Kriterien ein möglichst schonender Ausgleich zu erreichen .12 3. Zum Verhältnis von Artenhilfsprogrammen und Vogelschutzgebieten 3.1. Schutzstatus des Birkhuhns im Vogelschutzgebiet Westerzgebirge Das Vogelschutzgebiet Westerzgebirge ist 2006 durch Verordnung des Regierungspräsidiums Chemnitz eingerichtet worden.13 Diese Verordnung ist 2012 unverändert in die Grundschutzverordnung Sachsen für Vogelschutzgebiete übernommen worden.14 Als vorkommende Vogelarten, für die ein günstiger Erhaltungszustand erreicht werden soll, werden genannt: Auerhuhn (Tetrao urogallus) , Bekassine (Gallinago gallinago) , Neuntöter (Lanius collurio) , Raufußkauz (Aegolius funereus) , Schwarzspecht (Dryocopus martius) und Sperlingskauz (Glaucidium passerinum) . Die Formulierung in § 3 Absatz 1 der VO ist aufgrund des Verweises auf den Stand 1999 ausdrücklich eine tatsächliche Bestandsaufnahme. Daraus lässt sich schließen, dass keine dauerhaft wirkende Beschränkung der zu schützenden Arten erfolgt ist. Zudem ist die Bestandsaufnahme offensichtlich nicht an Veränderungen angepasst worden, so dass mit dem Auerhuhn auch eine mittlerweile wohl nicht mehr vorkommende Art weiterhin genannt wird. Ob das Schutzgebiet „Westerzgebirge“ für den Schutz des Birkhuhns zu den am besten geeignetsten Gebieten gehört und damit eine Ausweisung nach der Vogelschutz-RL geboten wäre, ist eine naturschutzfachliche Frage, die im Rahmen dieser Arbeit nicht beurteilt werden kann. Einen Anhaltspunkt für die naturschutzfachliche Einschätzung der zuständigen Behörden bietet der im Mai 2015 aktualisierte Standarddatenbogen für das Schutzgebiet „Westerzgebirge“, der im Internet veröffentlicht ist. Unter den aufgelisteten Arten wird dort auch das Birkhuhn genannt. 11 Sollen ausnahmsweise andere zwingende Gründe des öffentlichen Interesses berücksichtigt werden, ist zunächst eine Stellungnahme der Europäischen Kommission einzuholen. 12 Zur Berücksichtigung konkurrierender Erhaltungsziele im Artenschutzprogramm Birkhuhn (Anm. 3) vgl. die Erwägungen auf S. 65 ff. 13 Verordnung des Regierungspräsidiums Chemnitz zur Bestimmung des Europäischen Vogelschutzgebietes „Westerzgebirge “ vom 2. November 2006 (SächsABl. SDr. S. S 205). 14 Vgl. die Anlage zur Grundschutzverordnung Sachsen für Vogelschutzgebiete vom 26. November 2012 (SächsABl. S. 1513), Lfd-Nr. 70, https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/12636-Grundschutzverordnung- Sachsen-fuer-Vogelschutzgebiete#x4. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 043/20 Seite 7 Eine Differenzierung zwischen für die Erhaltungsziele charakteristischen Vogelarten und anderen vorkommenden Arten wird jedoch soweit ersichtlich nicht vorgenommen.15 Soweit ein Gebiet als Schutzgebiet nach der der Vogelschutz-RL ausgewiesen werden muss, gilt Folgendes: Aufgrund des Vorrangs des europäischen Unionsrechts gehen die Verpflichtungen aus der Vogelschutz-RL entgegenstehenden nationalen Rechtsvorschriften vor. Zudem ist das innerstaatliche Recht soweit wie möglich richtlinienkonform auszulegen. Eine formelle Änderung des nationalen Rechts ist für die Anwendbarkeit unionaler Regelungen nicht notwendig. Allerdings dürfte es schon aus Gründen des im Rechtstaatsprinzip wurzelnden Gebots der Normenklarheit wünschenswert sein, eine unklare innerstaatliche Rechtslage zu bereinigen. 3.2. Artenhilfsprogramme Bei sogenannten Artenhilfsprogrammen oder Artenschutzprogrammen handelt es sich nicht um Rechtsnormen, sondern um eine Aufstellung von Schutz-, Pflege- und Entwicklungszielen für bestimmte Arten und der zu ihrer Umsetzung erforderlichen praktischen und rechtlichen Maßnahmen . Sie sind ein mögliches Instrument, mit dem die Abstimmung verschiedener Maßnahmen und das Zusammenwirken verschiedener Akteure erreicht werden kann. Ihre Grundlage finden sie in Art. 38 Absatz 2 Satz 1 BNatSchG. Rechtliche Bedeutung können Artenhilfsprogramme erhalten , da aus ihnen die naturschutzfachlichen Einschätzungen der zuständigen Behörden erkennbar werden. Dies erzeugt jedenfalls einen Begründungsbedarf, wenn von diesen Einschätzungen zu einem späteren Zeitpunkt abgewichen werden soll. *** 15 Standard-Datenbogen für das Gebiet Westerzgebirge, Code DE5441451, zuletzt aktualisiert Mai 2015, https://www.natura2000.sachsen.de/download/spa/SPA_SDB_77_5441_451.pdf, S. 4.