© 2021 Deutscher Bundestag WD 8 - 3000 - 025/21 Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule der Sekundarstufe I Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 2 Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule der Sekundarstufe I Aktenzeichen: WD 8 - 3000 - 025/21 Abschluss der Arbeit: 1. März 2021 Fachbereich: WD 8: Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Bildung und Forschung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule 4 1.1. Verschiedene Schularten in den Bundesländern 4 1.2. Voraussetzungen für den Wechsel auf eine weiterführende Schule 4 1.3. Grundschulempfehlung und/oder Elternwille 5 2. Studie über die Auswirkungen verbindlicher Grundschulempfehlungen 7 3. Zur aktuellen Debatte in Baden-Württemberg 7 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 4 1. Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule Der Wechsel nach der Grundschule in die Sekundarstufe I stellt den ersten großen Einschnitt in der Bildungslaufbahn der Schülerinnen und Schüler dar. Die Grundschulen unterscheiden sich zwar in ihren pädagogischen Ansätzen, sind aber Schulen für alle Kinder verpflichtend. Nach vier Jahren Grundschule – in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern teilweise nach sechs Jahren – erfolgt dann der Wechsel auf die weiterführende Schule und damit die Verteilung in unterschiedliche Schularten.1 1.1. Verschiedene Schularten in den Bundesländern „In vielen Bundesländern ist das traditionelle dreigliedrige Schulsystem aus Haupt- und Realschule sowie Gymnasium inzwischen von einem zweigliedrigen Schulsystem abgelöst worden. Neben dem Gymnasium gibt es in diesen Ländern also nur noch eine weitere Schulform, an der die Schülerinnen und Schüler verschiedene Abschlüsse ablegen können. An manchen Schulen können alle Abschlüsse bis zum Abitur abgelegt werden. Andere Schulen bieten nur den Realschul- bzw. den Mittleren Schulabschluss (MSA) oder den Ersten allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA) an. Je nach Bundesland tragen diese weiterführenden Schulen verschiedene Namen: In Berlin ist es die Integrierte Sekundarschule, in Hamburg die Stadtteilschule. In Niedersachsen, Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen ist es die Gesamtschule, in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein oder dem Saarland die Gemeinschaftsschule.“2 1.2. Voraussetzungen für den Wechsel auf eine weiterführende Schule „Welche Voraussetzungen ein Kind erfüllen muss, um von der Grundschule in die eine oder andere Schule zu wechseln, ist in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Einen Überblick gibt auch die Informationsschrift der Kultusministerkonferenz3 über die Regelungen zum Übergang in den Bundesländern. Ob ein Kind eine Grundschulempfehlung fürs Gymnasium bekommt, hängt zum Beispiel in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen oder Thüringen von seinen Noten ab. Dabei variiert der gewünschte Notendurchschnitt für eine Gymnasialempfehlung meist zwischen 2,0 und 2,5. Zum Teil werden alle Fächer berücksichtigt, in anderen zählen wiederum nur Mathe und Englisch oder nur die Hauptfächer. In anderen Bundesländern spielen bei der Grundschulempfehlung für den 1 Der nachfolgende Text stammt von: Kuhn, Annette (2021). Übergang. Auf welche weiterführende Schule nach der Grundschule? In: Das deutsche Schulportal, 28. Januar 2021. https://deutschesschulportal .de/bildungswesen/infografik-schuluebergang-auf-welche-schule-nach-der-grundschule/ 2 Ebenda. 3 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (2015). Übergang von der Grundschule in Schulen des Sekundarbereichs I und Förderung, Beobachtung und Orientierung in den Jahrgangsstufen 5 und 6 (sog. Orientierungsstufe). Informationsschrift des Sekretariats der Kultusministerkonferenz. Stand: 19.02.2015. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015_02_19- Uebergang_Grundschule-SI-Orientierungsstufe.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 5 Übergang auf die weiterführende Schule nicht nur die Noten eine Rolle. Auch Leistungsentwicklung und Lernverhalten können stärker ins Gewicht fallen.“4 1.3. Grundschulempfehlung und/oder Elternwille „In allen Bundesländern geben die Lehrkräfte Grundschulempfehlungen dazu ab, welche weiterführende Schule aus ihrer Sicht für das Kind richtig wäre. Dazu führen sie meist auch beratende Gespräche mit den Eltern. In manchen Bundesländern sind diese Beratungsgespräche verpflichtend für die Erziehungsberechtigten. Die Grundschulempfehlung hat in den Ländern unterschiedlich großes Gewicht. Das letzte Wort bei der Entscheidung, auf welche Schulart ein Kind dann tatsächlich wechselt, haben in der Regel aber die Eltern. Nur in wenigen Bundesländern wie Bayern, Brandenburg und Thüringen ist die Grundschulempfehlung verbindlich und steht letztlich über dem Elternwillen. Bis vor kurzem galt diese Regelung auch in Sachsen, die hier inzwischen gekippt wurde. Die Grundschulempfehlung hat zwar immer noch viel Gewicht, und Kinder müssen eine Aufnahmeprüfung machen, wenn die Noten nicht entsprechend sind. Letztlich ist aber der Elternwille ausschlaggebend. In Baden-Württemberg sollte die verbindliche Grundschulempfehlung 2020 wieder eingeführt werden, doch fand sich dafür im Landtag keine Mehrheit. Eltern in Bayern, Brandenburg oder Thüringen, die ihr Kind gegen die Grundschulempfehlung auf eine andere Schulform schicken wollen, können ihr Kind zum Probeunterricht an der weiterführenden Schule anmelden. Es besucht dann zwei oder drei Tage die gewünschte Schulart und wird dabei geprüft. Erfüllt es die Voraussetzungen, wird es für die Schulart zugelassen. Besteht es diese nicht, gilt weiterhin die Grundschulempfehlung. Auch in anderen Bundesländern müssen die Kinder eine Aufnahmeprüfung absolvieren oder am Probeunterricht teilnehmen, wenn der vorgegebene Notenschnitt für die weiterführende Schule nicht reicht. Eltern haben im Gegensatz zu Bayern in den beratenden Gesprächen oft Einfluss auf die Bildungsgangempfehlung.“5 4 Kuhn, Annette (2021). 5 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 6 Ebenda. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 7 2. Studie über die Auswirkungen verbindlicher Grundschulempfehlungen Im Jahr 2018 untersuchte eine Studie6 der Sozialwissenschaftlerin Kerstin Hoenig und des Soziologen Hartmut Esser, ob die verbindliche Grundschulempfehlung zu mehr Leistungsgerechtigkeit und weniger Bildungsungleichheit führt. Im Vordergrund stand die Fragestellung, inwieweit eine verbindliche Bildungsgangempfehlung zu einer Verteilung der Schülerschaft auf die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I führt, die weniger von der sozialen Herkunft beeinflusst wird. Die Auswertung der Daten von mehr als 3.000 Kindern aus der National Educational Panel Study (NEPS) ergab, dass eine verbindliche Grundschulempfehlung zwar zu einer leistungsgerechteren Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Schularten beiträgt, aber nicht entscheidend den Einfluss der sozialen Herkunft vermindert. Ihrer Ansicht nach besteht der Grund dafür vor allem darin, dass die Verbindlichkeit nur unzureichend praktiziert wird und Abweichungen von der Empfehlung für die weiterführende Schule in alle Richtungen möglich sind. Ein Kind mit Gymnasialempfehlung kann immer auch an einer Realschule oder einer Sekundarschule angemeldet werden, während für ein Kind ohne Gymnasialempfehlung in den meisten Bundesländern auch ein Gymnasialbesuch möglich ist, sobald die Eltern ein Veto einlegen. Die Autoren sind der Überzeugung, dass eine verbindliche Grundschulempfehlung durchaus mehr Leistungsgerechtigkeit erreichen könnte, wenn ein Abweichen von dieser Empfehlung nicht möglich wäre. Insbesondere talentierte Kinder aus sozial schwächeren Gesellschaftsschichten könnten davon profitieren, da ihre Eltern sie dann nicht mehr entgegen einer Gymnasialempfehlung an einer anderen Schulart anmelden könnten. 3. Zur aktuellen Debatte in Baden-Württemberg Am 19. März 2020 wurde im Landtag von Baden-Württemberg der Gesetzentwurf der Fraktion der FDP/DVP zur „Wiedereinführung einer verbindlichen Grundschulempfehlung“ mit den Stimmen von SPD, CDU und Bündnis 90/ Die Grünen mehrheitlich abgelehnt.7 Nach Ansicht FDP/DVP hatte der Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung dazu geführt, dass die baden-württembergischen Schüler in deutschlandweiten Leistungsvergleichen „abgesackt" seien und sich die Anzahl der Sitzenbleiber in den fünften Klassen der Realschulen und Gymnasien seit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung gestiegen seien. 6 Esser, H.; Hoenig, K. (2018). Leistungsgerechtigkeit und Bildungsungleichheit. Köln Z Soziol 70, 419–447 (2018). https://doi.org/10.1007/s11577-018-0558-2. 7 Landtag von Baden-Württemberg – 16. Wahlperiode – 116. Sitzung – Donnerstag, 19. März 2020. Zweite Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktion der FDP/DVP – Gesetz zur Wiedereinführung einer verbindlichen Grundschulempfehlung (Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Baden-Württemberg) – Drucksache 16/7463, S. 16 https://www.landtagbw .de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Plp/16_0116_19032020.pdf Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 8 In einer Pressemitteilung des Staatsministeriums Baden-Württemberg über die Übergänge von der Grundschule in eine weiterführende Schule der Sekundarstufe I für das Schuljahr 2020/2021 in Verbindung mit einer Grundschulempfehlung wurden dazu folgende statistische Zahlen veröffentlicht. „Von den Schülerinnen und Schülern, die auf eine Gemeinschaftsschule wechselten, hatten 65,3 Prozent (Vorjahr: 65,0 Prozent) eine Grundschulempfehlung für die Werkreal- /Hauptschule, 25,7 Prozent (Vorjahr: 26,3 Prozent) eine Grundschulempfehlung für die Realschule und 9,0 Prozent (Vorjahr: 8,7 Prozent) eine Grundschulempfehlung für das Gymnasium. Beim Übergang auf das Gymnasium brachten 1,1 Prozent der Schülerinnen und Schüler (genau wie im Vorjahr) eine Grundschulempfehlung für die Werkreal-/Hauptschule mit, 10,3 Prozent der Schüler (Vorjahr: 10,1 Prozent) kamen mit einer Empfehlung für die Realschule und 88,6 Prozent (Vorjahr 88,8 Prozent) mit einer Grundschulempfehlung für das Gymnasium. Von den Schülerinnen und Schülern, die auf eine Realschule wechselten, hatten 23,7 Prozent (Vorjahr: 23,8 Prozent) eine Grundschulempfehlung für die Werkreal-/Hauptschule, 55,8 Prozent (Vorjahr: 56,6 Prozent) eine Empfehlung für die Realschule und 20,5 Prozent (Vorjahr: 19,5 Prozent) eine Empfehlung für das Gymnasium. Schülerinnen und Schüler, die sich für eine Werkreal-/Hauptschule entschieden hatten, kamen mit folgenden Empfehlungen: 92,1 Prozent (Vorjahr: 92,3 Prozent) mit einer Grundschulempfehlung für die Werkreal-/Hauptschule, 6,9 Prozent (Vorjahr: 6,7 Prozent) mit einer Grundschulempfehlung für die Realschule und 1,0 Prozent (gleicher Wert im Vorjahr) mit einer Grundschulempfehlung für das Gymnasium.“ 8 Die relativ hohen Prozentsätze für den Wechsel von Schülerinnen und Schüler an eine Realschule bzw. an ein Gymnasium ohne eine entsprechende Grundschulempfehlung werden inzwischen zunehmend kritisch wahrgenommen. Die Pressemitteilung weist deshalb darauf hin, dass das Kultusministerium weiterhin daran arbeite, mehr Verbindlichkeit und Transparenz beim Übergangsverfahren zu schaffen. Am 15. Januar 2021 hat sich auch der Philologenverband Baden-Württemberg zusammen mit dem Realschullehrerverband zum Thema Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung geäußert. Die beiden Verbände fordern ebenfalls die Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung. 8 Staatsministerium Baden-Württemberg (2021). Übergänge auf weiterführende Schulen zum Schuljahr 2020/2021. Pressemitteilung vom 29.01.2021. https://stm.badenwuerttemberg .de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/uebergaenge-auf-weiterfuehrende-schulen-zumschuljahr -20202021/ Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 8 - 3000 - 025/21 Seite 9 „Aus Verbindlichkeit ist Beliebigkeit geworden, die allen Schularten gleichermaßen zusetzt. Diese Beliebigkeit der Schulwahl hat zu einer deutlichen Verschlechterung der Verhältnisse an den Schulen und zu enormen Belastungen der Kinder und Eltern sowie der Lehrkräfte an den weiterführenden Schulen geführt.“9 Die beiden Verbände sind der Ansicht, dass die Grundschulempfehlung klare Anhaltspunkte dazu gebe, welche weiterführende Schulart für ein Kind nach der vierten Klasse geeignet ist. *** 9 Philologenverband Baden-Württemberg (2021). Philologenverband und Realschullehrerverband mahnen dringend an: Gebt der Grundschulempfehlung die Verbindlichkeit zurück! Pressemitteilung vom 15. Januar 2021. https://www.phv-bw.de/philologenverband-und-realschullehrerverband-mahnen-dringend-an-gebt-dergrundschulempfehlung -die-verbindlichkeit-zurueck/