© 2020 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 032/20 Zur Bewertung des COVID-19-Infektionsgeschehens: Ausgewählte Quellen und Institutionen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 2 Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 032/20 Abschluss der Arbeit: 26.05.2020 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Robert Koch-Institut (RKI) 4 2.1. Zur Anzahl durchgeführter Tests auf eine bestehende COVID-19 Infektion 5 2.2. Zu Sterblichkeitszahlen 8 2.3. Zur Empfehlung des Tragens von Masken 10 2.4. Zu Obduktionen 12 3. Quellen zu COVID-19-Infektion 12 3.1. Zusammenstellungen von Primärliteratur aus der Wissenschaft 13 3.2. Datenquellen 13 3.3. Stellungnahmen wissenschaftlicher Organisationen und Verbände 15 3.3.1. Akademien 15 3.3.2. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen 17 3.4. Stellungnahme des Deutschen Ethikrat 18 3.5. Die Weltgesundheitsorganisation, WHO 19 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 4 1. Einleitung Die durch das neuartige Virus SARS-CoV2 ausgelöste Infektionskrankheit Corona hat sich in den vergangenen Monaten weltweit verbreitet (Pandemie). Aufgrund der hohen Infektiosität und der schwerwiegenden Krankheitsverläufe stellt die Krankheit global eine Gefährdung für die Bevölkerung dar. Daher ist es notwendig, Vorhersagen über die Entwicklung des Gefährdungspotenzials abzuleiten. Derartige als Gefahrenprognosen bezeichnete Einschätzungen werden von Gefahrenanalysen durch unterschiedliche Fachleute und Fachdisziplinen begleitet. In der derzeitigen Pandemielage kommt der Gefahrenprognose und den daraus resultierenden Empfehlungen und Maßnahmen eine zentrale Bedeutung zu. Aktuell werden diese Maßnahmen immer häufiger in Frage gestellt. Die in Deutschland für Krankheitsüberwachung und -prävention zuständige oberste Bundesbehörde, das Robert Koch-Institut (RKI), gerät dabei immer wieder in die Kritik. Aber auch die am Gefahrenprognoseprozess beteiligten Fachleute/Wissenschaftler sowie die Wissenschaft im Allgemeinen werden mitunter in ihrer Kompetenz in Frage gestellt. In der vorliegenden Dokumentation wird zunächst das Robert Koch-Institut vorgestellt und auf einzelne Kritikpunkte, die derzeit in verschiedenen sozialen Medien zu finden sind, eingegangen . Diese betreffen die Entwicklung und Kommunikation der durchgeführten Tests auf das SARS-CoV2 Virus in Deutschland und die kommunizierten Sterblichkeitsraten. Des Weiteren wird auf Empfehlungen zum Tragen von Masken im öffentlichen Raum eingegangen sowie darauf , dass vom RKI in der frühen Phase der Pandemie von Obduktion abgeraten worden war. Dies wurde allerdings mittlerweile zurückgenommen, nachdem neue Erkenntnisse vorlagen.1 Im zweiten Teil der Arbeit (Kapitel 3) wird auf eine Auswahl belastbarer Quellen zur aktuellen Corona-Pandemie eingegangen. Zunächst wird hier ein Beispiel der Zusammenstellung von wissenschaftlicher Primärerkenntnis, wie es von einer der führenden wissenschaftlicher Fachzeitschriften , Nature, angeboten wird, benannt. Zudem werden öffentlich zugängliche Datenquellen vorgestellt, in denen sich nicht nur weltweit gesammelte Rohdaten abrufen lassen, sondern diese auch visualisierbar sind. Im abschließenden Teil der Arbeit wird auf verschiedene Quellen für Stellungnahmen und Empfehlungen zur Pandemie eingegangen aus den Sektoren: (a) Wissenschaft , (b) Ethik (Ethikrat), (c) internationales Gesundheitswesen/Vereinte Nationen (World Health Organisation, WHO). 2. Robert Koch-Institut (RKI) Das Robert Koch-Institut (RKI) wurde 1891 als „Königlich Preußisches Institut für Infektionskrankheiten “ gegründet und 1942 nach seinem ersten Leiter in Robert Koch-Institut umbenannt. Seit der Auflösung des Bundesgesundheitsamtes im Jahr 1994 ist es eine obere Bundesbehörde 1 Die aktuellen Empfehlungen sind im Internet unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges _Coronavirus/Verstorbene.html abrufbar. Bis zur Mitteilung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie e.V. am 7. April 2020 (https://www.pathologie-dgp.de/die-dgp/aktuelles/meldung/pressemitteilung-an-corona-verstorbene -sollten-obduziert-werden/) hieß es in den RKI-Empfehlungen: „Eine innere Leichenschau, Autopsien oder andere aerosolproduzierende Maßnahmen sollten vermieden werden. Sind diese notwendig, sollten diese auf ein Minimum beschränkt bleiben.“ (24.3.2020). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 5 im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.2 „Die rechtliche Stellung des Robert Koch-Instituts und seine Aufgaben auf den Gebieten der Infektionskrankheiten und der nicht übertragbaren Krankheiten sind grundlegend in § 2 des "Gesetzes über Nachfolgeeinrichtungen des Bundesgesundheitsamtes" (BGA-Nachfolgegesetz - BGA-NachfG) geregelt. Auf beiden Gebieten obliegen dem RKI Tätigkeiten zur Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten sowie epidemiologische Untersuchungen einschließlich der Erkennung und Bewertung von Risiken sowie der Dokumentation und Information. Ferner obliegen dem RKI Aufgaben der Gesundheitsberichterstattung sowie Aufgaben auf den Gebieten der Risikoerfassung und -bewertung bei gentechnisch veränderten Organismen und Produkten und der Humangenetik. Die Aufgaben auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten werden im "Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen" (Infektionsschutzgesetz - IfSG) näher geregelt.“3 Gemäß dieses Aufgabenspektrums kommt dem RKI eine zentrale Rolle bei der Bewertung des aktuellen Infektionsgeschehens zur COVID-19-Pandemie in Deutschland zu. Im Verlauf der Pandemie wurde das RKI in verschiedener Hinsicht immer wieder kritisiert, so beispielsweise in Hinblick auf ihre Änderungen in der Berichterstattung, Empfehlungen zum Tragen von Masken, Offenlegung von Testzahlen und der Berechnungsweise des Reproduktionswertes. Das RKI verteidigt sich zu veränderten Empfehlungen und Vorgehensweisen mit zunehmenden Wissen über die neue Infektionskrankheit und über das Virus selbst. Auf ausgewählte Themenkomplexe wird im Folgenden näher eingegangen. 2.1. Zur Anzahl durchgeführter Tests auf eine bestehende COVID-19 Infektion Die Anzahl der durchgeführten - gemeinhin als Corona-Test bezeichneten - Überprüfungen einer bestehenden COVID-19 Infektion werden vom RKI erst beginnend mit der 10. Kalenderwoche (erstmals am 8.3.2020) wöchentlich kommuniziert. Hierbei ist zu beachten, dass es sich dabei nicht um die Anzahl der getesteten Personen handelt, sondern um die Anzahl der (insgesamt) durchgeführten Tests. Das bedeutet, dass die tatsächlich getestete Anzahl der Personen niedriger liegt, da einige Personengruppen aufgrund ihrer Exposition mehrfach getestet werden. Im europäischen Vergleich liegen diese Testzahlen vergleichsweise hoch. Allerdings wird Deutschland mittlerweile von verschiedenen europäischen Ländern überholt. Die nachfolgende Grafik stellt dar, wie viele Tests pro 1.000 Menschen in Deutschland im Vergleich zu den Ländern Italien, Schweiz, Österreich, Vereinigtes Königreich, Niederlande, Schweden und Frankreich durchgeführt wurden. Bis zur Woche, die am 20. April 2020 endet, zeichnet sich Deutschland neben der Schweiz dadurch aus, pro 1.000 Einwohner besonders viele Tests durchzuführen. Diese Stellung büßt es allerdings seit Ende April ein; Italien führt derzeit wesentlich mehr Tests durch. Hierbei ist zu beachten, dass beispielweise das Vereinigte Königreich und Italien sowohl Daten der getesteten Personen als auch der durchgeführten Tests übermitteln, so dass man einen Eindruck gewinnt, um welche Größenordnung sich diese beiden Größen voneinander unterscheiden. Laut der übermittelten Daten vom 12. Mai 2020 wurden in Italien rund 44 2 Quelle und weitergehende Informationen: https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Leitbild/Leitbild_node.html. 3 Robert Koch-Institut: Gesetzliche Grundlagen: https://www.rki.de/DE/Content/Institut/gesetzl_Grundlagen /gG_node.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 6 Tests pro 1.000 Einwohner durchgeführt, aber rund 29 Personen pro 1.000 Einwohner getestet (somit ein 34 % niedrigerer Wert). Im Vereinigten Königreich waren es rund 30 Tests pro 1.000 Einwohner, wohingegen rund 21 Personen pro 1.000 Einwohner getestet wurden (somit ein 30 % niedrigerer Wert). Wie sich diese beiden Werte, Tests und getestete Personen, in Deutschland verhalten, ist den Daten des RKIs nicht zu entnehmen.4 Wenn man alle verfügbaren europäischen Staaten einschließt, ergibt sich die nachfolgende Grafik , die zeigt, dass die Anzahl der durchgeführten Tests an einem bestimmten Tag (z.B. 3. Mai 2020) in verschiedenen europäischen Staaten höher liegt als in Deutschland.5 In Deutschland wird berichtet, dass die Testkapazitäten derzeit nicht voll ausgeschöpft werden. Allerdings gibt 4 Die Daten der Grafik stammen aus der Datenbank Our World in Data, die allerdings im Falle Deutschlands auf Daten des RKI zurückgreift: https://ourworldindata.org/coronavirus-testing#germany. 5 Bei wöchentlicher Übermittelung der Daten wird die Anzahl der Tests auf die Anzahl der Tage heruntergebrochen , Errechnet werden die Datenpunkte aus der kumulativen Anzahl aller bereits durchgeführter Tests. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 7 es Hinweise darauf, dass insbesondere in der Anfangsphase des Infektionsgeschehens eine besonders hohe Testungsrate wichtig ist.6 Die nachfolgenden zwei Grafiken zeigen die Anzahl der COVID-19 Tests bzw. die Anzahl der auf COVID-19 getesteten Personen pro 1.000 Menschen in europäischen Ländern. Die erste Grafik schließt Luxemburg ein, die darauffolgende, untere nicht (und entzerrt daher die Darstellung, da Luxemburg verhältnismäßig viele Tests durchgeführt hat).7 6 Joe Hasell: Testing early, testing late: four countries’ approaches to COVID-19 testing compared, 19. Mai 2020, Artikel der OWID Datenbank; abrufbar unter: https://ourworldindata.org/covid-testing-us-uk-korea-italy. 7 Die Daten der Grafik stammen aus der Datenbank Our World in Data, die allerdings im Falle Deutschlands auf Daten des RKI zurückgreift: https://ourworldindata.org/coronavirus-testing#germany. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 8 2.2. Zu Sterblichkeitszahlen Auch Sterblichkeitszahlen sind über die Datenbank Our World in Data (OWID) abrufbar und gehen zurück auf amtlich gemeldete COVID-19 Todesfälle der jeweiligen Länder. Es wird vermutet, dass die tatsächliche Gesamtzahl der Todesopfer durch COVID-19 wahrscheinlich höher ist als die Anzahl der bislang bestätigten Todesfälle. Dies liegt sowohl an der begrenzten Anzahl von Tests, dem Zeitpunkt des Tests und Problemen bei der Zuordnung der Todesursache . Diese Unterschiede zwischen den gemeldeten bestätigten Todesfällen und den gesamten Todesfällen variieren je nach Land. Die Meldeprozeduren, wie COVID-19-Todesfälle registriert werden, können sich von Land zu Land unterscheiden (z. B. zählen einige Länder möglicherweise nur Todesfälle im Krankenhaus, während andere damit beginnen, Todesfälle in Privathaushalten einzubeziehen). Auch geben die gemeldeten Todeszahlen an einem bestimmten Datum nicht notwendigerweise die Anzahl der neuen Todesfälle an diesem Tag an. Dies ist auf Verzögerungen bei der Meldung zurückzuführen.8 Insgesamt liegt Deutschland in den gemeldeten COVID-19-Fällen im europäischen und internationalen Vergleich sehr niedrig. Dies zeigt die nachfolgende Grafik. 8 Quelle: https://ourworldindata.org/covid-deaths. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 9 Nach derzeitiger Erkenntnis wird in Deutschland lediglich eine leichte Häufung an Todesfällen (Übersterblichkeit) im Vergleich zu den Vorjahren registriert. Allerdings gibt das Statistische Bundesamt zu bedenken, dass diese Daten nicht die endgültige Datenlage widerspiegeln. Normalerweise werden in Deutschland Todeszahlen sehr zeitverzögert erst im Folgejahr kommuniziert; aufgrund der aktuellen Lage wird momentan auch der Zwischenstand berichtet. Vor diesem Hintergrund hat das Statistische Bundesamt eine Sonderauswertung der vorläufigen Sterbefallzahlen in Deutschland vorgenommen. Derzeit sind vorläufige Sterbezahlen bis zum 12. April 2020 darstellbar . Im März 2020 ist mit insgesamt mindestens 86.200 Sterbefällen kein auffälliger Anstieg der Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar. Allerdings berichtet das Statistische Bundesamt, dass seit der letzten Märzwoche die Sterbezahlen über dem Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 liegen.9 Dies ist in der nachfolgenden Grafik ersichtlich. Das RKI hält die Todeszahlen in Deutschland für unterschätzt, da nicht jeder Gestorbene vorher getestet worden sei und im Obduktionsmaterial das Virus nicht immer nachweisbar sei. Im internationalen Vergleich variiert die Sterberate sehr stark: Italien weist laut der Daten des Europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) eine hohe Sterblichkeitsrate aus, ebenso Frankreich . Die immensen Unterschiede erklären Virologen vor allem damit, dass in Deutschland im internationalen Vergleich extrem viel getestet worden sei. 9 Quelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Corona/Gesellschaft/bevoelkerung-sterbefaelle.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 10 Aus der Tatsache, dass in Deutschland die Übersterblichkeit gering ausfällt, lässt sich weder ableiten , dass die Infektionskrankheit COVID-19 nicht bedrohlich sei noch dass Maßnahmen in Deutschland nicht notwendig gewesen sind. Da sich die Sterblichkeitsraten im Zuge des Lockdown ergeben, kann in keiner Weise abgeleitet werden, wie das Szenario ausgesehen hätte ohne das Ergreifen von Maßnahmen. Kausale Zusammenhänge und biomedizinische Grundlagen werden noch immer erforscht und sind nicht geklärt. Der Vergleich mit dem Pandemieverlauf in anderen europäischen Staaten bietet jedoch ein erstes Indiz dafür, welche gravierenden Verläufe im Rahmen des Möglichen lagen und zum Entscheidungszeitpunkt in Betracht gezogen werden mussten. 2.3. Zur Empfehlung des Tragen von Masken Das Tragen von Masken im öffentlichen Raum ist Gegenstand kontroverser Diskussionen sowohl in den Medien als auch in sozialen Medien. Anfangs bestand der Hauptkritikpunkt darin, dass professionelle Masken aufgrund der Knappheit medizinischem Personal vorbehalten sein sollten. Inzwischen wird der Einsatz eines einfachen, beispielweise auch selbstgenähten, Mund-Nasenschutzes diskutiert. Kritiker sehen den Nutzen des Tragens von Masken nicht als erwiesen, fühlen sich in ihren Persönlichkeitsrechten eingeschränkt oder bringen persönliche Argumente gegen das Tragen von Masken an. Befürworter begründen das Tragen eines Mund-Nasenschutzes mit Studien, die belegen, dass unter korrekter Benutzung das Tragen von Masken ein sinnvoller Bestandteil der Infektionsvorbeugung ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 11 Die aktuelle Empfehlung des RKIs wird im Epidemiologischen Bulletin 19/2020 vom 7. Mai 2020 beschrieben.10 Die Empfehlung lautet: „Das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt ein generelles Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung (MNB) in bestimmten Situationen im öffentlichen Raum als einen weiteren Baustein, um Risikogruppen zu schützen und den Infektionsdruck und damit die Ausbreitungsgeschwindigkeit von COVID-19 in der Bevölkerung zu reduzieren. Diese Empfehlung beruht auf einer Neubewertung aufgrund der zunehmenden Evidenz, dass ein hoher Anteil von Übertragungen unbemerkt erfolgt , und zwar bereits vor dem Auftreten von Krankheitssymptomen.“ Zu dieser von der vorherigen Darstellung abweichenden Empfehlung haben neue wissenschaftliche Veröffentlichungen beigetragen. Aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein neuartiges Infektionsgeschehen handelt, müssen Empfehlungen laufend wissenschaftlichen Neuerkenntnissen angepasst werden. Dabei ist es selbstverständlich auch erforderlich, dass eingeschätzt wird, inwiefern die neuen Erkenntnisse valide und weitreichende Bewertungen zulassen. Im konkreten Fall stützen sich die Empfehlungen laut Veröffentlichung des RKIs insbesondere auf acht wissenschaftliche Publikationen, von denen fünf bereits durch einen Gutachterprozess gelaufen sind (Peer-Reviewing) und zum Großteil in den hochrangigsten internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften erschienen sind. Drei Publikationen sind zum momentanen Zeitpunkt noch als Preprints verfügbar und noch nicht durch ein Peer-Reviewing begutachtet:11 Leung NHL, et al.: Respiratory virus shedding in exhaled breath and efficacy of face masks. Nature Medicine, 2020;1–20; Suess T, et al.: Facemasks and intensified hand hygiene in a German household trial during the 2009/2010 influenza A(H1N1) pandemic: adherence and tolerability in children and adults. Epidemiol Infect, 2011;139(12):1895 –901; van der Sande M, Teunis P, Sabel R: Professional and home-made face masks reduce exposure to espiratory infections among the general population. PLoS One, 2008;3(7):e2618; Bae S, et al.: Effectiveness of Surgical and Cotton Masks in Blocking SARS-CoV-2: A Controlled Comparison in 4 Patients. Ann Intern Med, 2020;1–2; Li R, et al.: Substantial undocumented infection facilitates the rapid dissemination of novel coronavirus (SARS-CoV2). Science, 2020;1–8; Jefferson T, et al.: Physical interventions to interrupt or reduce the spread of respiratory viruses. Part 1 - Face masks, eye protection and person distancing: systematic review and meta-analysis. medRxiv, 2020:1 –18; Ganyani T, et al.: Estimating the generation interval for COVID-19 based on symptom onset data. medRxiv, 2020:1–13; Böhmer MM, et al.: Outbreak of COVID-19 in Germany Resulting from a Single Travel-Associated Primary Case. The Lancet Infectious Diseases, 2020;1–22. Preprint. 10 Robert Koch- Institut: Epidemiologischer Bulletin 19/2020 vom 7. Mai 2020, abrufbar im Internet unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20.pdf?__blob=publicationFile. 11 Seiten 3-5 in: RKI: Epidemiologisches Bulletin vom 7. Mai 2020, 19/2020; im Internet abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/19_20.pdf?__blob=publicationFile. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 12 2.4. Zu Obduktionen Erst im Verlaufe des Infektionsgeschehens von COVID-19 wurde deutlich, dass das mit einer CO- VID-19 Infektion in Verbindung gebrachte Symptomspektrum sehr viel breiter ist als ursprünglich angenommen. Hierdurch bedingt ergibt sich inzwischen die Notwendigkeit, dieses Symptomspektrum auch durch Obduktionen besser kennenzulernen. Das RKI gibt seine Empfehlung, Obduktionen auf das Nötigste zu beschränken12 inzwischen nicht mehr. In den aktuellen Empfehlungen zum Umgang mit SARS-CoV2-infizierten Verstorbenen vom 24. April 2020 wird lediglich auf die äußere Leichenschau eingegangen; Schutzmaßnahmen bei der inneren Leichenschau sind nicht Gegenstand der Empfehlungen.13 Der Bundesverband Deutscher Pathologen hingegen fordert, "möglichst zahlreiche Obduktionen von Corona-Verstorbenen" durchzuführen, um daraus im besten Fall Therapieoptionen ableiten zu können.14 Bei der Bewertung von Vorerkrankungen ist aus statistischer Sicht zu beachten, dass bei einer Häufung von älteren Menschen unter den Patienten, selbstverständlich auch Vorerkrankungen zu erwarten sind. Mit zunehmendem Alter leidet ein hoher Prozentsatz der Menschen an bekannten oder auch unbekannten Vorerkrankungen . Da allerdings Obduktionen seit Jahren immer seltener vorgenommen werden, ist die Bewertung der momentan auftretenden Symptomatik schwer. Der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Pathologen, Bürrig, rechnet nicht mit schnellen belastbaren Erkenntnissen, sondern geht von mehreren Monaten aus, bevor robuste Aussagen getroffen werden können.15 3. Quellen zu COVID-19-Infektion Es gibt verschiedene belastbare Quellen zu COVID-19 Infektionen. Eine Auswahl wird im Folgenden vorgestellt. Dabei wird zunächst auf Quellen aus der Wissenschaft eingegangen, die nicht journalistisch aufgearbeitet wurden. In erster Linie handelt es sich dabei um englischsprachige Literatur. Darauf folgend werden Rohdatenquellen16 genannt. Zuletzt werden Stellungnahmen deutscher Wissenschaftsorganisationen, des Deutschen Ethikrates und der Weltgesundheitsorganisation WHO genannt. 12 RKI-Empfehlungen vom 24.03.2020: „Eine innere Leichenschau, Autopsien oder andere aerosolproduzierende Maßnahmen sollten vermieden werden. Sind diese notwendig, sollten diese auf ein Minimum beschränkt bleiben .“ 13 Vgl. hierzu: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Verstorbene.html. 14 Quelle: https://www.pathologie-dgp.de/die-dgp/aktuelles/meldung/pressemitteilung-an-corona-verstorbenesollten -obduziert-werden/. 15 Vgl. hierzu auch: https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-covid-19-tote-1.4884154. 16 Zur Thematik der Datenverfügbarkeit ist in der Zeitschrift Forschung&Lehre am 25.3.2020 ein Artikel unter dem Titel: Woher die Daten zur Corona-Pandemie stammen von Marco Krefting, Jörg Pfeiffer und Benno Schwinghammer erschienen; https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/woher-die-daten-zur-corona-pandemie-stammen -2639/. Hierin wird insbesondere auf Datenquellen wie die über das John Hopkins Hospital und über das RKI verfügbare eingegangen und einzelne Aspekte der sich ergebenden Schwierigkeiten angesprochen. Hierzu zählen neben psychologischen Faktoren, dass Datenquellen eine gewisse Sicherheit suggerieren, die allerdings trügerisch sein kann auch auf die begrenzte Vergleichbarkeit zwischen Ländern. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 13 3.1. Zusammenstellungen von Primärliteratur aus der Wissenschaft Es ist sehr schwer, die gesamte Primärliteratur zum Thema Corona zu verfolgen. Täglich erscheinen zahlreiche wissenschaftliche Artikel, die COVID-19 als Haupt- oder Nebenaspekt untersuchen . Die Literaturdatenbank PubMed, in der Referenzen auf medizinische Artikel im gesamten Bereich der Biomedizin verzeichnet sind, zählt zum Stichwort „COVID“ derzeit 11.956 Einträge (Stand 14. Mai 2020).17 Dabei sind 11.397 Publikationen nach dem 1. Februar 2020 erschienen. Nature ist eine wissenschaftliche Zeitschrift, die zu den hochrangigsten naturwissenschaftlichen Fachzeitschriften weltweit zählt. Von Nature werden tagesaktuell ausgewählte neue Publikationen (teilweise unter Verweis auf andere Fachjournale) zusammengefasst. Diese befinden sich zum Teil noch im Begutachtungsprozess. Dies reduziert die Anzahl der täglich neu erscheinenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Corona auf diejenigen, die gemäß Nature–Redaktion als besonders herausragend bewertet werden.18 Es wird auch ein tagesaktueller Podcast angeboten. Eine weitere Literatursuchmaschine spezifisch für wissenschaftliche COVID-19 Literatur und Daten ist COVID Scholar, das von Wissenschaftlern am Lawrence Berkeley National Lab entwickelt wurde.19 3.2. Datenquellen Our World in Data (kurz OWID) ist eine frei verfügbare Online-Publikation, die an der Oxford Martin School, die zur sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Oxford gehört, angesiedelt ist. Sie existiert seit 2011 und wird gegenwärtig über verschiedene Zuschüsse (grants) und Unterstützer finanziert (insbesondere die Bill and Melinda Gates Foundation20). Über diese Internetseite lassen sich umfangreiche Daten, Statistiken und Artikel zu Todeszahlen, Testprozeduren und Infektionszahlen abrufen.21 Insbesondere lassen sich hierüber Daten zur Testung verschiedener Länder abrufen und verfolgen (siehe vorhergehendes Kapitel). Die Daten zur Anzahl der durchgeführten Tests in Deutschland beziehen sich auf Angaben des Robert Koch-Instituts. Abrufbare Daten lassen sich über verschiedene Grafikoptionen auch direkt visualisieren. GitHub ist ein Onlinedienst, der 2007 in den USA gegründet und 2018 von Microsoft gekauft wurde. Mittels GitHub können Open-Source Software Projekte zentral abgelegt und verwaltet 17 Quelle: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed. 18 Zusammenstellung herausragender wissenschaftlicher Nachrichten von Nature: https://www.nature.com/news. 19 Datenbank im Internet frei verfügbar unter: https://www.covidscholar.org/. 20 Max Roser and Esteban Ortiz-Ospina (2019) – “Global Rise of Education”. Published online at Our- WorldInData.org. Retrieved from: ‘https://ourworldindata.org/global-rise-of-education’: https://ourworldindata .org/supporters. 21 Internetverweis: https://ourworldindata.org/coronavirus. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 14 werden. Mittlerweile ist GitHub insbesondere für den Austausch wissenschaftlicher Daten im Bereich Informatik und Biowissenschaften bedeutsam.22 Im Zusammenhang mit der Forschung an der COVID-19-Erkrankung sind eine ganze Reihe Projekte (repository) in GitHub entstanden. Eines dieser Projekte ist das Datenprojekt für das visuelle Coronavirus-Dashboard, das vom Johns Hopkins University Center für Systemwissenschaft und -technik (JHU CSSE) betrieben wird, unterstützt auch vom ESRI Living Atlas Team und dem Johns Hopkins University Applied Physics Lab (JHU APL). Es wurde am 19. Februar 2020 in einem Artikel in Lancet vorgestellt.23 Diese Darstellung ist auch in Deutschland bekannt geworden, die Visualisierung wird von verschiedenen Medien genutzt. Nachfolgend wird ein Screenshot vom 14. Mai 2020 gezeigt: Laut eines Artikels in „Forschung und Lehre“ vom 25. März 202024 stammen die Daten zu Deutschland über Umwege von der niederländischen Nachrichtenagentur BNO News in Tilburg, die sich auf Zahlen der "Berliner Morgenpost" beziehen. Laut Interaktiv-Team der Funke Mediengruppe stammen die Zahlen von Landesgesundheitsämtern. Derzeit wird auch häufig über Prognosen zum weiteren Infektionsverlauf berichtet. Dabei wird mitunter kritisiert, dass die Prognosen beispielweise aufgrund der Tatsache, dass sie unterschiedliche Ergebnisse lieferten, falsch seien. In die Modellrechnungen gehen verschiedene gewichtete 22 Jeffrey Perkel: Democratic databases: science on GitHub. In: Nature. Band 538, Nr. 7623, 6. Oktober 2016, S. 127–128, doi:10.1038/538127a. 23 Ensheng Dong et al.: An interactive web-based dashboard to track COVID-19 in real time; The Lancet Infectious Diseases Volume 20, Issue 5, May 2020, Pages 533-534; https://www.sciencedirect.com/science/article /pii/S1473309920301201?via%3Dihub. 24 Marco Krefting, Jörg Pfeiffer und Benno Schwinghammer: Woher die Daten zur Corona-Pandemie stammen; Forschung & Lehre vom 25.03.2020; https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/woher-die-daten-zur-coronapandemie -stammen-2639/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 15 mathematische Parameter ein (Kontaktzahlen, Bewegungsverhalten, Infektionsraten etc.), in der Auswahl dieser Parameter unterscheiden sich Prognosemodelle ebenso wie in der Rechenprozedur selbst. Da die Prognosen in die Zukunft weisen, ist es nicht möglich, aktuell aufgestellte Modelle ohne weiteres zu verifizieren. Dies ist allerdings keine neue Erkenntnis, sondern gilt für jegliche Prognosen. Daher ist es auch sinnvoll, mehrere Prognosemodelle gleichzeitig zu betrachten. Diese bilden dann ein Spektrum möglicher Entwicklungen. Und selbst wenn Modelle nicht übereinstimmen , kann das Verständnis, warum sie unterschiedlich sind, wertvolle Erkenntnisse liefern . Auf einer US-amerikanischen Nachrichtenwebsite, die schwerpunktmäßig statistische Betrachtungen veröffentlicht und Datenjournalismus betreibt, ist ein Artikel erschienen, der unterschiedliche wissenschaftliche Prognosemodelle für die Entwicklung der Sterberaten in den USA miteinander vergleicht. Für zahlreiche US-amerikanische Bundesstaaten liegen dabei die unterschiedlichen Modelle verhältnismäßig nahe beieinander.25 3.3. Stellungnahmen wissenschaftlicher Organisationen und Verbände 3.3.1. Akademien Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) Die 2002 gegründete Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, kurz acatech, ist eine deutsche Wissenschaftsakademie für Technik und angewandte Wissenschaften. Am 27. März 2020 hat sie Handlungsoptionen in einer Ad hoc-Stellungnahme formuliert. Es werden drei Handlungsstränge aufgezeigt: (1) Intervenieren, (2) Stabilisieren und (3) Stimulieren. Unter Beachtung gesundheitlicher und wirtschaftlicher Aspekte leiten sie unter (1) als notwendiges Szenario das „nahezu vollständige Herunterfahren physischer Sozialkontakte“ mit gleichzeitig aufgelegten wirtschaftspolitischen Überbrückungsmaßnahmen ab. Sie weisen allerdings darauf hin, dass dabei auch direkt Ausstiegsstrategien mitentwickelt werden müssten. Dieser Ansatz sei allerdings nur solange zu führen, bis man in der Lage sei, eine individualisierte Strategie mit massiven Tests und der konsequenten Isolierung zu fahren. Im Handlungsstrang (2) geht die Akademie auf versorgungsrelevante Wirtschaftsbereiche ein. Bei einem möglicherweise länger anhaltenden Herunterfahren der Wirtschaft müssten versorgungsrelevante Bereiche funktionsfähig bleiben, auf deren Stabilität die Gesellschaft besonders angewiesen sei. Kernbereiche, die hierbei genannt werden, sind Landwirtschaft und Ernährung, Logistik, Gesundheit, Energie, Kommunikationsund Datennetze sowie sozialer Frieden. Im letzten Handlungskomplex (3) wird auf die Bedeutung von Innovationsprozessen eingegangen. Wichtig seien frühzeitige Stimuli für die „Zeit nach Corona“, um die Volkswirtschaft rechtzeitig aus dem Krisenmodus wieder in einen nachhaltigen Wachstumsmodus zu bringen. Gerade jetzt müsse Deutschland an innovationspolitischen Zukunftsprojekten festhalten.26 25 Ryan Best; Jay Boice: Where The Latest COVID-19 Models Think We're Headed — And Why They Disagree; FiveThirtyEight, zuletzt aktualisiert am 20. Mai 2020: https://projects.fivethirtyeight.com/covid-forecasts/ 26 acatech: Corona-Krise: Volkswirtschaft am Laufen halten, Grundversorgung sichern, Innovationsfähigkeit erhalten ; Ad hoc Impuls vom 27. März 2020; https://www.acatech.de/allgemein/der-weg-aus-der-corona-krise-vorschlaege -der-deutschen-akademie-der-technikwissenschaften/. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 16 Leopoldina Die Leopoldina27 ist die weltweit älteste Akademie der Wissenschaften und wurde 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Deutschlands ernannt. Dadurch ist sie zum einen für die Vertretung der deutschen Wissenschaft im Ausland und zum anderen für die Beratung von Politik und Öffentlichkeit in Deutschland zuständig. Am 13. April 2020 legte sie ihre jüngste und dritte Stellungnahme zu gesundheitspolitischen Fragen im Umgang mit der Pandemie SARS- CoV2 vor.28 An allen drei Stellungnahmen, die verschiedene Schwerpunkte legen, waren unterschiedliche Autorengruppen, entsprechend der Kernthemen, beteiligt. Sie sind unter wesentlich höherem Zeitdruck entstanden, als es sonst üblich ist und erheben schon alleine aus diesem Grunde nicht den Anspruch, jedes einzelne Detail in seiner Tiefe zu ergründen. Allerdings haben sie ein Begutachtungsverfahren durch nicht an der Erstellung beteiligte Wissenschaftler durchlaufen . In ihrer ersten Stellungnahme (21. März 2020) werden mögliche gesundheitspolitische Handlungsoptionen diskutiert. Die Leopoldina schätzt dabei die zu dem Zeitpunkt von der Bundesregierung und den Bundesländern bereits ergriffenen Maßnahmen als dringend erforderlich ein. Dabei müsse der Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen unter Berücksichtigung medizinethischer Aspekte prioritär verfolgt werden. Es wird ein Zeithorizont bis Ostern gegeben, dann müsse die Situation neu bewertet werden. In ihrer zweiten Stellungnahme (3. April 2020) wird der Fokus auf gesundheitsrelevante Maßnahmen gelegt, die nach Meinung der Leopoldina zu einer schrittweisen Normalisierung des öffentlichen Lebens beitragen könnten. Dabei werden drei Aspekte für besonders wichtig erachtet: 1. flächendeckende Nutzung von Mund-Nasen-Schutz, 2. kurzfristige Verwendung mobiler Daten und 3. Ausbau der Testkapazitäten. In ihrer dritten Stellungnahme (13. April 2020) stehen psychologische, soziale, rechtliche, pädagogische und wirtschaftliche Aspekte der Pandemie im Vordergrund. Es ist die umfangreichste Stellungnahme und wurde in der Presse vielbeachtet.29 Hierin wird kritisch festgestellt, dass die bisher stark symptomgeleiteten Datenerhebungen zu einer verzerrten Wahrnehmung des Infektionsgeschehens geführt hätten. Es sei daher wichtig, die Erhebung des Infektions- und Immunitätsstatus der Bevölkerung substantiell zu verbessern, insbesondere durch repräsentative und regionale Erhebung des Infektions- und Immunitätsstatus. Die so gewonnenen Daten sollten in Echtzeit in die laufenden Anpassungen dynamischer Modelle einfließen und so verlässlichere Kurzzeitprognosen ermöglichen. Dabei wird insbesondere auf freiwillig bereitgestellten GPS-Da- 27 Quelle: https://www.leopoldina.org/ueber-uns/. 28 Alle Stellungnahmen sind als Gesamtdokument im Internet abrufbar: Leopoldina: Ad-hoc-Stellungnahmen zur Coronavirus-Pandemie; 14. April 2020; https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_Leopoldina -Stellungnahmen_zur_Coronavirus-Pandemie.pdf. 29 Siehe hierzu beispielweise: Heike Schmoll: Wie das Corona-Gutachten der Leopoldina entstand; aktualisierte Fassung vom 16. April 2020; https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-die-stellungnahme-der-leopoldinazu -corona-entstand-16728075.html. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 17 ten in Kombination mit Contact-Tracing nach dem Vorbild Südkoreas verwiesen. Für alle Kernbereiche der Stellungnahme: psychologische, soziale, rechtliche, pädagogische und wirtschaftliche werden konkrete Vorschläge der Normalisierung gegeben. 3.3.2. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen Ende April 2020 äußerten sich die Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen (Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V., Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e.V.) in einer gemeinsamen Stellungnahme zu „Strategien zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie“.30 Im Mittelpunkt der Betrachtung standen dabei mathematische Analysen der Ausbreitung der COVID-19-Erkrankungen und die Vorhersage der weiteren Entwicklung gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse aus den Instituten der vier Forschungsorganisationen.31 Als sinnvolle Kerngrößen für die Beurteilung des Infektionsgeschehens sehen die Forschungseinrichtungen dabei die Höhe der Neuinfektionszahl N unter gleichzeitiger Betrachtung der Reproduktionszahl R. Dabei ist zu beachten, dass eine robuste Schätzung von R erst nach zwei bis drei Wochen möglich ist. In der Stellungnahme wird begründet, warum verschiedene Strategien derzeit nicht praktikabel sind und lediglich die Durchführung von Eindämmungsstrategien erfolgsversprechend ist. Zu den Eindämmungsmaßnahmen zählen: „1. Hygienische Maßnahmen, wie z.B. Mundschutz in Geschäften und öffentlichen Plätzen oder Desinfektionsstationen, um Infektionen durch unerkannte Träger zu reduzieren. 2. Testing- und Tracing-Kapazitäten, um lokale Infektionsherde früh zu erkennen , Fälle zu isolieren, enge Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen, vorsorglich zu quarantänisieren und so Ansteckungsketten zu unterbrechen. 3. Adaptive Steuerung von flankierenden kontakteinschränkenden Maßnahmen, um einen erneuten Anstieg der Neuinfektionen zu verhindern .“32 30 Pressemeldung der Max Planck Gesellschaft vom 29. April 2020: https://www.mpg.de/14759871/corona-stellungnahme . Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz, Max Planck Gesellschaft: Strategien zur Eindämmung der COVID- 19 Pandemie. Eine Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen auf Basis von mathematischen Analysen der Datenlage; 28. April 2020; im Internet abrufbar unter: https://www.mpg.de/14760439/28-04-2020_Stellungnahme_Teil_01.pdf. 31 Siehe hierzu auch Florian Schumann: Forscher legen Szenario für den Weg aus der Corona-Krise vor; Zeit Online vom 29. April 2020; https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-04/coronavirus-strategie-eindaemmungneuinfektionen -wissenschaftliche-stellungnahme. 32 Fraunhofer, Helmholtz, Leibniz, Max Planck Gesellschaft: Strategien zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie. Eine Stellungnahme der Präsidenten der außeruniversitären Forschungsorganisationen auf Basis von mathematischen Analysen der Datenlage; 28. April 2020; im Internet abrufbar unter: https://www.mpg.de/14760439/28- 04-2020_Stellungnahme_Teil_01.pdf. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 18 3.4. Stellungnahme des Deutschen Ethikrats Der Deutsche Ethikrat ist ein Sachverständigenrat, dessen Mitglieder je zur Hälfte von der Bundesregierung und dem Bundestag vorgeschlagen und vom Bundestagspräsidenten berufen werden . Er berät den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung in ethischen, gesellschaftlichen , naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen. Am 7. April 2020 hat der Deutsche Ethikrat seine Ad-hoc-Empfehlung „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ vorgelegt.33 Der Ethikrat betont dabei, dass es nicht eine einzige richtige Lösung gebe, und dass ein ständiger Diskurs über die bestmöglichen Maßnahmen von Nöten sei. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass eine „Renormalisierung“ nicht die Rückkehr zur Normalität bedeute. Sie sei keineswegs mit einer Rückkehr zum status quo ante oder einer vollständigen Beseitigung der Gefahrensituation gleichzusetzen. Vielmehr ginge es um die Frage, unter welchen Bedingungen von einem wieder akzeptablen Risikolevel als zwar notwendig unbestimmtem, aber gleichwohl gesellschaftlich nachvollziehbarem „allgemeinen Lebensrisiko “ ausgegangen werden könne.34 In der Stellungnahme wird ein dreigeteilter Verfahrensprozess abgeleitet. Wesentliche Aspekte sind: „(1) In einem ersten Schritt identifizieren wir elementare, auch in der Krise nichtaufgebbare Grundvorgaben des (Verfassungs-)Rechts. Zu diesen zählt die aus dem Menschenwürdegrundsatz abgeleitete egalitäre Basisgleichheit aller Menschen. Sie widerstreitet nicht nur spezifischen Diskriminierungshandlungen. Sie verbietet es, dem Staat, qualitative oder quantitative Kriterien an das menschliche Leben anzulegen. Jeder Mensch ist gleich viel wert. (2) Im zweiten Schritt wird gefragt, wie sich diese basalen rechtsnormativen Vorgaben zur Möglichkeit nichtrechtlicher Konkretisierung, etwa in Form von Empfehlungen von Fachgesellschaften , verhalten. Die Antwort ist zweigeteilt: Erstens halten wir solche nichtrechtlichen Vorgaben für hilfreich, mit Blick auf Gleichbehandlungsansprüche letztlich sogar für geboten. Zweitens sind die Grundvorgaben des Rechts zu beachten. Moralische Einschätzungen mögen eine abweichende Handhabung nahelegen – etwa den Schutz einer jüngeren gegenüber einer älteren Person. Zur Rechtmäßigkeit des Handelns führt dies aber nicht. (3) Der dritte Schritt besteht dann darin, diese Perspektive, die auf die objektive Bewertung von Allokationsentscheidungen ausgerichtet ist, auf der Ebene individueller Verantwortung zu konkretisieren . Das verweist auf die strafrechtliche Handhabung. Hier unterscheiden wir zwei Grundszenarien: Im ersten („Ex-ante Konkurrenz“) gibt es zu einem bestimmten Zeitpunkt weniger Beatmungsplätze als Patienten, die auf diese angewiesen sind. Die „Ex-post-Konkurrenz“ hingegen beschreibt die Situation, dass alle Beatmungsplätze bereits belegt sind und deshalb ein neuer Patient nur versorgt werden kann, wenn die begonnene Beatmung eines anderen Patienten 33 Deutscher Ethikrat: Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise, Ad hoc Empfehlung vom 27. März 2020; https://www.ethikrat.org/mitteilungen/2020/solidaritaet-und-verantwortung-in-der-corona-krise/. 34 Ebd., Seite 2. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 19 beendet wird. Diese Differenzierung ist nicht nur in rechtlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht bedeutsam: Denn im ersten Fall kann nur eine (Handlungs-)Pflicht erfüllt werden, im zweiten hingegen wird eine im Ergebnis tödliche Handlung vorgenommen. Das kann und muss rechtlich verurteilt werden. Gleichzeitig ist das Rechtssystem flexibel genug, um der tragischen Entscheidungssituation Rechnung zu tragen. Ärzte sollten mithin in solchen tragischen Situationen die gerade skizzierten Leitplanken von Recht und fachgesellschaftlichen Empfehlungen bedenken – idealerweise in multiprofessionellen Teams und beraten durch lokale Ethikkomitees.“35 3.5. Die Weltgesundheitsorganisation, WHO Die Weltgesundheitsorganisation (engl. World Health Organization, WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen für das internationale öffentliche Gesundheitswesen und hat ihren Sitz in Genf. Zu ihren Aufgaben zählen u.a. die Koordination von nationalen und internationalen Aktivitäten beim Kampf gegen übertragbare Krankheiten, die Durchführung weltweiter Impfprogramme und die Analyse globaler Gesundheits- und Krankheitsdaten. Mit diesen Aufgaben steht sie natürlicherweise im Zentrum der Diskussionen und Maßnahmen im Rahmen eines Pandemiegeschehens . Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht haben aktuell eine juristische Einordnung zur Rolle der WHO und deren völkerrechtlicher Einordnung publiziert.36 Entgegen einer verbreiteten Auffassung schlage in der aktuellen Pandemielage nicht nur die Stunde nationaler Behörden und Maßnahmen, sondern seien internationale Institutionen von zentraler Bedeutung für die weltweite Reaktion auf die Krise. Bei der WHO handele sich nicht um eine rein regulatorische Behörde, sondern diese nehme eine aktive Rolle im Verlaufe von Gesundheitskrisen ein. Werde dies von den Regierungen vernachlässigt, könne dies zu Kräfteverschiebungen in der multilateralen Weltordnung führen. In Hinblick auf die Rolle der WHO im COVID-19-Infektionsgeschehen wird der Frage nachgegangen, wie sich diese im Zusammenprall zwischen demokratischeren und autoritäreren Kräften positioniert. Abschließend wird auf die Stellung der WHO im Wettbewerb zwischen China und insbesondere den USA eingegangen. Dem zugrunde liegt, dass der WHO vorgeworfen wird, ein Verfechter der internationalen Politik Chinas zu sein. Insgesamt bewerten die Wissenschaftler dies dahingehend, dass ohne den rechtlichen Rahmen der WHO die Maßnahmen der einzelnen Staaten noch wesentlich unkoordinierter gewesen wären und die Unsicherheit größer gewesen wäre. 35 P. Dabrock, S. Augsberg: Bundespressekonferenz: Der Deutsche Ethikrat zur Corona-Krise, Berlin, 7. April 2020; Fettung durch den Autor der vorliegenden Arbeit. 36 Armin von Bogdandy / Pedro Villarreal, Critical Features of International Authority in Pandemic Response: The WHO in the COVID-19 Crisis, Human Rights and the Changing World Order (May 13, 2020). Max Planck Institute for Comparative Public Law & International Law (MPIL) Research Paper No. 2020-18. Verfügbar unter :SSRN: https://ssrn.com/abstract=3600058. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 032/20 Seite 20 Im Verlaufe des COVID-19 Pandemiegeschehens wurde die WHO mehrfach kritisiert, beispielsweise wurde ihr vorgeworfen, zu zögerlich reagiert zu haben.37 Im Zuge der Pandemie H1N1 2009/2010 (Schweinegrippe) war ihr vorgeworfen worden, wiederum zu vorschnell mit der Ausrufung einer Pandemie zu reagieren.38 Auf den Internetseiten der WHO ist umfangreiches Material abzurufen, inwiefern durch die Organisation das Pandemiegeschehen verfolgt wird. In der COVID-19-Datenbank der WHO wird weltweit erscheinende wissenschaftliche Literatur werktäglich aktualisiert. Dies erfolgt mittels bibliografischer Datenbanksuche, Suche per Hand sowie Expertenempfehlungen. Es wird darauf hingewiesen , dass sie dadurch nicht erschöpfend sei, allerdings einen verhältnismäßig umfassenden Eindruck verleihe.39 *** 37 Siehe hierzu beispielsweise: C, Hein: Japan und Australien unterstützen Trumps WHO-Kritik; Faz.net vom 15.4.2020; https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/corona-japan-und-australien-unterstuetzen-trumps-who-kritik -16725764.html. Eine solche Kritik erkennt implizit die strukturelle Bedeutung der WHO für die Krisenbewältigung an. 38 Siehe hierzu: M. Schilliger: Wieso der WHO-Direktor zögerte, den Ausbruch des Coronavirus zur Pandemie zu erklären; Neue Zürcher Zeitung vom 11.3.2020. 39 Internetverweis: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019.