© 2015 Deutscher Bundestag WD 7 – 3000 - 283/14 Einstandspflicht eines Unternehmens für öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten eines Tochterunternehmens nach Maßgabe des Gesellschaftsrechts Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 2 Einstandspflicht eines Unternehmens für öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten eines Tochterunternehmens nach Maßgabe des Gesellschaftsrechts Verfasser: Aktenzeichen: WD 7 – 3000 – 283/14 Abschluss der Arbeit: 25. Februar 2015 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einführung 4 2. Haftung gemäß § 133 Umwandlungsgesetz 5 2.1. Umwandlungsrechtliche Spaltungsarten (§ 123 UmwG) 5 2.2. Gesamtschuldnerische Haftung nach § 133 Abs. 1 UmwG 5 2.3. Vorrangig Haftung der AKW-Betreiber-Tochtergesellschaft 6 3. Durchgriffshaftung der Konzernmutter 6 3.1. Grundlagen der Durchgriffshaftung 6 3.2. Grundsätzliche Anwendung der Durchgriffshaftung bei öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeiten 8 3.3. Haftungstatbestände 8 3.3.1. Existenzvernichtungshaftung 8 3.3.2. Unterkapitalisierung 9 3.3.3. Konzernhaftung 10 3.3.4. Abgrenzung zur Verlustübernahme gemäß § 302 AktG 10 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 4 1. Einführung Gegenstand vorliegender Ausarbeitung ist folgende, den Wissenschaftlichen Diensten im Zusammenhang mit der im November 2014 angekündigten Aufspaltung des E.ON-Konzerns1 aufgeworfene Fragestellung: „AKW-Betriebsgesellschaften müssen Rückstellungen für Rückbau der Atomkraftwerke und Entsorgung des Atommülls bilden. Derzeit ist eine muttergesellschaftliche Verpflichtung, bei Unterdeckung der nuklearen Entsorgungskosten bzw. bei zu geringer Haftungsmasse bzw. Insolvenz eines Konzernteils für die Deckung der nuklearen Entsorgungskosten einzustehen, konzernintern zwischen den AKW-Betriebsgesellschaften und ihren Muttergesellschaften durch Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge bzw. Patronatserklärungen abgesichert. Welche rechtlichen Möglichkeiten existieren innerhalb des bestehenden gesetzlichen Rahmens , den E.ON-Konzern für seine angekündigte Spaltung dazu zu verpflichten, dass beide künftigen Konzernteile bei Unterdeckung der nuklearen Entsorgungskosten bzw. bei zu geringer Haftungsmasse bzw. Insolvenz eines Konzernteils dauerhaft für diese einstehen müssen, auch wenn der Mutterkonzern seine Mehrheitsbeteiligung an der Tochtergesellschaft, auf die die Risiken für Rückbau der Atomkraftwerke, die Endlagerung und die Entsorgung des Atommülls übertragen wurden, aufgibt und keinen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abschließt bzw. einen solchen zum baldmöglichsten Zeitpunkt kündigt?“ Im Hinblick auf die Bearbeitung dieser Fragestellung, welche die Rechtsanwendung auf einen konkreten Sachverhalt erforderlich machte, wird darauf hingewiesen, dass die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages gemäß Ziffer 1.8 ihres Leitfadens keine Rechtsauskünfte im Einzelfall erteilen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass zur Beantwortung der konkreten Fragen ausführliche Sachverhaltsermittlungen notwendig wären, die hier nicht durchgeführt werden können. Insbesondere kann mangels Einsicht in Patronatserklärungen bzw. Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge, die eine Übernahme für die Entsorgungskosten vorsehen sollen, nicht deren Kündigungsmöglichkeiten geprüft werden. Deshalb beschränkt sich vorliegende Ausarbeitung auf die Erläuterung im Gesellschaftsrecht angelegter Haftungsregeln, die im Hinblick auf die Begründung der Einstandspflicht einer Konzernmutter für nukleare Entsorgungsverbindlichkeiten einer AKW-betreibenden Konzerntochter in Ansatz gebracht werden könnten. Demgemäß werden im Folgenden jeweils die Voraussetzungen für eine Haftung von Konzernteilen nach Maßgabe des Umwandlungsgesetzes (2.) und für eine Durchgriffshaftung der Konzernmutter (3.) angesprochen. 1 S. E.ON, Pressemitteilung vom 30.11.2014, abrufbar unter: http://www.eon.com/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen/2014/11/30/new-corporate-strategyeon -to-focus-on-renewables-distribution-networks-and-customer-solutions-and-to-spin-off-the-majority-of-anew -publicly-listed-company-specializing-in-power-generation-global-energy-trading-and-exploration-andproduction .html (25.2.2015) Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 5 2. Haftung gemäß § 133 Umwandlungsgesetz Betrachtet werden soll zunächst die Möglichkeit der Haftung der Konzernmutter für Verbindlichkeiten der Konzerntochter auf der Grundlage der Regelungen des umwandlungsrechtlichen Gläubigerschutzes im Gefolge von Unternehmensspaltungen (§§ 123, 133 UmwG). 2.1. Umwandlungsrechtliche Spaltungsarten (§ 123 UmwG) Bei einer Aufspaltung nach § 123 Abs. 1 UmwG überträgt der übertragende Rechtsträger sein gesamtes Vermögen auf zwei oder mehrere Rechtsträger, sog. aufnehmende Rechtsträger und wird daraufhin aufgelöst, d.h. der übertragende Rechtsträger hört rechtlich auf zu existieren. Als Gegenleistung für das übertragene Vermögen werden den Anteilsinhabern des übertragenden Rechtsträgers die Anteile am übernehmenden Rechtsträger gewährt. 2 Im Unterschied zu einer Aufspaltung überträgt bei einer Abspaltung nach § 123 Abs. 2 UmwG der übertragende Rechtsträger nicht sein ganzes Vermögen, sondern nur einen Teil seines Vermögens auf den übernehmenden Rechtsträger, und wird nicht aufgelöst. Als Gegenleistung für das abgespaltene Vermögen werden bei einer Abspaltung auch Anteile an dem aufnehmenden Rechtsträgers den Anteilsinhabern des übertragenden Rechtsträgers gewährt. In der Praxis ist die Abspaltung von größerer wirtschaftlicher Bedeutung als die Aufspaltung. Denn durch die Übertragung des gesamten Vermögens bei der Aufspaltung können höhere Kosten anfallen, als wenn nur ein Teil des Vermögens übertragen wird. Gehören bspw. zu dem gesamten Vermögen des übertragenden Rechtsträgers Grundstücke, so kann durch die Übertragung der Grundstücke Grunderwerbssteuer anfallen oder eine staatliche Genehmigung erforderlich werden. Hingegen verspricht die Abspaltung den Vorteil, dass weitestgehend bestimmt werden kann, welcher Teil des Vermögens des übertragenden Rechtsträgers auf den übernehmenden Rechtsträger übergehen kann.3 Somit ist die Abspaltung in der Praxis die kostengünstigere und einfachere Art der Spaltung.4 2.2. Gesamtschuldnerische Haftung nach § 133 Abs. 1 UmwG Nach § 133 Abs. 1 UmwG haftet im Falle einer Spaltung der übertragende Rechtsträger für die auf den übernehmenden Rechtsträger übertragenen Verbindlichkeiten gesamtschuldnerisch, wenn die Verbindlichkeit bereits vor der Abspaltung bei dem übertragenden Rechtsträger begründet worden sind. Hierzu zählen nicht nur zivilrechtliche Verbindlichkeiten, sondern 2 Stengel, in: Semler/Stengel, UmwG, 3. Aufl., 2012, § 123, Rn. 12. Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt , dass sich die Ausgliederung von der Abspaltung nur insoweit unterscheidet, dass die Anteile des übernehmenden Rechtsrägers an den übertragenden Rechtsträger selbst und nicht an die Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers gewährt werden; vgl. Stengel, in: Semler/Stengel, UmwG, 3. Aufl., 2012, § 123, Rn. 15. Im Übrigen gelten die für die Abspaltung geltenden Erwägungen auch für die Ausgliederung. 3 Stengel, in: Semler/Stengel, UmwG, 3. Aufl., 2012, § 123, Rn. 14. 4 Stengel, in: Semler/Stengel, UmwG, 3. Aufl., 2012, § 123, Rn. 14; so auch Kallmeyer/Sickinger, in: Kallmeyer , UmwG, 5. Aufl., 2013, § 123, Rn. 16; insoweit gilt der Grundsatz der Spaltungsfreiheit. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 6 auch öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten5 – wie vorliegend die Kostentragungspflicht für die Entsorgung von Atomkraftwerken, die aus dem im Umweltrecht geltenden Verursacherprinzip folgt.6 2.3. Vorrangig Haftung der AKW-Betreiber-Tochtergesellschaft Im Hinblick auf eine umwandlungsrechtlich zu begründende Einstandspflicht der Konzernmutter für nach einer Spaltung auf einen anderen Konzernteil übergegangene Entsorgungsverbindlichkeiten ist allerdings der Umstand bedeutsam, dass die Atomkraftwerke in Deutschland in der Praxis nicht von den Konzernmuttergesellschaften selbst betrieben werden, sondern von eigens hierfür gegründeten Tochtergesellschaften.7 Bei dieser Ausgangslage wäre im Falle der Abspaltung eines Atomkraftwerksbetriebs auf einen dritten Konzernteil nicht die Muttergesellschaft übertragender Rechtsträger im Sinne des § 123 UmwG, sondern lediglich die das AKW betreibende Tochtergesellschaft. Demgemäß würde die gesamtschuldnerische Haftung gemäß § 133 Abs. 1 UmwG für die beteiligten Tochtergesellschaften ausgelöst, nicht aber für die Konzernmutter. 3. Durchgriffshaftung der Konzernmutter Neben einer gesamtschuldnerischen Inanspruchnahme der Konzernmutter nach Maßgabe des Umwandlungsrechts wäre deren Haftung unter den engen Voraussetzungen einer „Durchgriffshaftung “ zu erwägen.8 3.1. Grundlagen der Durchgriffshaftung Dieses im Wege richterlicher Rechtsfortbildung geschaffene Rechtsinstitut, welches zunächst für die GmbH entwickelt worden ist9, bezeichnet die ausnahmsweise persönliche Haftung der Gesellschafter einer haftungsbeschränkten Kapitalgesellschaft für die Verbindlichkeiten jener 5 § 133 Abs. 3 UmwG nennt ausdrücklich öffentlich-rechtliche Verpflichtungen. 6 Vgl. Antwort des Staatssekretärs Baake vom 9. Juli 2014 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), BT-Drs 18/2090, S. 5 (Frage 9): „Die jeweiligen AKW-Betreiber haben uneingeschränkt sämtliche Kosten des Rückbaus und der Stilllegung von Kernkraftwerken sowie der Entsorgung radioaktiver Abfälle zu tragen. Nach dem geltenden Verursacherprinzip liegt die volle Kostenverantwortung bei den Unternehmen. Dabei muss gewährleistet sein, dass die erforderlichen finanziellen Mittel im Bedarfsfall sicher zur Verfügung stehen.“ 7 Siehe hierzu die Konzernstruktur auf der Homepage der jeweiligen Atomkonzerne. 8 Die Frage nach einer Durchgriffshaftung eines Atomkonzerns wurde bereits im Niedersächsischen Landtag auf Anfrage der Grünen aufgeworfen, siehe Kleine Anfrage LT-Drs. 16/1312, Frage 4. 9 Siehe zur Übertragbarkeit der Durchgriffshaftung auf die Aktiengesellschaft Schall, FS-Stilz 2014, S. 538 (541). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 7 Gesellschaft,10 wobei nicht notwendigerweise ein Konzernverhältnis zwischen Gesellschafter und Gesellschaft bestehen muss.11 Die persönliche Inanspruchnahme der Gesellschafter aufgrund der Rechtsfigur der Durchgriffshaftung ist deshalb nur in sehr seltenen Ausnahmefällen möglich,12 weil dadurch das im Kapitalgesellschaftsrecht zentrale Trennungsprinzip durchbrochen wird, demzufolge Gesellschafter nicht persönlich für Gesellschaftsverbindlichkeiten haften. Diese Durchbrechung des Trennungsprinzips beruht auf dem Rechtsgedanken, dass ein Gesellschafter die ihm durch die Kapitalgesellschaft ermöglichte Haftungsbeschränkung nicht dazu missbrauchen darf, eigene Risiken auf die Kapitalgesellschaft abzuwälzen, um so einer persönlichen Inanspruchnahme durch die Gläubiger zu entgehen.13 Die praktische Bedeutung der Durchgriffshaftung ist daher bislang überaus gering geblieben14. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass es sich bei der Durchgriffshaftung keineswegs um eine tatbestandlich festumrissene Rechtsfigur handelt, sondern ihre einzelnen Voraussetzungen in Literatur und Rechtsprechung lebhaft umstritten sind und die höchstrichterliche Rechtsprechung sich hierzu mehrmals änderte.15 Insbesondere ist umstritten, ob auf Rechtsfolgenseite eine unmittelbare Außenhaftung der Gesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern oder nur eine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft greift.16 Diskutiert wird ein Haftungsdurchgriff in den Fallgruppen der Unterkapitalisierung, Vermögensvermischung, Sphärenvermischung, Konzernhaftung und existenzvernichtenden Eingriff.17 10 Siehe zu dem Begriff der Durchgriffshaftung Grigoleit, AktG, 2013, § 1, Rn. 90. 11 Mit der Bremer Vulkan-Entscheidung BGH, NZG 2002, S. 38 gab der BGH die bisherige dogmatische Konzeption der Durchgriffshaftung bei einem qualifiziert faktischen Konzern zugunsten einer weiter reichenden , nicht nur auf Konzernfälle beschränkenden Durchgriffshaftung nach § 826 BGB auf; siehe hierzu Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13, Rn. 48. 12 Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13, Rn. 43. 13 Grundlegend am Beispiel der GmbH BGH, NJW 1960, S. 285 (288). 14 Zur geringen praktischen Relevanz der Durchgriffshaftung Grigoleit, AktG, 2013, § 1, Rn. 90 mwN; Krieger in: MünchHdb AG, 3. Aufl., 2007, § 69, Rn. 34. 15 Siehe eine Übersicht zu den verschiedenen dogmatischen Begründungsansätzen der Durchgriffshaftung bei Fock, in: Spindler/Stilz, Aktiengesetz, Band 1, 2. Aufl., 2010, § 1, Rn. 38-51. 16 Michalski, GmbHG, 2. Aufl., 2010, § 13, Rn. 350. 17 Michalski, GmbHG, 2. Aufl., 2010, § 13, Rn. 351. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 8 3.2. Grundsätzliche Anwendung der Durchgriffshaftung bei öffentlich-rechtlichen Verbindlichkeiten Dass die Durchgriffshaftung allgemein zur Durchsetzung öffentlich-rechtlicher Verbindlichkeiten – wie hier die die Entsorgungskosten – herangezogen werden kann, steht zwar nicht auf festem dogmatischen Boden.18 Eine Inanspruchnahme der Gesellschafter für eine öffentlich-rechtliche Gesellschaftsschuld – und hier eine Inanspruchnahme der Muttergesellschaft durch die zuständige Behörde – dürfte allerdings grundsätzlich möglich sein, sofern die sehr engen Voraussetzungen der Durchgriffshaftung vorliegen sollten. Hierfür spricht zum einen, dass die Rechtsprechung vereinzelt einen Haftungsdurchgriff auch bei öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen anerkannt hat.19 Zum anderen zeigt ein Vergleich mit § 4 Abs. 3 S. 4 1. Alt. Bundes- Bodenschutzgesetz, dass der Gesetzgeber es für möglich gehalten hat, eine öffentlichrechtliche Sanierungspflicht unter den Voraussetzungen der (gesellschaftsrechtlichen) Durchgriffshaftung durchzusetzen. Denn nach § 4 Abs. 3 S. 4 1. Alt. Bundes-Bodenschutz-Gesetz ist eine Durchgriffshaftung der Gesellschafter für eine öffentlich-rechtliche Sanierungspflicht möglich, wenn ihrer Gesellschaft ein kontaminiertes Grundstück gehört und die Gesellschaft die Sanierung nicht mit eigenen Mitteln leisten kann.20 3.3. Haftungstatbestände 3.3.1. Existenzvernichtungshaftung Die Existenzvernichtungshaftung, die der BGH mittlerweile auf § 826 BGB stützt21, setzt einen vorsätzlichen und sittenwidrigen Eingriff in das Vermögen der GmbH voraus, der zur Insol- 18 In der Literatur wird die Inanspruchnahme von Gesellschaftern für öffentlich-rechtliche Verpflichtungen unter der Voraussetzung der Durchgriffshaftung überwiegend in Zusammenhang mit § 4 Abs. 3 Satz 4 1. Alt. Bundes-Bodenschutzgesetz diskutiert; siehe hierzu zuletzt Schlemminger/Apfelbacher, NVwZ 2013, S. 1389 (1392) die darauf hinweisen, dass eine Anwendung der Durchgriffshaftung auf andere öffentlich-rechtliche Verpflichtungen als die Sanierungspflicht nach § 4 Abs. 3 BBodSchG noch einer gesonderten Betrachtung bedürfe; so auch Fleischer/Empt, ZIP 2000, S. 905 (913). 19 BSG, NJW 1963, S. 1373; BSG, NJW 1978, S. 2527; BSG, ZIP 1984, S. 1217, BSG, ZIP 1996, S. 1134; herauf aufmerksamen machend Fleischer/Empt, ZIP 2000, S. 905 (906); Vierhaus, NJW 1998, S. 1262 (1265). 20 Becker, BBodSchG, Stand 2007, Rn. 1; zu dem Zweck des § 4 Abs. 3 Satz 4 1 Alt. Bundes-Bodenschutz- Gesetz, einem Störer zu verwehren, sich durch gesellschaftsrechtliche Gestaltung einer Sanierungspflicht zu entziehen und damit die Kosten der Sanierung der öffentlichen Hand aufzubürden, siehe Tiedemann, NVwZ 2008, S. 257 (258). In der Literatur wird die Durchgriffshaftung für öffentlich-rechtliche Verbindlichkeiten überwiegend im Zusammenhang mit § 4 Abs. 3 Satz 4 1 Alt. Bundes-Bodenschutz-Gesetz diskutiert. 21 Zuerst wurde die Existenzvernichtungshaftung als Außenhaftung der Gesellschafter auf eine analoge Anwendung der §§ 302, 322 AktG gestützt, siehe hierzu die Autokran-Entscheidung BGH, ZIP 1985, 1263, 1265 Siehe grundliegend zur Existenzvernichtungshaftung die Trihotel-Entscheidung des BGH, ZIP 2007, S. 1552, Rn. 16ff., 23ff. siehe eine Übersicht zu der wechselhaften Entwicklung der Rechtsprechung des BGH bei Stöber, ZIP 2013, S. 2295 (2296) und Schreiber, Konzern 2014, S. 435 (436-437). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 9 venz einer GmbH22 führt. Rechtsfolge der Existenzvernichtungshaftung ist die Innenhaftung der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft.23 Eine Inanspruchnahme der Muttergesellschaft durch die zuständige Behörde würde demzufolge ausscheiden. In Betracht käme nur eine Haftung der Muttergesellschaft gegenüber der Tochtergesellschaft selbst. Innerhalb der Existenzvernichtungshaftung sind im Wesentlichen folgende Fallgruppen anerkannt : - Abzug von Finanzmitteln, - Abzug von Vermögensgegenständen und unternehmerischen Teilfunktionen, - Verlagerung von Geschäftsvorteilen und Erwerbschancen, - Eingehung unvertretbarer Risiken.24 Ob diese Voraussetzungen vorliegen, kann nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. 3.3.2. Unterkapitalisierung Im Unterschied zum existenzvernichtenden Eingriff spricht man von Unterkapitalisierung, wenn die Kapitalgesellschaft nicht in ihrem Stamm- oder Grundkapital bedroht wird, sondern nicht über ausreichendes Eigenkapital verfügt, um ihre Geschäftstätigkeit vorzunehmen.25 Als Fallgruppe der Durchgriffshaftung wird die materielle Unterkapitalisierung diskutiert,26 die anzunehmen ist, wenn die Gesellschafter die Gesellschaft mit völlig unzureichenden Kapital für ihre Geschäftstätigkeit ausstatten, sodass auch bei normalem Geschäftsverlauf ein hohes Risiko der Insolvenz besteht, welche das gewöhnliche Geschäftsrisiko deutlich übersteigt.27 22 Die Entwicklung der Existenzvernichtungshaftung durch die Rechtsprechung zunächst für die GmbH, siehe zur Übertragbarkeit der Existenzvernichtungshaftung auf die Aktiengesellschaft Schall, in: FS-Stilz, 2014, S. 537 (544ff). 23 Sein Konzept der auf § 826 BGB gestützten Innenhaftung hat der BGH in neuerer Rechtsprechung bestätigt; siehe hierzu die Gamma-Entscheidung des BGH, ZIP 2008, S. 1232, Rn. 10, die Sanitary-Entscheidung BGH, ZIP 2009, S. 802, Rn. 14 und zuletzt das Spritzgussmaschinen-Urteil BGH, ZIP 2013, S. 894, Rn. 20 ff. 24 Liebscher, in: MünchKomm GmbHG, Anhang GmbH-Konzernrecht, 2010, Rn. 548 ff.; Hermann/v. Woedtke, BB 2012, S.2255 (2258). 25 Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 5, Rn. 6. Siehe in diesem Kontext die Differenzierung zwischen nomineller und materieller Unterkapitalisierung bei Spindler/Stilz/Fock, Aktiengesetz, Band 1, 2. Aufl., 2010, § 1, Rn. 60-61. 26 Siehe hierzu Strohn, ZInso 2008, S. 706 (719); Kleindiek, NZG 2008, S. 686 (688); Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG, Bd. 1, 2. Aufl. 2010, § 43, Rn. 297a; insbesondere zu den verschiedenen diskutierten Ansätzen der Durchgriffshaftung wegen materieller Unterkapitalsierung K.Schmidt, ZIP 1998, S. 1497 (1505) und Ulmer/Hachenburg, GmbHG, Bd. II, 2008 Anh. § 30, Rn. 11ff. 27 Diese Definition der materiellen Unterkapitalisierung bei Wilhelmini, in: Beck’scher Online-Kommentar GmbHG, 20. Auflage, 2014, § 13, Rn. 151. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 10 Die rechtliche Grundlage einer Durchgriffshaftung aufgrund einer materiellen Unterkapitalisierung ist nach umstrittener Auffassung in der Literatur § 826 BGB28, wobei als Rechtsfolge im Unterschied zu dem Existenzvernichtenden Eingriff eine Außenhaftung des Gesellschafters gegenüber dem Gesellschaftsgläubigeres eintritt.29 Eine mögliche Durchgriffshaftung der Gesellschafter aufgrund einer materiellen Unterkapitalisierung ist durch die Rechtsprechung des BGH keineswegs rechtlich abgesichert. Denn einer allgemeinen Haftung der Gesellschafter allein wegen einer Unterkapitalisierung hat der BGH eine Absage erteilt30 und vielmehr den Anwendungsbereich der Durchgriffshaftung wegen einer Unterkapitalisierung nur auf Ausnahmefälle eingegrenzt.31 Ob solch ein Ausnahmefall einschlägig ist, könnte nur anhand der Überprüfung des Einzelfalls beurteilt werden. 3.3.3. Konzernhaftung Im Zusammenhang mit der Durchgriffshaftung wird zwar noch als weitere Gruppe die Konzernhaftung diskutiert.32 Hierunter wird eine konzernspezifische Außenhaftung der Muttergesellschaft gegenüber den Gläubigern der Tochtergesellschaft verstanden, die aber im Ergebnis abgelehnt wird.33 Eine direkte Inanspruchnahme der Muttergesellschaft gegenüber der zuständigen Behörde würde demzufolge ausscheiden. 3.3.4. Abgrenzung zur Verlustübernahme gemäß § 302 AktG Nicht zu verwechseln mit der Durchgriffshaftung ist der Anspruch von Gläubigern einer Tochtergesellschaft gegen die Muttergesellschaft nach § 302 AktG. Voraussetzung hierfür ist, dass zunächst ein Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag zwischen Mutter- und Toch- 28 Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG, Bd. 1, 2. Aufl. 2010, § 43, Rn. 297a; Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 19. Aufl. 2010, § 5, Rn. 5; Kleindiek, NZG 2008, S. 686 (688). 29 Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13, Rn. 50. 30 Siehe die Gamma-Entscheidung des BGH, ZIP 2008, S. 1232; die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesarbeitsgerichts haben in wenigen Fällen eine Haftung der Gesellschafter wegen einer Unterkapitalisierung der Gesellschaft bejaht, siehe BSG, ZIP 1984, S. 1217; ZIP 1994, S. 1944; ZIP 1996, S. 1134; auch BAG ZIP 1999,S. 876. 31 Dies betont der BGH in BGH, ZIP 2008, S. 1232; BGHZ 54, S. 222 (224) – Siedlerfall; Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13, Rn. 47. 32 Funke, in Michalski, GmbHG, 2. Aufl. 2010, § 13, Rn. 375; zur Geltung der Durchgriffshaftung im Konzernrecht siehe Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 10. Aufl.., 2013, § 20, Rn. 25. Die Qualifizierung als Fallgruppe der Durchgriffshaftung wird abgelehnt von Heider, in: MünchKomm AktG, 3. Aufl., 2008, § 1, Rn. 64; eine Außenhaftung befürwortet Emmerich, in: Scholz, GmbHG, Bd. 1, 12. Aufl., § 13, Anh. Rn. 120 ff. 33 Bis zur Bremer Vulkan-Entscheidung (NZG 2002, S. 32) stützte der BGH eine konzernspezifische Außenhaftung der Muttergesellschaft gegenüber Gläubigern der Tochtergesellschaft auf die Lehre des „qualifiziert faktischen Konzerns“; eine konzernspezifische Durchgriffshaftung hat der BGH mit der Entscheidung „Bremer Vulkan“ zugunsten der weiter reichenden, also nicht nur auf Konzernverhältnisse beschränkten Durchgriffshaftung aufgegeben, siehe auch Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 20. Aufl. 2013, § 13, Rn. 48. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 283/14 Seite 11 tergesellschaft bestand, der Anspruch gegen die Tochtergesellschaft vor der Eintragung der Beendigung des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages in das Handelsregister entstanden ist und die Gläubiger sich sechs Monate nach der Eintragung der Beendigung des Beherrschungs - und Gewinnabführungsvertrages bei der Muttergesellschaft melden.34 Eine Pflicht der Muttergesellschaft zur Sicherheitsleistung nach § 302 AktG gegenüber der Behörde, die die Entsorgung des Atomkraftwerks angeordnet hat, kommt nur in Betracht, wenn die Verpflichtung zur Entsorgung des Atomkraftwerks nach der Abspaltung der Entsorgungsverbindlichkeiten und vor der Beendigung eines bestehenden Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrages begründet worden ist. Eine darüber hinausgehende Haftung der Muttergesellschaft besteht nicht. 34 Veil, in: Spindler/Stilz, Aktiengesetz, Band 2, 2. Aufl., 2010, § 303, Rn. 1.