© 2017 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 030/17 Zum Schmerzempfinden von Hühnerembryonen Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 2 Zum Schmerzempfinden von Hühnerembryonen Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 030/17 Abschluss der Arbeit: 31. Juli 2017 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Zur Embryonalentwicklung von Hühnern 4 2. Zur Definition von Schmerzempfinden 4 3. Zur In-Ovo-Geschlechtsbestimmung bei Hühnerembryonen 5 4. Literatur zu Schmerzempfinden von Hühnerembryonen 5 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 4 1. Zur Embryonalentwicklung von Hühnern Das Huhn (Gallus gallus) zählt in Hinblick auf entwicklungsbiologische Studien zu den Modellorganismen für Vertebraten (Wirbeltiere). Dabei spielt mitunter das relativ große Ei, das Beobachtungen erleichtert, sowie eine große Verfügbarkeit eine entscheidende Rolle. Der Hühnerembryo entwickelt sich und schlüpft in 20 bis 21 Tagen. Historisch gesehen ist der Hühnerembryo einer der ersten experimentell untersuchten Embryonen: wie bereits oben gesagt leicht zugänglich, leicht zu inkubieren, und die Embryo-Entwicklung ist direkt zu beobachten. Hierzu wird ein kleines Fenster/Loch in die Eierschale geschnitten. Hamburger & Hamilton etablierten bereits 1951 einen Stage-Atlas1, der es erlaubte, bestimmte Entwicklungsereignisse genauer als durch Bebrütungstage festzulegen (hierbei werden 46 Entwicklungsstadien des Hühnerembryos definiert, abgekürzt werden die Stadien in der Literatur i.d.R. mit „HH“).2 Einen detaillierten Einblick in die Entwicklungsbiologie des Huhns bietet ein 1996 erschienenes Lehrbuch.3 Die Herausgeber dieses Buches haben bereits 1995 einen kürzeren Übersichtsartikel „The immunology and developmental biology of the chicken“ publiziert.4 2. Zur Definition von Schmerzempfinden Zur bewussten Schmerzwahrnehmung sind bei Säugetieren die sogenannten Nozizeptoren wichtig . Dabei handelt es sich um Rezeptoren, über die elektrische Signale mittels des Nervensystems bis zur Großhirnrinde weitergeleitet werden. Von Menschen ist durchaus bekannt, dass trotz einer vorliegenden Verletzung nicht notwendigerweise ein ausgeprägtes Schmerzempfinden vorliegen muss. Hier spielt eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle. Es ist also wichtig, zwischen bewusstem Schmerzempfinden und einer unbewussten Reizverarbeitung durch Nozizeption zu unterscheiden . Zudem ist bei Vögeln zu beachten, dass die Hirnrinde nicht ausgeprägt ist und daher eventuell andere Hirnareale eine Rolle in der Schmerzwahrnehmung spielen könnten. Prinzipiell gilt es wissenschaftlich als erwiesen, dass Vogelembryonen zur In-ovo-Nozizeption in der Lage sind.5 1 V Hamburger, H L Hamilton A series of normal stages in the development of the chick embryo. 1951. Dev. Dyn.: 1992, 195(4); 231-72. 2 Weitergehende Informationen sind im Internet abrufbar unter: https://embryology.med.unsw.edu.au/embryology /index.php/Chicken_Development#cite_note-PMID1304821-1 [zuletzt abgerufen am 20. Juli 2017]. 3 Olli Vainio, Beat A. Imhof: Current Topics in Microbiology and Immunology; Volume 212 1996; Immunology and Developmental Biology of the Chicken. 4 Vainio, O & Imhof, BA. (1995); Immunology Today 365 Vol. 16 No. 8 1995. Diese Publikation ist im Internet verfügbar unter: http://www.cell.com/immunology/pdf/0167-5699(95)80002-6.pdf [zuletzt abgerufen am 25. Juli 2017]. 5 Aleksandrowicz (2015); Bjørnstad (2015). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 5 Bislang divergiert die wissenschaftliche Meinung zum Zeitpunkt des Schmerzempfindens bei Hühnerembryonen. Die Wissenschaftler sind sich weitgehend einig, dass vor dem siebten Bebrütungstag keine Empfindungsfähigkeit vorliegt (dies entspricht dem Stadium 30-31 der HH-Entwicklungsstadien ) und sicherlich ab dem 15. Tag von einem Schmerzempfinden ausgegangen werden kann. Zwischen dem siebten und 15. Tag gehen hingegen die Meinungen der Wissenschaftler noch auseinander, in Abhängigkeit davon, auf welche Studien sie sich berufen. Auf einzelne Studien wird im vierten Kapitel der vorliegenden Arbeit eingegangen. Bei denjenigen Autoren, die sich auf einen sehr frühen Zeitpunkt des Schmerzempfindens berufen , wird zumeist eine 1961 erschienene russische Publikation herangezogen6. Kritiker wenden allerdings ein, dass in dieser Publikation weite Teile der Eischale entfernt wurden und somit ein ganz besonders starker Reiz ausgelöst wurde. Die Wissenschaftler sind weitestgehend der Meinung, dass zur Abklärung dieser wesentlichen Frage, ab wann ein Schmerzerleben tatsächlich vorliegt, weitergehende Forschung betrieben werden müsse. 3. Zur In-Ovo-Geschlechtsbestimmung bei Hühnerembryonen Um am bebrüteten Ei und bereits vor dem Schlüpfen das Geschlecht des werdenden Huhns bestimmen zu können, sind unterschiedliche Methoden entwickelt worden, die alle das Ziel verfolgen , noch vor dem Einsetzen des Schmerzempfindens beim Embryo das Geschlecht bereits ermittelt zu haben. Prinzipiell sind drei Arten der In-ovo-Geschlechtsbestimmung bekannt: die molekularbiologische , die spektroskopische und die endokrinologische Methode. Derzeit werden letztere beide Ansätze aktiv weiterentwickelt. „Bei der endokrinologischen Methode werden die Eier etwa neun Tage lang bebrütet. Dann wird von jedem Ei über eine Nadel etwas Flüssigkeit gewonnen. An diesen Proben wird das Geschlecht mit einem biotechnologischen Nachweisverfahren innerhalb kurzer Zeit bestimmt. Bei der spektroskopischen Geschlechtsbestimmung im Ei ("Infrarot-Raman-Spektroskopie") wird das Ei etwa vier Tage lang bebrütet. Dann werden ein kleines Loch in das Ei [gestochen] und ein spezieller Lichtstrahl in das Innere des Eis geschickt. Das Geschlecht wird durch eine Analyse des reflektierten Lichts bestimmt. Im Anschluss wird das Ei wieder verschlossen.“7 4. Literatur zu Schmerzempfinden von Hühnerembryonen Aleksandrowicz, E. and I. Herr (2015): Ethical euthanasia and short-term anesthesia of the chick embryo. ALTEX 32, 143-147. 6 Diese Publikation ist nur in russischer Sprache verfügbar und konnte im Rahmen dieser Arbeit daher nicht gelesen werden. 7 https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierwohl/_texte/Tierwohl-Forschung-In-Ovo.html [zuletzt abgerufen am 20. Juli 2017]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 6 In dem Forschungsartikel wird eine Methodik für die Euthanasie und kurzfristige Anästhesie von Hühnerembryonen vorgestellt. In der Einleitung wird auf das Schmerzempfinden von Hühnerembryonen eingegangen. Dabei bemerken die Autoren, dass die Fähigkeit hierzu sich schrittweise entwickele, beginnend am Tag sieben der Inkubation [gemäß Rosenbruch (1997)]. Am Tag 13 habe sich das Neuralrohr des Huhnes zu einem funktionalen Gehirn entwickelt. Dabei berufen sich die Autoren auf amerikanische Richtlinien (ACUC California State Polytechnic University, 2012, IACUC University of Louisville, 2012). Bjørnstad, S., L. P. E. Austdal, B. Roald, J. C. Glover and R. E. Paulsen (2015): Cracking the egg: potential of the developing chicken as a model system for nonclinical safety studies of pharmaceuticals . J. Pharmacol. Exp. Ther. 355, 386–396. In diesem Kurz-Übersichtsartikel werden Potenziale und Grenzen der Verwendung von Hühnereiern als Modell für Entwicklungsstudien zur Erforschung neuer Arzneimittel diskutiert. Zur Entwicklung des Schmerzempfindens äußern sich die Autoren wie folgt: Es existiere ein Konsens unter den Wissenschaftlern, dass der Vogel-Embryo die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden, an einem bestimmten Entwicklungspunkt im Ei ausbilde. Die ersten sensorisch afferenten Nerven im Huhn entwickelten sich am Tag vier. Die synaptische Verbindung mit dem Dorsalhorn sei aber nicht vor dem Tag 7 ausgeprägt. Die Wahrnehmung von Schmerzen im ersten Trimester sei also unmöglich. Dabei berufen sich die Autoren auf die Publikationen Eide (1995), Eide (1997) sowie Rosenbruch (1997). Tatsächlich ist allerdings aufgrund fehlender Kenntnis der Entwicklung des sog. Tractus Spinothalamicus der genaue Zeitpunkt, an dem der Hühnerembryo Schmerzen empfinden kann, nicht bekannt. Am Tag 13 verfügt der Hühnerembryo über ein funktionell entwickeltes Gehirn. Die Autoren verweisen auch auf die Ausführungen der „American Veterinary Medical Association guidelines for euthanasia“. Hierin werde festgehalten, dass der Vogelembryo nach dem Zeitpunkt der halben Bebrütungszeit über ein ausreichend entwickeltes zentrales Nervensystem zur Schmerwahrnehmung verfüge.8 Campbell M.L.H. et al. (2014): How should the Welfare of Fetal and Neurologically Immature Postnatal Animals be Protected? Anim Welf. 2014 November 1; 23 (4): 369-379. In diesem Übersichtsartikel wird insbesondere darauf hingewiesen, dass in der akademischen Literatur zu Tierschutz und Ethik dem rechtlichen Schutz von tierischen Embryonen bislang nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen wurde. In dem Artikel werden Arbeiten vorgestellt, die aufzeigen, dass Embryonen durchaus leiden können. Im Hinblick auf Hühnerembryonen wird die auch hier zitierte Publikation von Mellor (2007) herangezogen. Chumak, V. I. (1961). Dinamika reflektomykh reaktsii i vklyuchenie retseptornykh apparatov u embriona kuritsy (Dynamics of reflex reactions and initiation of receptor systems in the chick embryo). In Sbornik, (Hrsg.) Voprosy fiziologii i patologii tsentral'noi nervnoi sistemy cheloveka i zhivotnykli v ontogeneze, pp. 63-68. Moskva 8 Die “AVMA Guidelines for the euthanasia of Animals” sind im Internet abrufbar unter: https://www.avma.org/KB/Policies/Documents/euthanasia.pdf [zuletzt abgerufen am 20. Juli 2017]. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 7 In dieser Publikation wird von Reaktionen auf mechanische und thermische Reize am siebten Bebrütungstag berichtet. Es wird dabei ausgeschlossen, dass es sich bei den beschriebenen embryonalen Reaktionen um spontane Reaktionen des Embryos handelt. Begründet wird dies damit, dass Reaktionen auf äußere Stimulationen zu separaten Kopf- oder Flügelbewegungen führen, während sich spontane Bewegungen des Embryos darin äußern, dass man simultane motorische Aktivitäten von Kopf, Rumpf und Extremitäten beobachten kann. Reaktionen auf Geräusche lassen sich nicht vor dem 18. Tag beobachten.9 Wie bereits erwähnt wird bei dieser Publikation kritisiert , dass die angewandte Methodik nicht vergleichbar ist mit Methoden der In-Ovo-Geschlechtsbestimmung , da große Teile der Schale entfernt wurden. Eide, A. L. and J. C. Glover (1995): Development of the longitudinal projection patterns of lumbar primary sensory afferents in the chicken embryo. J. Comp. Neurol. 353, 247–259. In dieser Publikation studieren die Autoren die Entwicklung bestimmter Fortsätze von Nervenzellen mittels spezifischer Färbetechnik. Beginnend mit dem vierten Tag der Bebrütung, an dem die sog. Afferenten das Neuralrohr erreichen, wird die Entwicklung verfolgt. Die Längsaxone verlängern sich als einzelnes Bündel bis zum Tag 10. Danach werden die Längsaxone getrennt in „dorsal funiculus“ und „Lissauer tract“. Eide, A. L. and J. C. Glover (1997): Developmental dynamics of functionally specific primary sensory afferent projections in the chicken embryo. Anat. Embryol. (Berl.) 195, 237–250. Obige Untersuchungen [Eide (1995)] werden in diesem Forschungsartikel weiterentwickelt. Hamburger V. (1952): Development of the nervous system. Ann N Y Acad Sci. 1952 Aug 8;55(2):117-32. Online abrufbar unter: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1749- 6632.1952.tb26527.x/epdf In dieser Publikation wird ein differenziertes Staging der Hühnerembryoentwicklung eingeführt. Mellor, D.J. and T.J. Diesch (2007): Birth and hatching: Key events in the onset of awareness in the lamb and chick. New Zealand Vet. Journ. 55, 51-60. In diesem Übersichtsartikel, in dem u.a. die Erkenntnisse der neurologischen Entwicklung im Hühnerei zusammengefasst werden, wird argumentiert, dass die Entwicklung von rudimentären neuronalen Strukturen hin in Richtung zunehmender Größe, Komplexität und anatomischer Reife darauf schließen lasse, dass Bewegungen der Körper- und Gliedmaßen erst ab 60% der Inkubationszeit (ca. 13. Tag) durch spinale und/oder subkortikale neuronale Strukturen gesteuert würden. Vor-kortikale und kortikale Strukturen seien anfangs elektrisch still (bis 60% der Inkubation ), dann seien sporadische Spikes (70% der Zeit) und kurze Perioden von EEG-Aktivität 9 In G.E. Sviderskaya (1967): Influence of Sound on the motor activity of chick embryos; UDC 612.646.014:45:612,763-019:636.5, im Internet abrufbar unter: https://link.springer.com/content /pdf/10.1007/BF00789745.pdf . Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 030/17 Seite 8 messbar. Eine kontinuierliche undifferenzierte EEG-Aktivität entwickele sich bei 80% der Inkubationszeit und -reife voll aus in schlafähnliche Muster, wie sie nach dem Schlüpfen erkennbar seien (90% der Zeit). 10 Peters J, et al. (1965): Onset of cerebral electrical activity associated with behavioral sleep and attention in the developing chick, J. Exp. Zool. 160:255-262. Bipolare elektrische Aufnahmen von den Hirnlappen von Hühnerembryonen sowie von sich bewegenden Küken nach dem Schlüpfen zeigen, dass eine spontane elektrische Aktivität ab dem 11. bis 13. Tag der Inkubation beginnt. Elektroenzephalographische Muster, die für Verhaltensschlaf oder Aufmerksamkeit charakteristisch sind, erscheinen innerhalb von sechs Stunden nach dem Schlüpfen. Rosenbruch 1994: Frühe Entwicklungsstadien des bebrüteten Hühnereies als Modell in der experimentellen Biologie und Medizin, ALTEX 11, 4/94 In diesem Papier untersucht Rosenbruch bei der Firma Bayer zur Austestung von Pharmaka frühe Entwicklungsstadien des bebrüteten Hühnereies. In Hinblick auf die Ausbildung des Nervensystems beruft aber auch er sich auf Chumuk (1961). Rosenbruch, M. (1997): Zur Sensitivität des Embryos im bebrüteten Hühnerei. ALTEX 14, 111- 113. In dieser Publikation setzt Rosenbruch die Untersuchungen zum Einsetzen der Sensitivität im bebrüteten Hühnerei fort. Dabei stellt er fest: „Die Darstellung der schrittweise einsetzenden Funktionsfähigkeit des Nervensystems und der damit einhergehenden Sensitivität des Embryos zeigt, dass bei den experimentellen Untersuchungen bis zum siebten Bebrütungstag keine Sensitivität des Keimlings vorliegen kann. Und selbst bei Ausdehnung der Experimente bis zum zehnten Tag ist nur von einer eingeschränkten Empfindung des Hühnerembryos auszugehen.“ *** 10 Seite 53 in Mellor (2007) .