© 2020 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 030/20 Corona und Stickstoffbelastungen der Luft Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 2 Corona und Stickstoffbelastungen der Luft Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 030/20 Abschluss der Arbeit: 11. Juni 2020 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Stickoxide in der Atmosphäre 4 3. Die Messung von NOx und ihre Einflussfaktoren 5 3.1. Messung von NOx 6 3.2. Wettereinflüsse 6 3.3. Temperatur- bzw. Jahreszeiteneinflüsse 6 3.4. Einfluss des Verkehrs im Rahmen des Corona Lockdowns 7 3.5. Modellgestützte Untersuchung des „Corona-Effekts“ am DLR 10 4. Quellenverzeichnis 12 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 4 1. Einleitung Aufgrund der teilweise deutlichen Reduzierung des allgemeinen Verkehrsaufkommens auf den Straßen ist in der Öffentlichkeit die Frage aufgeworfen worden, wie sich dies auf die Umweltbelastung mit Stickstoffdioxid ausgewirkt hat. Bodennahe Messwerte von Stickoxiden (NOx) hängen von komplexen Prozessen ab. Zu den Einflussfaktoren gehören neben der Höhe der Emissionen aus verschiedenen Quellen vor allem meteorologische Aspekte, wie die Windstärke oder die Sonneneinwirkung. Auswirkungen von Emissionsveränderungen auf die Umwelt können daher nicht notwendigerweise unmittelbar in der Entwicklung der bodennahen Messwerte abgelesen werden. Emissionsminderungen können zum Beispiel durch Wetterveränderungen, die zu einem Anstieg der Messwerte führen, überlagert werden. Zudem erlauben die Daten einzelner Messstationen für sich genommen keine seriösen Schlussfolgerungen über die Bedeutung von verkehrsbedingten Emissionen für die Schadstoffbelastung. Hier können lokale Gegebenheiten die Messwerte in besonderem Umfang beeinflussen. Eventuelle Mutmaßungen über die Auswirkungen von Fahrverboten auf die Luftqualität, die mit auf einer solchen Grundlage getätigt wurden, wären daher irreführend . Ein aussagekräftiger Vergleich von Messwerten kann daher nicht allein an die realen Messdaten des Vormonates oder des Vorjahres anknüpfen. Um anhand von Messwerten auf die Entwicklung der NOx-Emissionen zu schließen, bedarf es der Betrachtung eines Modellszenarios, bei der die wetterbedingten Einflussgrößen rechnerisch eliminiert werden. Eine erste solche Untersuchung ist von Wissenschaftlern des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt mit Messdaten aus der Lombardei durchgeführt worden. Sie zeigt exemplarisch, wie die Lockdown-Maßnahmen die NOx-Belastung reduziert haben.1 Im Folgenden werden zunächst einige Grundlagen über die Rolle von Stickoxiden in der Atmosphäre dargestellt. Danach werden unterschiedliche Messverfahren sowie einzelne Einflussfaktoren und ihre Wechselwirkungen auf den Stickstoffgehalt in der Luft beschrieben. Abschließend wird auf die Ergebnisse der erwähnten DLR-Studie eingegangen. 2. Stickoxide in der Atmosphäre Stickstoffoxide (NOx) entstehen als Nebenprodukte bei Verbrennungsprozessen und können als Stickstoffdioxid (NO2) oder Stickstoffmonoxid (NO) auftreten. „Überwiegend wird Stickstoffmonoxid (NO) emittiert. NO tritt aber großräumig nicht in Erscheinung, da dieses Gas relativ schnell 1 Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (2020). „Trotz Wettereinfluss - Corona-Effekt jetzt unstrittig“, vom 27. April 2020, https://www.dlr.de/eoc/desktopdefault.aspx/tabid-14195/24618_read-64626 . Eine Zusammenfassung ist verfügbar unter: https://www.dlr.de/content/de/artikel/news/2020/02/20200505_corona-effektauf -luftqualitaet-eindeutig.html Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 5 von Luftsauerstoff (O2) und Ozon (O3) zu NO2 oxidiert wird.2 Der Deutsche Wetterdienst beschreibt ausführlich die Auswirkungen von Stickoxiden in der Atmosphäre: „Unter Stickoxiden versteht man eine ganze ‚Familie‘ von oxidierten Stickstoffverbindungen : Primär wird Stickstoffmonoxid aus atmosphärischem Stickstoff (N2) und Sauerstoff (O2) bei Temperaturen >1000 °C gebildet. Diese Temperaturen werden in Verbrennungsmotoren , aber auch in Blitzen erreicht. In dicht besiedelten Gebieten, wie z.B. Deutschland stammt das NO zu über 90 % aus anthropogenen Quellen. In bodennahen Luftschichten wird NO durch Ozon zu Stickstoffdioxid (NO2) oxidiert, aber durch Strahlung auch wieder zurückgebildet, so dass sich in Abhängigkeit von der Ozonkonzentration und der Strahlung relativ rasch ein Gleichgewicht zwischen NO und NO2 einstellt. Deshalb werden diese beiden Komponenten oft zu NOx (=NO + NO2) zusammengefasst. Im Verlaufe der ‚luftchemischen Alterung‘ wird das NOx zu höher oxidierten Verbindungen konvertiert (z.B. zur Salpetersäure (HNO3)). Letztendlich werden die Stickoxide durch Auswaschprozesse wieder aus der Atmosphäre entfernt. Stickoxide sind an vielen chemischen Reaktionen in der Troposphäre beteiligt. Sie bestimmen (neben Strahlung und Kohlenwasserstoffen die troposphärische Ozonproduktion (‚Sommersmog‘). Die Salpetersäure ist mittlerweile die Hauptkomponente , die den pH-Wert des Regens erniedrigt (‚saurer Regen‘). Die Verweilzeit der Stickoxide beträgt einige Stunden bis zu 2 Tagen.“3 3. Die Messung von NOx und ihre Einflussfaktoren Weltweite, satellitengestützte Messungen zeigen die Tendenz, dass in ganz Europa, insbesondere über den Städten und Industriegebieten, 2020 deutlich niedrigere Stickoxid-Werte als 2019 gemessen werden. Messungen mit Hilfe von Satelliten stellen jedoch eine Momentaufnahme der gesamten Luftsäule dar und lassen nicht auf die Verhältnisse am Boden schließen. Die Forscher geben zu bedenken, dass es sich bisher um Zwischenergebnisse handelt und eine genaue und belastbare Aussage nicht vor Ende des Jahres erfolgen kann. Ein neues Forschungsprojekt der ESA soll in einigen Monaten erste Ergebnisse liefern. Die Experten schätzen, dass sich der „Corona- Effekt“ – über das Jahr gemittelt – nicht stark auswirken wird.4 2 Umweltbundesamt (2019). „Stickstoffdioxid-Belastung“, https://www.umweltbundesamt.de/daten/luft/stickstoffdioxid -belastung 3 Gilge, S., Plaß-Dülmer, C., Deutscher Wetterdienst (DWD) (2009). GAW-Brief Nr.48 „Unterschiedliche Stickoxid -Trends je nach Luftmassenherkunft“, https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung _atmosphaere/hohenpeissenberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_048_de_pdf.pdf?__blob=publication- File&v=2 4 ESA (2019). „Nitrogen dioxide pollution mapped“, http://www.esa.int/Applications/Observing_the_Earth/Copernicus /Sentinel-5P/Nitrogen_dioxide_pollution_mapped ESA (2020). „Air pollution remains low as Europeans stay at home“, http://www.esa.int/Applications/Observing _the_Earth/Copernicus/Sentinel-5P/Air_pollution_remains_low_as_Europeans_stay_at_home Weser-Kurier (2020). Interview mit einem Wissenschaftler der Universität Bremen „Auf einer globalen Skala ist die Luft in Bremen sehr sauber“, https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-stadt_artikel,-auf-einer-globalenskala -ist-die-luft-in-bremen-sehr-sauber-_arid,1911747.html Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 6 3.1. Messung von NOx Stickstoffdioxid (NO2) wird in Deutschland an etwa 500 Stationen gemessen. Die Messwerte werden stundenweise aufgenommen und aus den Werten Tages-, Monats- und Jahresmittelwerte gebildet . Die jeweilige Station misst dabei den Verkehr oder den ländlichen bzw. städtischen Hintergrund . Der Jahresmittelgrenzwert für Stickstoffdioxid liegt bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft (µg/m³). „Zum Schutz der menschlichen Gesundheit wurde europaweit für Stickstoffdioxid der 1-Stunden-Grenzwert von 200 µg/m3 festgelegt, der nicht öfter als 18-mal im Kalenderjahr überschritten werden darf. Der Jahresgrenzwert beträgt 40 µg/m3. Zum Schutz der Vegetation wird ein kritischer Wert von 30 µg/m3 NOx als Jahresmittelwert verwendet.“5 3.2. Wettereinflüsse Wetterphänomene wie Hoch- und Tiefdruck bzw. Windverhältnisse beeinflussen den Stickoxidgehalt in der Luft. Meteorologische Effekte überlagern die Auswirkung des Stickstoffoxidgehalts . Bei austauscharmen Wetterlagen reichern sich die Schadstoffe in der Luft an und erhöhte Werte der Konzentration sind die Folge. „Kräftiger Wind hilft hingegen, die Schadstoffe schnell zu verteilen und lässt die Konzentrationen sinken. Diese Effekte führen zu typischen, kurzfristigen Schwankungen in den gemessenen Konzentrationswerten.“6 3.3. Temperatur- bzw. Jahreszeiteneinflüsse Ein verstärkter photochemischer Abbau im Sommer und stärkere Emittenten im Winter verursachen jahreszeitliche Konzentrationsschwankungen. In milden Wintern können vergleichsweise hohe Außentemperaturen zu niedrigeren Heizemissionen führen. Die Konzentrationen des vergangenen Winters 2019/20 liegen, verglichen mit denen der letzten 5 Jahre, am unteren Rand der beobachteten Werte.7 5 Umweltbundesamt (2016). „Stickstoffoxide-Grenzwerte“, https://www.umweltbundesamt.de/themen/luft/luftschadstoffe /stickstoffoxide 6 Umweltbundesamt (2020). „FAQ: Auswirkungen der Corona-Krise auf die Luftqualität“, https://www.umweltbundesamt .de/faq-auswirkungen-der-corona-krise-auf-die#welche-auswirkungen-hat-die-corona-krise-auf-dieozon -belastung Plaß-Dülmer, C., Deutscher Wetterdienst (DWD) (2020). GAW-Brief Nr.75 „Niedrige Konzentrationen in der Atmosphäre – Ein Corona-Pandemie Effekt?, https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung _atmosphaere/hohenpeissenberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_075_de_pdf.pdf?__blob=publication- File&v=2 7 Plaß-Dülmer, C., Deutscher Wetterdienst (DWD) (2020). GAW-Brief Nr.75 „Niedrige Konzentrationen in der Atmosphäre – Ein Corona-Pandemie Effekt?, https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung _atmosphaere/hohenpeissenberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_075_de_pdf.pdf?__blob=publication- File&v=2 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 7 Die Temperatur beeinflusst zudem den Stickstoffgehalt. Bodennahes Ozon wird bei intensiver Sonneneinstrahlung durch komplexe photochemische Prozesse überwiegend aus Stickstoffoxiden und flüchtigen organischen Verbindungen gebildet. Mit vorsommerlichen Temperaturen kann es, nicht nur in den Sommermonaten, zu erhöhten Ozonwerten auch in Parks und Wohngebieten kommen. Die Stickstoffoxide sind dann nicht mehr als solche zu messen, sondern gehen in den Ozonwerten auf. In Deutschland ist die Situation am Boden örtlich sehr unterschiedlich. Im Zuge der Corona- Krise wurden an vielen Orten deutlich niedrigere Werte beobachtet. Hamburg und Hessen haben beispielsweise trotz fehlender starker Winde einen sehr deutlichen Rückgang der Stickoxidwerte nach dem Lockdown gemessen. Andere Städte, wie zum Beispiel Stuttgart, haben, nach Aussage des Umweltbundesamtes (UBA), im Berufsverkehr sogar einen erhöhten Anstieg der Werte verzeichnet . Das Verkehrsaufkommen war nach dem Lockdown örtlich zeitweilig stark gesunken, an einigen Orten, wahrscheinlich bedingt durch den Umstieg von öffentlichen Verkehrsmitteln auf Kraftfahrzeuge, sogar gestiegen.8 3.4. Einfluss des Verkehrs im Rahmen des Corona Lockdowns Für die Station „Stuttgart Am Neckartor“ hat das UBA für das Jahr 2018 beispielsweise einen Jahresmittelwert von 71 µg/m³ und die Zahl der Stundenwerte > 200 µg/m³ mit 11 angegeben. Im Jahr 2019 betrug der Jahresmittelwert 53 µg/m³ und die Anzahl der Überschreitungen des genannten Stundenwertes zwei.9 Mit Datum 13. Februar 2020 liegt der Stickstoffdioxidgehalt bei 67 µg/m³. Für weitere Tage ergeben sich folgende Werte für jeweils 13:00 h: 13. März 2020 = 18 µg/m³, 16. März 2020 = 61 µg/m³, 19. März 2020 = 59 µg/m³, 13. April 2020 = 8 µg/m³ und 8 Strunz, B., NDR (2020). „Bessere Luft auch dank Corona“, https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/stickoxid -corona-101.html Klein, Oliver, ZDF (2020). „Bessere Luft durch Lockdown?“, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/coronavirus -luft-besser-lockdown-100.html Messdaten der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (2020). „Stickoxidwerte für Reutlingen über die jeweils letzten 6 Wochen“, https://www.lubw.baden-wuerttemberg.de/luft/messwerte-immissionswerte ?comp=NO2&id=DEBW118#diagramm 9 Umweltbundesamt (2019). „Stickstoffdioxid (NO2) im Jahr 2018, Stand 3. Juni 2019“, https://www.umweltbundesamt .de/sites/default/files/medien/2546/dokumente/no2_2018.xlsx; Die Zahlen für 2019 sind verfügbar unter: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien /2546/dokumente/no2_2019.xlsx, dazu auch die Gemeinsame Pressemitteilung von Umweltbundesamt und Bundesumweltministerium vom 9. Juni 2020, https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen /stadtluft-wird-sauberer-zahl-der-staedte-ueber-dem. Eine kurze Beschreibung des europaweit einheitlichen Messverfahrens findet sich unter: Gutt, E., atene kom Schriftenreihe Verkehr und Umwelt 2 (2018). „Stickoxid (NOx) Grenzwerte und Messverfahren zur Überwachung der Stickstoffkonzentrationen in der Luft“, https://atenekom.eu/wp-content/uploads /2018/05/180503_atene_Schriftenreihe_Artikel_2_final.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 8 13. Mai 2020 = 65 µg/m³.10 Im Zusammenhang mit dem Corona-Lockdown schlussfolgerten Kritiker des Diesel-Fahrverbots, dass die gleichgebliebenen Werte im März und April bei niedrigerem Verkehrsaufkommen ein Diesel-Fahrverbot in Frage stellen würden. Doch die Zusammenhänge sind komplexer. Der leichte Anstieg der Werte kann nach Aussage des Klimatologen Rainer Kapp an einem Wetterumschwung liegen, da im Februar eine regen- und windreiche Witterung für außergewöhnlich niedrige Stickoxidwerte gesorgt hat.11 Zur Situation des Straßenverkehrs während des Corona-Lockdowns führt das Umweltbundeamt aus: „Neben dem Verkehr gibt es weitere, über gesamte Stadtgebiete verteilte Quellen, wie z.B. Industrieanlagen, Kraftwerke, verarbeitendes Gewerbe, private Haushalte, die zu einer mittleren Grundbelastung von 20 bis 30 µg/m³ (im Jahresmittel) in Stadtgebieten führen. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus sind mit vermindertem Straßenverkehr und verringerten Industrieprozessen verbunden. Busse im ÖPNV und private Pkw sind in den Städten nach wie vor unterwegs. Für den Lieferverkehr muss sogar von einem erhöhten Aufkommen ausgegangen werden .“12 Durch die Verlagerung des Arbeitsplatzes nach Hause (Homeoffice) könnten die Emissionen aus privaten Haushalten erhöht sein. Ein regelrechter „Absturz“ der NO2-Konzentrationen in Städten kann, nach Aussage des Umweltbundesamtes, nicht erwartet werden. Das UBA führt dazu ein Beispiel aus Hessen an: „Untersuchungen aus Hessen ergaben z.B. eine Reduzierung der NO2- Konzentrationen um rund 40 Prozent an den hessischen Stationen, die auf die reduzierte Verkehrsmenge zurückgeführt wird. Regional und lokal können die Auswirkungen sehr unterschiedlich sein.“13 Im Rahmen der Einführung von Dieselfahrverboten hat es schon einmal eine Diskussion über die Herkunft der Stickoxide und den sinnvollen Maßnahmen zu deren Reduzierung gegeben. Damals äußerte ein Jülicher Atmosphärenforscher die Meinung, dass Diesel-PKWs nicht die Hauptverursacher für Stickoxide in deutschen Innenstädten sind. Nach seiner Meinung seien Diesel-PKW nur für etwa 33 Prozent der Stickoxid-Verkehrsemissionen verantwortlich und etwa 50 Prozent 10 Umweltbundesamt (2020). „Aktuelle Luftdaten“, Luftqualitätsindex, https://www.umweltbundesamt.de/daten /luft/luftdaten/luftqualitaet/eJzrWJSSuMrIwMhA18BU19B4UUnmIiCZl7rQcFFxyWJjQ8vFKW5FcAUG- ZotTQvKR1edWcSzKTW5anJNYctrBw39mHV_D48U5eemnHRRX8U-YtnseAJrBJJ4= 11 ARD (2020). „Stickoxidbelastung deutlich gesunken“, https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/stickoxid -corona-103.html 12 Umweltbundesamt (2020). „FAQ: Auswirkungen der Corona-Krise auf die Luftqualität“, https://www.umweltbundesamt .de/faq-auswirkungen-der-corona-krise-auf-die#welche-auswirkungen-hat-die-corona-krise-auf-dieozon -belastung 13 Umweltbundesamt (2020). „FAQ: Auswirkungen der Corona-Krise auf die Luftqualität“, https://www.umweltbundesamt .de/faq-auswirkungen-der-corona-krise-auf-die#welche-auswirkungen-hat-die-corona-krise-auf-dieozon -belastung Weiterführende Informationen zur Stickstoffdioxidbelastung in Deutschland: https://www.umweltbundesamt .de/daten/luft/stickstoffdioxid-belastung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 9 der Stickoxide, die aus dem Verkehr kommen, stammen von Kleintransportern, LKWs und Bussen .14 Auch auf die Komplexität des Verhältnisses von Stickstoffmonoxid und Stickstoffdioxid wurde dabei eingegangen. Nach Messungen des Umweltbundesamtes sind die NO2-Werte über die letzten Jahre nicht im gleichen Maße gesunken wie die NO-Werte. Der Jülicher Forscher erklärt dies auch mit dem Anteil des Ozons in der Luft: „Im Abgas eines Fahrzeuges findet man praktisch nur Stickstoffmonoxid (NO) und nur wenig Stickstoffdioxid (NO2) (in etwa nur 15 Prozent). Das vom Fahrzeug emittierte NO wird erst später in der Umgebungsluft in einer Reaktion mit Ozon zu Stickstoffdioxid (NO2) umgewandelt. Wie viel Stickstoffdioxid entsteht, hängt also auch vom Ozon in der Umgebungsluft ab, die vom Wind in die Städte transportiert wird. Diese sogenannte Hintergrundkonzentration von Ozon war in den letzten Jahren in Deutschland sehr konstant und zeigt praktisch keine regionalen Unterschiede. Nur ein Teil des von Fahrzeugen ausgestoßenen Stickstoffmonoxids wird tatsächlich in Stickstoffdioxid umgewandelt. Im Wesentlichen heißt das: wenn das vorhandene Ozon durch die Umwandlung von NO in NO2 schon vollständig verbraucht ist, kann NO2 nicht mehr weiter ansteigen, auch wenn die NO-Werte immer noch weiter ansteigen. Das heißt umgekehrt: Wenn man Stickstoffdioxid an Verkehrsknotenpunkten senken will, muss man das emittierte Stickstoffmonoxid sehr viel stärker reduzieren, als es aufgrund der gemessenen Stickstoffdioxid-Werte den Anschein hat.“15 Die Forscher erklären die Maßnahme der Reduzierung für einen Jahresmittelwert von über 60 µg/m³ anhand eines Beispiels. Wenn ein Stickstoffdioxid-Wert von unter 40 µg/m³ erreicht werden solle, so müssten, die Verkehrsemissionen in diesem Fall um einen Faktor 2,6 – also um fast zwei Drittel – gesenkt werden.16 Ein Fahrverbot oder Nachrüsten aller Diesel-PKW allein würde nach Meinung der Experten nicht ausreichen, um eine Senkung auf den Grenzwert von 40 µg/m³ zu erreichen. Die Forscher geben zu bedenken, dass „die großen Nutzfahrzeuge heute praktisch alle mit einem SCR-Kat ausgerüstet sind, der die Stickoxide mithilfe von Harnsäure aus 14 Forschungszentrum Jülich, Institut für Energie- und Klimaforschung, Troposphäre (IEK-8), Interview mit Franz Rohrer (2018). „Diesel-Debatte: ‚Mit Nachrüstungen und Umtauschaktionen für PKW allein lassen sich die Grenzwerte in Städten kaum einhalten‘ “, https://www.fzj.de/SharedDocs/Meldungen/PORTAL/DE/2018/2018- 09-27-diesel-debatte.html?nn=448936 Artikel zur Auswertung der Verkehrsemissionen: Ehlers, Ch. et al. Faraday Discussions (2016). "Twenty years of ambient observations of nitrogen oxides and specified hydrocarbons in air masses dominated by traffic emissions in Germany", Faraday Discuss. 2016, 189, 407, DOI: 10.1039/c5fd00180c, https://pubs.rsc.org/en/content /articlepdf/2016/fd/c5fd00180c 15 Forschungszentrum Jülich Interview mit Franz Rohrer (2018). „Diesel-Debatte: ‚Mit Nachrüstungen und Umtauschaktionen für PKW allein lassen sich die Grenzwerte in Städten kaum einhalten‘ “, https://www.fzj.de/SharedDocs/Meldungen/PORTAL/DE/2018/2018-09-27-diesel-debatte.html?nn=448936 16 Forschungszentrum Jülich Interview mit Franz Rohrer (2018). „Diesel-Debatte: ‚Mit Nachrüstungen und Umtauschaktionen für PKW allein lassen sich die Grenzwerte in Städten kaum einhalten‘ “, https://www.fzj.de/SharedDocs/Meldungen/PORTAL/DE/2018/2018-09-27-diesel-debatte.html?nn=448936 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 10 dem Abgas entfernt. Die Technik hat aber einen Haken. Heutige SCR-Kats funktionieren erst ab einer Temperatur von etwa 170 Grad Celsius. Effizient arbeiten können sie sogar erst ab 250 Grad Celsius im Katalysatorgehäuse. Im Stop-and-go einer Innenstadt wird diese Temperatur in der Regel nicht erreicht. Das führt dazu, dass die Fahrzeuge im Stadtverkehr viel mehr Stickoxide ausstoßen als offiziell angegeben.“ Eine Lösung wäre nach Meinung der Forscher die Aufrüstung großer Nutzfahrzeuge mit einem „SCR-Katalysator, der auch bei Fahrsituationen aktiv ist, bei denen im Augenblick noch die Katalysator-Temperaturen zu niedrig für eine Entfernung der Stickoxide sind.“17 Nach Aussagen der Experten würden Dieselfahrverbote im Hinblick auf die Stickstoffwerte kurzfristig einen Effekt erzielen, der aber nicht an allen Orten zu einer für die Erhaltung der Grenzwerte ausreichenden Reduzierung des Stickstoffdioxidgehalts führen könnte. Weitere Maßnahmen , wie zum Beispiel die Verbesserung der Katalysatorwirkung, müssten mittelfristig folgen. Dies wird nicht durch einen möglichen „Corona-Effekt“ in Frage gestellt, der auf den Jahresmittelwert wahrscheinlich kaum einen Einfluss ergeben wird. Auf das Gesamtjahr bezogen erwarten Experten keine nennenswerten Verbesserungen aufgrund des Corona-Lockdowns. „Da sich der NO2-Grenzwert zum Schutz der menschlichen Gesundheit auf das Kalenderjahr bezieht, besteht daher kein Anlass, Fahrverbote oder Einfahrbeschränkungen aufzuheben.“18 3.5. Modellgestützte Untersuchung des „Corona-Effekts“ am DLR Das DLR hat die Entwicklung der Schadstoffbelastungen exemplarisch für die Lombardei berechnet , die als eine der ersten Regionen in Europa von Lockdown-Maßnahmen betroffen war. Dabei wurde eine Kombination aus langjährigen Satellitenbeobachtungen, Bodenmessungen und Modellberechnungen verwendet: „Die Wissenschaftler starteten ihre Berechnung mit Emissionswerten von Schadstoffen, die über mehrere Jahre gemittelt wurden und die Normalsituation abbilden. Damit ist sichergestellt , dass das Modell von den Corona bedingten-Maßnahmen nichts weiß. Es berücksichtigt aber von Stunde zu Stunde die realen Wetterbedingungen. Anschließend folgt 17 Forschungszentrum Jülich Interview mit Franz Rohrer (2018). „Diesel-Debatte: ‚Mit Nachrüstungen und Umtauschaktionen für PKW allein lassen sich die Grenzwerte in Städten kaum einhalten‘ “, https://www.fzj.de/SharedDocs/Meldungen/PORTAL/DE/2018/2018-09-27-diesel-debatte.html?nn=448936 Zur Gesetzgebung und Prüfmethoden s.a.: Umweltbundesamt (2020). „Die europäische Abgas-Gesetzgebung“, https://www.umweltbundesamt.de/themen/verkehr-laerm/emissionsstandards/pkw-leichte-nutzfahrzeuge#dieeuropaische -abgas-gesetzgebung s.a. Aufsatz über Dieselfahrverbote und im Kontext von Gesundheits- und Klimaschutz: Schink, A.(2020). „Dieselfahrverbote und Klimaschutz“, NuR (2020) 42: 145–149, https://link.springer.com/content /pdf/10.1007/s10357-020-3652-y.pdf 18 Umweltbundesamt (2020). „FAQ: Auswirkungen der Corona-Krise auf die Luftqualität“, https://www.umweltbundesamt .de/faq-auswirkungen-der-corona-krise-auf-die#welche-auswirkungen-hat-die-corona-krise-auf-dieozon -belastung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 11 der Vergleich mit den diesjährigen Messdaten. Die modellierte Normalsituation wurde dazu von den tatsächlichen Bodenmesswerten abgezogen. Und tatsächlich: ab dem 8. März führt der Lockdown in der Lombardei zu einer echten Reduktion der NO2-Belastung um etwa 20 µg/m³. Ein Rückgang um 45 Prozent.“19 Für andere Regionen, auch außerhalb Europas, sind diese komplexeren Berechnungen von den Wissenschaftlern des DLR bislang nicht durchgeführt worden. Insgesamt zeigen sich auch dort jedoch Reduzierungen der Schadstoffbelastungen im Vergleich zum langjährigen Mittel.20 *** 19 Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (Fn. 1). 20 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/20 Seite 12 4. Quellenverzeichnis ARD (2020). „Stickoxidbelastung deutlich gesunken“, https://www.tagesschau.de/investigativ /kontraste/stickoxid-corona-103.html Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2020). „Weniger Stickstoffdioxid in der Luft“, https://www.bmu.de/meldung/weniger-stickstoffdioxid-in-der-luft/ Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (2020). „Trotz Wettereinfluss - Corona-Effekt jetzt unstrittig“, https://www.dlr.de/eoc/desktopdefault.aspx/tabid-14195/24618_read-64626 Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (2020). „Trotz Wettereinfluss - Corona-Effekt auf die Luftqualität nun eindeutig“, https://www.dlr.de/content/de/artikel /news/2020/02/20200505_corona-effekt-auf-luftqualitaet-eindeutig.html Ehlers, Ch. et al. Faraday Discussions (2016). "Twenty years of ambient observations of nitrogen oxides and specified hydrocarbons in air masses dominated by traffic emissions in Germany", Faraday Discuss. 2016, 189, 407, DOI: 10.1039/c5fd00180c, https://pubs.rsc.org/en/content/articlepdf /2016/fd/c5fd00180c ESA (2019). „Nitrogen dioxide pollution mapped“, http://www.esa.int/Applications/Observing _the_Earth/Copernicus/Sentinel-5P/Nitrogen_dioxide_pollution_mapped ESA (2020). „Air pollution remains low as Europeans stay at home“, http://www.esa.int/Applications /Observing_the_Earth/Copernicus/Sentinel-5P/Air_pollution_remains_low_as_Europeans _stay_at_home Forschungszentrum Jülich, Institut für Energie- und Klimaforschung, Troposphäre (IEK-8), Interview mit Franz Rohrer (2018). „Diesel-Debatte: ‚Mit Nachrüstungen und Umtauschaktionen für PKW allein lassen sich die Grenzwerte in Städten kaum einhalten‘ “, https://www.fzj.de/Shared- Docs/Meldungen/PORTAL/DE/2018/2018-09-27-diesel-debatte.html?nn=448936 Gilge, S., Plaß-Dülmer, C., Deutscher Wetterdienst (DWD) (2009). 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GAW-Brief Nr.75 „Niedrige Konzentrationen in der Atmosphäre - Ein Corona-Pandemie Effekt?, https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob /zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeissenberg/download /gaw_briefe/gaw_brief_075_de_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=2 Schink, A.(2020). „Dieselfahrverbote und Klimaschutz“, NuR (2020) 42: 145–149, https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s10357-020-3652-y.pdf Strunz, B., NDR (2020). „Bessere Luft auch dank Corona“, https://www.tagesschau.de/investigativ /ndr/stickoxid-corona-101.html Umweltbundesamt (2016). „Stickstoffoxide-Grenzwerte“, https://www.umweltbundesamt.de/themen /luft/luftschadstoffe/stickstoffoxide Umweltbundesamt (2019). „Stickstoffdioxid (NO2) im Jahr 2018, Stand: 3. 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