Freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege - Ausarbeitung - © 2006 Deutscher Bundestag WD 7 - 255/06 Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages Verfasser/in: Freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei Pflegebedürftigen in häuslicher Pflege Ausarbeitung WD 7 - 255/06 Abschluss der Arbeit: 30.10.2006 Fachbereich WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Die Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste sind dazu bestimmt, Mitglieder des Deutschen Bundestages bei der Wahrnehmung des Mandats zu unterstützen. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Diese bedürfen der Zustimmung des Direktors beim Deutschen Bundestag. Inhalt 1. Einleitung 4 2. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen durch ambulante Pflegedienste bei Betreuten in häuslicher Pflege 5 2.1. Das Betreuungsverhältnis 5 2.2. Aufenthalt in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung 6 2.3. Mittel der Freiheitsentziehung 7 2.4. Zeitraum 8 2.5. Verhältnismäßigkeit 8 2.6. Voraussetzungen der Genehmigung 8 2.7. Zusammenfassung 9 3. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei Betreuten in häuslicher Pflege, die von der Familie gepflegt werden 9 3.1. Der Wortlaut des § 1906 Abs. 4 BGB hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen durch Angehörige 10 3.2. Gesetzesmaterialien, Beschluss des 57. Deutschen Juristentages 11 3.3. Die Auslegung des § 1906 Abs. 4 BGB in der gerichtlichen Praxis 11 3.4. Die Ansichten der Fachliteratur 13 3.4.1. Die herrschende Meinung 13 3.4.2. Die Minderheitsmeinung 14 3.5. Zusammenfassung 15 4. Besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf? 15 4.1. Gesetzesbedarf hinsichtlich der Einbeziehung von Freiheitsentziehungen durch ambulante Pflegedienste 16 4.2. Gesetzesbedarf hinsichtlich der Einbeziehung von Freiheitsentziehungen durch Familienangehörige 16 4.2.1. Grundlegende Divergenz in Rechtsprechung und Literatur 16 4.2.2. Wachsende Anzahl von regelungsbedürftigen Fällen 16 4.2.3. Eigene Auffassung zur Notwendigkeit einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle bei der Betreuung durch Angehörige 19 5. Fazit 20 - 4 - 1. Einleitung Mit Blick auf die Alterstruktur der Bundesrepublik Deutschland und das häufige Auftreten von Demenzerkrankungen im hohen Alter sind Menschen, die aufgrund hirnorganischer Veränderungen im Alter der rechtlichen Betreuung unterstehen, ins Zentrum des Interesses gerückt. Die eingeschränkte Mobilität, die Verringerung der kognitiven Funktion des älteren Menschen und das Sturzrisiko sind häufig Faktoren für die Anwendung von Fixierungsmaßnahmen. Vor allem bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen wie Demenz, die typischerweise zu einer erhöhten Bewegungsaktivität in der Nacht neigen, werden freiheitsbeschränkende Maßnahmen angewendet, um ein zielloses nächtliches Umherirren mit eventuell auftretender Sturzgefahr zu verhindern. Die Verwendung von Bettgurten oder Bettgittern ist heute in Deutschland in vielen Altersheimen , stationären Einrichtungen in Krankenhäusern oder sonstigen Anstalten Realität. Wenn Betreuten, die sich in einer Anstalt oder in einem Heim aufhalten, durch solche mechanischen Vorrichtungen die Freiheit entzogen werden soll, so ist nach § 1906 Abs. 4 BGB1 i.V.m. Abs. 2 die Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes einzuholen. Wie aber verhält es sich, wenn diese Maßnahmen bei pflegebedürftigen Menschen angewendet werden, die sich in häuslicher Pflege befinden, und inwieweit werden die Grundrechte dieser Menschen durch bestehende Gesetze geschützt? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden und zudem erläutert werden, ob und inwiefern gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Für die exakte Beantwortung dieser Frage müssen zwei verschiedene Fallkonstellationen differenzierend betrachtet und rechtlich untersucht werden. Es kommen dabei folgende Konstellationen in Betracht : 1. Die pflegebedürftige Person untersteht der rechtlichen Betreuung nach § 1896 ff. BGB und wird zu Hause von einem ambulanten Pflegedienst gepflegt. (s. unter 2.) 2. Die pflegebedürftige Person untersteht der rechtlichen Betreuung nach § 1896 ff. BGB und wird zu Hause von der Familie gepflegt. (s. unter 3.) 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.01.2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909 und BGBl. 2003 I S. 738), zuletzt geändert durch Gesetz vom 05. 09. 2006 (BGBl. I S. 2098) - 5 - 2. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen durch ambulante Pflegedienste bei Betreuten in häuslicher Pflege Ausgangspunkt für die rechtliche Zulässigkeit von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei Betreuten ist die Regelung des § 1906 Abs. 4 BGB, der durch das Erfordernis einer Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht einen umfassenden Schutz der grundgesetzlich garantierten persönlichen Freiheit eines jeden Menschen sichert. Der Betreuer ist befugt, unter den Voraussetzungen des § 1906 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 und grundsätzlich nach Einholung einer gerichtlichen Genehmigung eine Anordnung mit Wirkung für den Betreuten zu treffen, die freiheitsentziehend wirkt. Die Anordnung des Betreuers nach § 1906 Abs. 4 BGB setzt demgemäß voraus, dass gegenüber einem Betreuten (angeordnete Betreuung), vgl. Ziffer 2.1. der sich in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, ohne untergebracht zu sein, vgl. Ziffer 2.2. eine freiheitsentziehende Maßnahme durch mechanische Vorrichtung, Medikamente oder auf andere Weise angeordnet wird, vgl. Ziffer 2.3. die über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig erfolgt. Vgl. Ziffer 2.4. 2.1. Das Betreuungsverhältnis Die Genehmigungspflicht für freiheitsbeschränkende Maßnahmen betrifft grundsätzlich Menschen, für die ein Betreuer bestellt wurde oder die eine andere Person schriftlich mit der Einwilligung in Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4 bevollmächtigt haben. Der Aufgabenkreis des Betreuers muss sich ausdrücklich auf die beabsichtigten Grundrechtseingriffe beziehen2, d. h., er muss sich entweder direkt auf unterbringungsähnliche Maßnahmen erstrecken, oder er muss erkennen lassen, dass solche Maßnahmen mit umfasst sind. Die Übertragung des Aufgabenbereichs „Aufenthaltsbestimmung“ ist diesbezüglich ausreichend3. Dagegen ist der weite Aufgabenbereich der „Personensorge “ und der „Gesundheitsfürsorge“ im Hinblick darauf, dass mit der Eingriffsbefugnis des Betreuers zentrale Freiheitsrechte des Betreuten berührt werden, nicht ausreichend konkretisiert4. Deshalb muss das Gericht den Umfang der Betreuung so exakt umschreiben , dass die Befugnis des Betreuers zur Begrenzung der Fortbewegungsfreiheit des Betreuten hinreichend deutlich wird. 2 Marschner/Volckart, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4. Auflage 2001, § 1906 Rn. 47. 3 Damrau/Zimmermann, Betreuungsrecht, 3. Auflage 2001, § 1906 Rn. 12. 4 Bieg/Jaschinski, jurisPK, 3. Auflage 2006, § 1906 BGB Rn. 16. - 6 - Eine Maßnahme ist nicht genehmigungsbedürftig, wenn sie mit wirksamer Einwilligung des Betreuten geschieht. Diese setzt die klar geäußerte Zustimmung des Betroffenen und dessen Einwilligungsfähigkeit voraus. Diese Fähigkeit ist nur gegeben, wenn der Betroffene das Wesen, die Bedeutung und die Tragweite der Maßnahme zu erkennen vermag5. Bedarf der Betroffene eines Betreuers für den Bereich der Aufenthaltsbestimmung , so ist die Einwilligungsfähigkeit in aller Regel zweifelhaft. 2.2. Aufenthalt in einer Anstalt, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung Der Genehmigungsvorbehalt betrifft grundsätzlich alle diejenigen Betreuten, die sich in einer Anstalt, einem Heim oder in einer sonstigen Einrichtung aufhalten. Es werden somit insbesondere die Rechte der stationär Pflegebedürftigen gestärkt, denn auch die nicht selbst Bestimmungsfähigen, die auf die Pflege in einer professionellen Einrichtung angewiesen sind, haben umfassende Freiheitsrechte. Umfasst sind alle stationären Einrichtungen der Altenhilfe (Altenheime und Altenpflegeheime), der Behindertenhilfe sowie der Psychiatrie. In Betracht kommen zudem Allgemeinkrankenhäuser und teilstationäre Einrichtungen. Der Einrichtungsbegriff ist vom Schutzzweck der Norm her weit auszulegen6. Auch wenn Außenwohngruppen oder betreute Wohngruppen von dem Begriff der Einrichtung mit umfasst werden7, so ist zweifelhaft, ob dies auch für die eigene Wohnung des Betreuten gilt, wenn dieser von ambulanten Pflegediensten dort versorgt wird. Die Subsumtion unter den Begriff der „sonstigen Einrichtung“ erfordert einen einer stationären Einrichtung vergleichbaren institutionellen Rahmen, der durch einen Dritten vorgegeben wird8. So hat das Landgericht Hamburg 1994 in einem Fall, in dem eine an Demenz erkrankte Betreute nach der Versorgung durch den tätigen Pflegedienst von diesem nach Verlassen der Wohnung eingeschlossen wurde, um die altersverwirrte Frau am Verlassen der Wohnung zu ihrem eigenen Schutz zu hindern, die Wohnung der Betreuten als „sonstige Einrichtung“ i. S. v. § 1906 Abs. 4 BGB qualifiziert 9. Aufgrund der besonderen Herrichtung der Wohnung der Betreuten sowie der Einbeziehung bestimmter dritter Personen in die tatsächliche Pflege und Beaufsichtigung unterfalle die eigene Wohnung in diesem Fall der Regelung des § 1906 Abs. 4 BGB. Zudem führt das Gericht aus, dass „die Rechtsgarantien der Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG erfordern, 5 Münchner Kommentar/Schwab, 4. Auflage 2002, § 1906 Rn. 43. 6 Münchner Kommentar/Schwab, 4. Auflage 2002, § 1906 Rn. 28. 7 Soergel/Zimmermann, Kommentar zum BGB, 13. Auflage 2000, § 1906, Rn. 72. 8 Grauer, Freiheitsentziehung in der eigenen Wohnung oder in einer offenen Einrichtung, BtPrax 1999, S. 20, S. 22. 9 LG Hamburg, Beschluß vom 9.9.1994 – 301 T 206/94, FamRZ 1994, S. 1619. - 7 - dass eine Freiheitsentziehung des Betreuten unabhängig von der Qualifikation des Aufenthaltsortes jedenfalls dann der vormundschaftlichen Genehmigung bedarf, wenn diese außerhalb der Familie erfolgt (…)“. In Übereinstimmung mit dieser Rechtsaufassung kommt auch das Landgericht München I in einem vergleichbaren Fall zum selben Ergebnis, da nach Auffassung des Gerichtes nicht ausschlaggebend sein kann, ob der Betreute in einem Seniorenwohnheim oder in einer Pflegeabteilung eines Wohnheims mit abgeschlossenen Wohnungen lebt oder in seiner eigenen Wohnung von einem ambulanten Pflegedienst gepflegt wird10. Durch das Übertragen der Pflegeaufgaben auf externe professionelle Pflegekräfte sei auch die eigene Wohnung insoweit hinreichend „institutionalisiert“ und das Genehmigungserfordernis nach § 1906 Abs. 4 BGB zu erfüllen. Diese Ansichten erscheinen zustimmungswürdig, wenn man berücksichtigt, dass der in seiner eigenen Wohnung lebende Betreute ohne eine Einbeziehung seiner Wohnsituation in den Begriff der „sonstigen Einrichtung“ schlechter gestellt wäre als der Heimbewohner , bei dem freiheitsentziehende Maßnahmen erst nach einem gerichtlichen Verfahren zulässig sind. Der Schutz des Interesses des Betreuten vor ungerechtfertigten Freiheitsbeschränkungen gebietet die Ausdehnung des Begriffes der sonstigen Einrichtung in § 1906 Abs. 4 BGB und somit des Genehmigungserfordernisses auch auf die Fälle, in denen er in seiner eigenen Wohnung durch professionelle Pflegekräfte gepflegt wird. 2.3. Mittel der Freiheitsentziehung Der Begriff der freiheitsentziehenden Maßnahmen umfasst alle diejenigen Freiheitsbeschränkungen , die ergriffen werden, um den Betreuten in seiner willentlichen Bewegungsfreiheit auf einen eng begrenzten Raumkomplex zu beschränken, aber darüber hinaus auch alle Maßnahmen, die auf die Freiheit der Willensbetätigung außerhalb des räumlichen Bereichs Einfluss nehmen11. Das Gesetz nennt mechanische Vorrichtungen und Medikamente als gängige Mittel der Freiheitsentziehung; eine sonstige mechanisch wirkende Maßnahme im Sinne des § 1906 Abs. 4 liegt insbesondere vor, wenn: der Betreute durch einen Bauchgurt in seinem Bett festgehalten wird, der Betreute durch ein Bettgitter am Verlassen des Bettes gehindert wird, das Verlassen der Einrichtung nur bei Betätigung eines außerordentlich komplizierten Schließmechanismus möglich ist, 10 LG München I, Beschluß vom 7.7.1999 – 13 T 4301/99, FamRZ 2000, S. 1123. 11 Bieg/Jaschinski, iurisPK-BGB, 3. Auflage 2006, § 1906, Rn. 60. - 8 - die Eingangstür zeitweilig – nachts – verschlossen bleibt.12 Genehmigungspflichtig sind nur solche Maßnahmen, durch welche die Freiheit „entzogen werden soll“. Dies trifft nicht zu, wenn ein anderer, z. B. therapeutischer Zweck verfolgt wird und die Freiheitsentziehung eine nur in Kauf genommene Folge darstellt 13. 2.4. Zeitraum Die Genehmigungspflicht betrifft Freiheitsentziehungen, die regelmäßig oder über einen längeren Zeitraum erfolgen. Regelmäßig erfolgt die Maßnahme, wenn sie stets zur selben Zeit oder aus einem regelmäßig wiederkehrenden Anlass getroffen wird. Ein längerer Zeitraum liegt vor, wenn die in Art. 104 Abs. 2 GG angegebene Frist für Freiheitsentziehungen erreicht ist. Das bedeutet, dass bereits der Zeitraum eines Tages oder einer Nacht die Genehmigungspflicht auslösen kann. 2.5. Verhältnismäßigkeit Wegen der einschneidenden Wirkung freiheitsentziehender Maßnahmen haben sich diese strikt am Maßstab der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu orientieren. Alternative, die Freiheit des Betroffenen weniger einschränkende Maßnahmen, müssen somit bevorzugt eingesetzt werden. So hat das Oberlandesgericht München im Jahr 2005 festgestellt, dass „je nach den Umständen des Einzelfalls freiheitsentziehende Maßnahmen, die zur Vermeidung von Sturzgefahren für den Betroffenen während der Nacht vorgesehen sind (z. B. Bettgitter, Bettgurt), unverhältnismäßig und damit nicht genehmigungsfähig sein können, wenn der Betroffene auch in einem so genannten Bettnest (Matratze am Boden, umgeben von zusätzlichen Polstern) schlafen kann“14. 2.6. Voraussetzungen der Genehmigung Aufgrund des Verweises des § 1906 Abs. 4 BGB auf die Absätze 1 bis 3 ist eine Maßnahme nur zulässig, wenn und solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, - weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt (§ 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB) oder - weil eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Heileingriff notwendig ist, der ohne die unterbringungsähnliche Maßnahme nicht durchgeführt werden kann, sofern der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der 12 Beispiele aus BTDrs. 11/4528, S. 148. 13 Erman/Holzhauer, Band 2, 11. Auflage 1993, § 1906 Rn. 31. 14 OLG München, Beschluss vom 29.7.2005 – 33Wx 115/05, FamRZ 2006 S. 441. - 9 - Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann (§ 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Nach der Gesetzeslage ist deutlich, dass freiheitsentziehende Maßnahmen im Drittinteresse nicht zulässig sind15. Gefährdet der Betroffene durch sein Handeln Dritte so kann der Betreuer hier nicht einwilligen und das Vormundschaftsgericht keine Genehmigung erteilen. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind nicht bereits genehmigungsfähig, wenn sie zum Schutze Dritter wünschenswert wären. Unsoziales Verhalten kann nur zum Ausschließen von bestimmten Maßnahmen, jedoch nicht zum Einschließen des Betroffenen führen16. § 1906 BGB dient somit ausschließlich dem Schutz des Betroffenen vor einer Gefährdung seiner eigenen Person, nicht jedoch dem Schutz von Rechtsgütern Dritter. 2.7. Zusammenfassung Freiheitsbeschränkende Maßnahmen durch ambulante Pflegedienste bei Betreuten in häuslicher Pflege sind nur in den engen Grenzen des § 1906 Abs. 4 BGB zulässig. Dadurch, dass der Begriff der „sonstigen Einrichtung“ von den Gerichten auch auf die eigene Wohnung erstreckt wird, wenn die Pflegeaufgaben in zeitlicher und inhaltlicher Weise im Wesentlichen auf externe eigenständig handelnde Pflegekräfte übertragen werden und das häusliche Umfeld des Betreuten lediglich als Aufenthaltsort ohne nennenswerte Einbettung in eine Familienstruktur Bedeutung hat, ist in diesem Fall eine Genehmigung des Vormundschaftsgerichts erforderlich. Freiheitsentziehende Maßnahmen unterliegen somit der doppelten Kontrolle: zum einen durch den Betreuer selbst, der zum Wohle des Betreuten zu handeln hat (§ 1901 Abs. 2 BGB), zum anderen unterliegen sie der vormundschaftlichen gerichtlichen Kontrolle. 3. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei Betreuten in häuslicher Pflege , die von der Familie gepflegt werden Von den in deutschen Privathaushalten lebenden Betreuten sind 75 % auf Pflege angewiesen , wobei in rund zwei Dritteln dieser Fälle die Pflege von der Familie – meist der Ehefrau oder der Tochter - übernommen wird17. Freiheitsentziehende, mechanisch wirkende Maßnahmen wie Bettgitter und -gurte werden zwar erwartungsgemäß eher in stationären Einrichtungen angewandt; jedoch geht aus einer von der Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf erstellten Studie - „Daten zur Lebenslage 15 Münchner Kommentar/Schwab, 4. Auflage 2002, § 1906 Rn. 48. 16 Walther, Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4, Teil 2, BtPrax 2006, S. 8 ff. 17 Hoffmann/Hütter/Korte, Die rechtliche Betreuung älterer Menschen (Teil II), BtPrax 2004, S. 7 ff. S. 9. - 10 - älterer Betreuter“18 - hervor, dass auch bei 20 % der Betreuten, die in Privathaushalten leben, Bettgitter und –gurte fast immer angelegt werden. Abb. 1: Freiheitsentziehende Maßnahmen: Bettgitter und -gurte Quelle: Bericht „Daten zur Lebenslage älterer Betreuter“ (Fn. 18), S. 129 Nunmehr stellt sich die Frage der rechtlichen Zulässigkeit solcher Maßnahmen, die durch Angehörige im Rahmen der Pflege im häuslichen Bereich angewendet werden. Ausgangspunkt ist zunächst die zentrale Norm des § 1906 Abs. 4 BGB. Zweifelhaft ist, ob auch in diesem Fall die eigene Wohnung des Betreuten unter den Begriff der „sonstigen Einrichtung“ fallen kann und damit auch bei der Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen durch pflegende Angehörige die Genehmigungspflicht des Vormundschaftsgerichtes ausgelöst wird. Diese Problematik soll im Folgenden anhand der teils kontroversen gerichtlichen Praxis und der Stimmen in der juristischen Literatur erläutert werden. 3.1. Der Wortlaut des § 1906 Abs. 4 BGB hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen durch Angehörige Der Wortlaut des § 1906 Abs. 4 BGB ist insoweit eindeutig, als dass von ihm grundsätzlich keine freiheitsentziehenden Maßnahmen, die im Rahmen der häuslichen Pflege durch die Familie erfolgen, umfasst sind. Jedoch wird § 1906 Abs. 4 BGB von den Gerichten für anwendbar gehalten und eine Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht notwendig, wenn freiheitsentziehende Maßnahmen durch professionelle, ambulan- 18 Abrufbar im Internet unter: http://www.betreuungsrecht-forschung.de/pdf/Bericht_LebenslageBetreuter.pdf (Stand: 24.10.2006) - 11 - te Pflegekräfte im Rahmen der häuslichen Pflege angewendet werden, obwohl auch diese Konstellation nicht eindeutig vom Gesetz geregelt wird (s. oben unter 2.2). 3.2. Gesetzesmaterialien, Beschluss des 57. Deutschen Juristentages Die im Regierungsentwurf vorgesehene Fassung des § 1906 Abs. 4 BGB enthielt ursprünglich nicht die Einschränkung, dass unterbringungsähnliche Maßnahmen nur gegenüber solchen Betroffenen erfasst werden, die sich in einer Anstalt, einem Heim oder sonstigen Einrichtung aufhalten19. Auf dem 57. Deutschen Juristentag war diese Beschränkung beantragt und mit einer nicht überragenden Mehrheit angenommen worden, da die Einholung einer Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes für den betreuenden Angehörigen eine problematische Belastung darstellen würde.20 Unter Bezugnahme auf diesen Beschluss des 57. Deutschen Juristentages wollte der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf freiheitsentziehende Maßnahmen vom Erfordernis gerichtlicher Genehmigung ausnehmen, „sofern sie außerhalb von Einrichtungen wie Altenheimen etc. im Rahmen der Familienpflege“ erfolgen21. Deshalb schlug er eine Einschränkung auf „Alters- oder Pflegeheime, Krankenhäuser oder ähnliche Einrichtungen “ vor22; diesem Vorschlag stimmte die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung 23 mit dem Vorbehalt zu, dass die Aufzählung der Einrichtungen an § 1879 Abs. 3 BGB angepasst würde. Dem ist auch der Rechtsausschuss in seiner Empfehlung gefolgt .24 3.3. Die Auslegung des § 1906 Abs. 4 BGB in der gerichtlichen Praxis Eine einheitliche gerichtliche Praxis ist für den Fall freiheitsentziehender Maßnahmen durch Angehörige nicht zu erkennen. Vielmehr divergiert die vormundschaftliche Praxis in dieser Konstellation in höchstem Maße, was durch zwei Beispiele – zum einen durch den Beschluss des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen aus dem Jahr 199925 und zum anderen durch die Entscheidung des Bayerischen Oberlandesgerichtes aus dem Jahr 200126 - verdeutlicht werden soll. In beiden Fällen wurden die Betroffenen von ihren Söhnen rechtlich betreut und ausschließlich durch Familienangehörige gepflegt. Die Betreuer beantragten eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung der freiheitsbeschränkenden Maßnahme; in einem 19 BTDrs. 11/4528, S. 148. 20 57. Deutscher Juristen Tag, 1988, Holzhauer, Gutachten B 104, B 116. 21 BTDrs. 11/4528, S. 210, 209. 22 BTDrs. 11/4528, S. 210. 23 BTDrs. 11/4528, S. 228. 24 BTDrs. 11/6949 S. 76. 25 AG Garmisch-Partenkirchen, XVII 0365/98, Beschluss vom 27.05.1999, BtPrax 1999, S. 207 ff. 26 BayObLG, 3Z BR 132/02, Beschluss vom 4.9.2001, BtPrax 2003, S. 37 ff. - 12 - Fall handelte es sich um ein Bettgitter, in dem anderen um das Einschließen in der Wohnung. Während das bayerische Oberlandesgericht § 1906 Abs. 4 BGB schon nicht für einschlägig erachtet und somit eine Genehmigung nicht in Betracht kommen kann, wird die freiheitsentziehende Maßnahme vom Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen gem. § 1906 Abs. 4 BGB genehmigt. Nach Ansicht des bayerischen Oberlandesgerichtes handelt es sich bei der Wohnung des Betroffenen, in der er von Familienangehörigen gepflegt wird, ohne dass weitere Vorkehrungen getroffen werden, nicht um eine Anstalt, ein Heim oder eine sonstige Einrichtung im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB. Diese Auslegung trage dem Willen des Gesetzgebers und dem besonderen Schutzbedürfnis des Betroffenen, der sich in geschlossen Räumen aufhalten muss, Rechnung. Zudem sei dem durch Art. 104 Abs. 2 GG garantierten Schutz des Betroffenen vor ungerechtfertigten Freiheitsentziehungen auch ohne die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung in ausreichender Weise genüge getan , da der Betreuer freiheitsentziehende Maßnahmen generell nur ergreifen könne, wenn dafür ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund gegeben sei. Nach diesen Grundsätzen sei in diesem Fall § 1906 Abs. 4 schon nicht anwendbar und die Maßnahme nicht genehmigungsfähig. Auch das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen führt in seinem Beschluss aus, dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch die eigene Wohnung, in der der Betroffene im Familienkreis gepflegt wird, nicht vom Begriff der „sonstigen Einrichtung“ des § 1906 Abs. 4 BGB erfasst sei. Gegen den Ausschluss des richterlichen Genehmigungsvorbehaltes bei Freiheitsentziehungen im Rahmen der Familienpflege bestehen jedoch nach Ansicht des Amtsgerichtes verfassungsrechtliche Bedenken. Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 3 und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG kann in die Freiheit der Person nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden, wobei über die Freiheitsentziehung ein Richter zu entscheiden hat. Die Entstehungsgeschichte und der enge Zusammenhang des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG mit den weiteren Bestimmungen des Art. 104 Abs. 2 und 3 GG zeigen, dass sich Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nur auf Freiheitsentziehungen durch die öffentliche Gewalt bezieht. Nach Ansicht des Gerichtes wird ein Betreuer zwar auf Antrag oder von Amts wegen durch einen staatlichen Hoheitsakt durch das Vormundschaftsgericht bestellt, handelt deswegen aber nicht öffentlichrechtlich . Das Betreuungsrecht gehöre seinem Wesen nach dem bürgerlichen Recht an, da die Rechte und Pflichten durch privatrechtliche Vorschriften geregelt sind. Das privatrechtliche Handeln des Betreuers führe aber nicht zur Unanwendbarkeit der Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG, da es sich bei der Betreuung auch um „staatliche Fürsorge, die im Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) wurzelt“ handele. - 13 - Danach ist es Aufgabe des Staates, Notlagen, wie sie z. B. durch Alter und Krankheit entstehen können, zu begegnen. Zur Verwirklichung des Sozialstaatsgebotes könne sich der Staat auch privater Hilfe bedienen. Auch bei dem Einsatz Privater zur Erfüllung seiner Aufgaben bleibe er dann an die Rechtsgarantien der Grundrechte des Einzelnen gebunden und könne sich dieser Bindung auch nicht durch die Delegation öffentlicher Aufgaben mittels des Privatrechts entziehen. Es könne keinen Unterschied machen, ob der Staat fürsorgliche Freiheitsentziehungen unmittelbar durch staatliche Organe bewirke oder sie mit den Mitteln des Privatrechts herbeiführe. Somit bedürfen nach Ansicht des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen freiheitsentziehende Maßnahmen trotz des privatrechtlichen Handelns des Betreuers der richterlichen Genehmigung. Auf das örtliche Element, also „ob die Freiheitsentziehung im Bereich der Familienpflege oder in einer Anstalt, einem Heim oder sonstigen Einrichtung nach § 1906 Abs. 4 BGB erfolgt “, kommt es danach nicht an. Das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen kommt somit durch die verfassungskonforme Auslegung des § 1906 Abs. 4 BGB im Lichte der Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG zu der Ansicht, dass auch Freiheitsentziehungen im Bereich der Familienpflege dem richterlichen Genehmigungsvorbehalt unterliegen. 3.4. Die Ansichten der Fachliteratur 3.4.1. Die herrschende Meinung Die überwiegende Ansicht in der Literatur geht davon aus, dass freiheitsentziehende Maßnahmen im innerfamiliären Bereich nicht von der Regelung des § 1906 Abs. 4 erfasst werden und somit nicht durch ein Vormundschaftsgericht genehmigt werden können .27 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Freiheitsentziehungen im Bereich der Familienpflege generell zulässig sind, sondern diese vielmehr den strafrechtlichen Vorschriften der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) unterliegen, wenn nicht allgemeine Rechtfertigungsgründe vorliegen.28 Diese können in der rechtswirksamen Einwilligung des Betroffenen oder im Rahmen der Notwehr/Nothilfe nach § 32 StGB bestehen29. Dabei orientiert sich diese in der Lehre vorherrschende Meinung an der gesetzgeberisch gewollten Begrenzung (s. unter 3.2.) des Genehmigungserfordernisses für Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4 BGB in Anstalten, Heimen und sonstigen Einrichtungen. Die Literatur folgt in weiten Teilen der Argumentation des 57. Deutschen Juristentages. Angesichts der Überlastung von öffentlichen und privaten Einrichtungen und des Fehlens 27 Münchner Kommentar/Schwab, 4. Auflage 2002, § 1906 Rn. 44; Damrau/Zimmermann, Kommentar zum Betreuungsrecht, 3. Auflage 2001, § 1906 Rn. 72; Erman/Holzhauer, 11. Auflage 2004, § 1906, Rn. 35; Bieg/Jaschinski, jurisPK-BGB, 3. Auflage 2006, § 1906, Rn. 57. 28 Jurgeleit, Kommentar zum Betreuungsrecht, 1. Auflage 2006, § 1906 Rn. 51. 29 So auch BTDr. 11/4528, S. 229 Nr. 26 a. E. - 14 - wissenschaftlicher Untersuchungen, die ein Versagen der Familien in relevantem Umfang belegten, sei es richtig, nichts zu tun, was pflegende Angehörige demotivieren könnte30. Der Auffassung des Amtsgerichts Garmisch-Partenkirchen, wonach es sich bei der Betreuung durch Familienangehörige um sozialstaatliche Aufgaben handele, die in richtiger Auslegung des Art. 104 Abs. 2 GG eine vormundschaftliche Genehmigung notwendig mache (s. oben 3.3.), sei Art. 6 GG entgegenzuhalten.31 Denn allein die Tatsache , dass der Betreuer seine Rechtsmacht vom Staat erhalte, könnte nicht rechtfertigen , dass der betreuende Familienangehörige als Teil der Staatsgewalt angesehen werde . Dies müsse dann auch für das gesetzliche Vertretungsrecht der Eltern gelten, obwohl im Eltern-Kind-Verhältnis eine unmittelbare Geltung der Grundrechte abgelehnt wird. Der Familie, die selbst verfassungsrechtlichen Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG genießt, wird man deshalb einen eigenständigen Verantwortungsbereich zuerkennen müssen. Vormundschaftsgerichtliche Genehmigungen seien bei der Pflege durch nahe stehende Angehörige als Akt familiärer Solidarität unzweckmäßig und würden von den Angehörigen als eine zusätzliche Belastung empfunden32. 3.4.2. Die Minderheitsmeinung Der Ausschluss familialer Pflegeverhältnisse aus dem Geltungsbereich des § 1906 Abs. 4 BGB wird auch in der Literatur teilweise rechtspolitisch abgelehnt und für verfassungswidrig gehalten. So bemerkte Schumacher schon 199133, dass unabhängig von der systematischen Einordnung des Betreuungsrechts die Rechtsgarantien der Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG durch den Staat zu gewähren sind. Der Gesetzgeber habe sich von dem Motiv leiten lassen, eine zusätzliche Demotivierung der Angehörigen zu vermeiden. Dieses legislatorische Motiv könne aber nicht dazu führen, die formellen Garantien des Art. 104 Abs. 2 GG außer Acht zu lassen34. Daher sei der Ausschluss vormundschaftlicher Genehmigungen bei Freiheitsentziehungen im Rahmen der Familienpflege verfassungswidrig. Nach anderer Ansicht ist § 1906 Abs. 4 BGB im Wege der verfassungskonformen Auslegung auch bei häuslicher Pflege durch die Familie anzuwenden, da es schwer nachvollziehbar sei, warum die selbe Maßnahme in einer Einrichtung genehmigungsbedürf- 30 Jurgeleit, Kommentar zum Betreuungsrecht, 1. Auflage 2006, § 1906 Rn. 50. 31 Erman/Roth, Kommentar zum BGB, 11. Auflage 2004, § 1906, Rn. 35. 32 57. Deutscher Juristen Tag, 1988, Holzhauer, Band I, Gutachten B, S. 105 33 Schumacher, Rechtsstaatliche Defizite im neuen Unterbringungsrecht, FamRZ 1991, S. 280ff., S. 282. 34 Ebenda. - 15 - tig sein soll, im Rahmen der Familienpflege dem Betreuten jedoch nur der weniger effektive Schutz des Strafrechts verbleiben soll35. 3.5. Zusammenfassung Freiheitsentziehungen bei Betreuten im Rahmen der häuslichen Pflege werden von den Gerichten und der Fachliteratur unterschiedlich juristisch eingeordnet. Während die Rechtsprechung bei nahezu gleicher Sachverhaltslage zu völlig verschiedenen Ergebnissen kommt, wird der Ausschluss familiärer Pflegeverhältnisse von der Regelung des § 1906 Abs. 4 BGB von der Literatur zum Teil als verfassungswidrig angesehen, die Norm im Wege der verfassungskonformen Auslegung auch auf diese Konstellationen erstreckt oder als rechtspolitisch sinnvoll erachtet. Die unterschiedlichen Betrachtungsweisen werfen die Frage auf, ob in diesem Fall gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht . 4. Besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf? Nach dem Wortlaut des § 1906 Abs. 4 BGB ist bei Freiheitsentziehungen eines Betreuten , der sich in häuslicher Pflege befindet, weder bei der Vornahme dieser Maßnahmen durch ambulante Pflegedienste noch durch Familienangehörige eine vormundschaftliche Genehmigung durch ein Gericht notwendig. Während in der ersten Konstellation durch eine erweiterte Auslegung des Begriffes der sonstigen Einrichtung eine gerichtliche Genehmigung von den Gerichten für erforderlich gehalten wird, ist die Entscheidungspraxis im zweiten Fall aufgrund der divergenten gerichtlichen Praxis in Bezug auf die Rechtssicherheit höchst problematisch. Für beide Fälle gibt es keine ausdrückliche, gesetzliche Regelung. Dies ist unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen verfassungsrechtlich garantierte und sensible Grundrechtsbereiche der Betroffenen berührt werden, nur schwer mit rechtsstaatlichen Prinzipien in Einklang zu bringen. Der zivilrechtlichen Fürsorge durch die Betreuung wohnt stets die Gefahr inne, dass sie über das im Einzelfall notwendige Maß hinausgeht und damit zum Grundrechtseingriff wird. Sie stellt deshalb eine Grundrechtsgefährdung dar, gegen die das Gesetz Vorkehrungen zu treffen hat. In der präventiven Sicherung der Freiheit des Betreuten liegt somit auch der Grund für den Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2, der durch § 1906 Abs. 2 BGB konkretisiert wird. § 1906 BGB ist daher Ausprägung des vorbeugenden Schutzes gegen einen irreversiblen Grundrechtseingriff.36 Eine konkrete gesetzliche Grundlage für derartige Maßnahmen erscheint daher notwendig. 35 Marschner/Volckert, Freiheitsentziehung und Unterbringung, 4, Auflage 2001, § 1906 Rn. 42, so auch: Bonner Kommentar/Rüping, Lfg. August 1998, Art. 104 GG Rn. 54. 36 Lipp, Betreuung und Zwangsbehandlung, JZ 2006, S. 661 ff., S. 664 - 16 - 4.1. Gesetzesbedarf hinsichtlich der Einbeziehung von Freiheitsentziehungen durch ambulante Pflegedienste Die gesetzliche Ausweitung des Genehmigungserfordernisses auf Freiheitsentziehungen durch ambulante Pflegekräfte in der häuslichen Pflege würde erheblich zur Rechtsklarheit beitragen und erscheint auch sinnvoll, da diese Situation mit der Lage in einem Heim oder sonstigen Einrichtung vergleichbar ist. Worin sollte der Unterschied liegen, ob die freiberufliche Pflegekraft einen Menschen zu Hause pflegt oder in einem Heim? Eine gesetzliche Basis für dieses Handeln wäre daher wünschenswert. 4.2. Gesetzesbedarf hinsichtlich der Einbeziehung von Freiheitsentziehungen durch Familienangehörige Die Erforderlichkeit einer klarstellenden Regel bezüglich freiheitsentziehender Maßnahmen durch Familienangehörige ergibt sich vor allem aus der uneinheitlichen Rechtsprechung und dem wachsenden gesellschaftlichen Bedarf an Betreuungen, der sich in den stetig steigenden Betreuungszahlen widerspiegelt. 4.2.1. Grundlegende Divergenz in Rechtsprechung und Literatur Ein gesetzliches Klarstellungsbedürfnis hinsichtlich freiheitsentziehender Maßnahmen durch pflegende Familienangehörige resultiert vor allem aus der grundlegenden Divergenz in der gerichtlichen Praxis (s. 3.3.) und zudem aus den unterschiedlichen Lehrmeinungen (s. 3.4.). Der Gesetzgeber kann die Festlegung der Weite des Anwendungsbereichs des § 1906 Abs. 4 in diesem Fall nicht der Interpretation der Gerichte überlassen, sondern sollte seinerseits die Rechtslage eindeutig gestalten. 4.2.2. Wachsende Anzahl von regelungsbedürftigen Fällen Erstreckte man den vormundschaftlichen Genehmigungsvorbehalt auch auf Freiheitsentziehungen im Rahmen der familiären Pflege, so würde dies auch zu einer Verhaltenskontrolle der pflegenden Angehörigen führen. Zwar leben nur ein knappes Viertel der Betreuten in einem privaten Haushalt37, von denen wiederum 75 % auf Pflege angewiesen sind. In 59 % dieser Fälle liegen Pflege und rechtliche Betreuung jedoch in den Händen derselben Person – meist der Töchter oder Ehefrauen38. Da die Pflege, vor allem von Demenzkranken, kräftezehrend und psychisch belastend ist, könnte es durch die Überforderung der pflegenden Angehörigen schneller zu unreflektiertem und unkritischem Umgang mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen kommen. Nach der aktuellen Rechtslage ist eine Verhaltenskontrolle der pflegenden Angehörigen durch eine gericht- 37 Daten zur Lebenslage, S. 108 38 Hoffmann/Hütter/Korte, Die rechtliche Betreuung älterer Menschen (Teil II), BtPrax 2004, S. 7 ff. S. 9. - 17 - liche Überprüfung nicht vorgesehen, obwohl der Betroffene vielleicht gerade in dem Fall der Identität von Pflegendem und Betreuer auf eine solche gerichtliche Kontrolle angewiesen wäre, um vor ungerechtfertigten Freiheitsentziehungen geschützt zu werden . Nach wie vor ist der Erkenntnisstand über Risiken, Formen und das Ausmaß von Gewalt gegen ältere Menschen unzureichend. Recht gut erkannt sind die individuellen Besonderheiten , die alte Menschen als Gewaltopfer in sozialen Beziehungen und im Falle von Pflegebedürftigkeit anfällig werden lassen. Als typische Risiken von Viktimisierungsmaßnahmen werden Verschlechterungen des Gesundheitszustandes, die Lebensumstände zu Hause sowie Hilfe- und Pflegebedarf genannt. Diese Zusammenhänge erhalten durch die Auswirkungen des demographischen Wandels ein neues Gewicht, wenn die zunehmende Zahl alter Menschen und die wachsenden Anteile der Ältesten einen steigenden Hilfe- und Pflegebedarf mit sich bringen. Da die überwiegende Mehrheit der alten Menschen zu Hause in der Familie lebt, dürfte sich das Risiko erhöhen, im Alter im Falle der Pflegebedürftigkeit Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Datenerhebungen bezüglich der Gewaltanwendung gegenüber Betreuten im Rahmen familiärer Pflege sind wegen erheblicher empirischer, methodischer und ethischer Probleme jedoch fast nicht durchführbar. Zudem sind die Aussagen Schwerkranker häufig wenig aussagefähig und die wenigsten Angehörigen werden wohl eine ungerechtfertigte „Ruhigstellung “ des Betroffenen zugeben. So kann ein Rückschluss auf das Ausmaß von Gewaltanwendungen in der Familie nur aus allgemeinen Studien gezogen werden. So wurden im Rahmen eines vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen erstellten Forschungsberichts zum Thema „Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen“39 Pflegekräfte über problematisches Verhalten gegenüber Pflegebedürftigen durch Angehörige befragt. In der folgenden Abbildung 2 sind die 12-Monats- Prävalenzen für solche zeugenschaftlich berichteten Formen der Viktimisierung dargestellt . Mehr als 14 % der befragten Pflegekräfte gaben an, Zeugen von problematischen mechanischen Freiheitseinschränkungen zu sein. 39 Görgen/Herbst/Rabold, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V., Kriminalitätsund Gewaltgefährdungen im höheren Lebensalter und in der häuslichen Pflege, Forschungsbericht Nr. 98, 2006 - 18 - Abbildung 2: Quelle: Görgen/Herbst/Rabold, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V., Kriminalitätsund Gewaltgefährdungen im höheren Lebensalter und in der häuslichen Pflege, Forschungsbericht Nr. 98, 2006, S. 65. Auch aus der Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger demenziell erkrankter (LEANDER, finanziert durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) geht hervor, dass insbesondere demenzkranke alte Menschen, auf Grund der für diese Krankheit typischen Symptomatik, häufig Opfer von Gewalt werden . Dabei führen stresstheoretische Überlegungen zu der Annahme, dass pflegebedingte Belastungen auch zu Aggressionen gegenüber dem Pflegebedürftigen führen können .40 Aus Abbildung 3 geht hervor, dass 25 % der Angehörigen den Pflegenden in seiner Bewegungsfreiheit einschränken. 40 Thoma/Zank/Schacke, Gewalt gegen demenziell Erkrankte in der Familie: Datenerhebungen in einem schwer zugänglichen Forschungsgebiet, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie (Zusammenfassung ), 2004, S. 349, 350 - 19 - Abb. 3: Antwortverteilung der pflegenden Angehörigen von demenziell Erkrankten Quelle: Thoma/Zank/Schacke, Gewalt gegen demenziell Erkrankte in der Familie: Datenerhebungen in einem schwer zugänglichen Forschungsgebiet, Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 2004, S. 350 Diese Studien lassen keine direkten Rückschlüsse auf die Höhe von ungerechtfertigten Fixierungsmaßnahmen im Rahmen häuslicher Pflege zu, zeigen aber, dass bestimmte Aspekte von Belastungen mit Gewalt in der Pflege im Zusammenhang stehen. Der eventuellen Fehleinschätzung von Angehörigen im Hinblick auf freiheitsentziehende Maßnahmen könnte daher mit einer gerichtlichen Kontrolle begegnet werden, da mit dem Schutz durch das Strafrecht den erheblichen Grundrechtseingriffen nicht genüge getan wird. 4.2.3. Eigene Auffassung zur Notwendigkeit einer vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle bei der Betreuung durch Angehörige Gegen eine vormundschaftliche Kontrolle spricht der erhebliche Aufwand für die Angehörigen und die Gerichte. So sind die Gerichte seit der Reform des Betreuungsrechts 1992 generell schon mit einer wachsenden Zahl von Betreuungen konfrontiert; ihr Arbeitsaufwand der Gerichte würde sich noch um ein Vielfaches erhöhen, wenn jede freiheitsentziehende Maßnahme einer richterlichen Genehmigung bedürfte. Zudem ist zweifelhaft, ob die richterliche Genehmigung im Einzelfall überhaupt dazu führen kann, die Rechte des Betreuten in Wirklichkeit zu schützen, da zumindest von den bundesweiten 71.914 Genehmigungsverfahren für freiheitsentziehende Maßnahme in Einrichtungen der Altenhilfe 93 % von den Gerichten genehmigt wurden41. Dies führt in der Praxis dazu, dass gerichtliche Genehmigungsverfahren „weitgehend zu einem Absicherungsverfahren für die Institutionen geworden sind und die Interessen der Betroffenen oft vernachlässigt werden“42. Diese Entwicklung ist auch für Genehmigungen im Bereich der Familienpflege zu befürchten. Die Erweiterung des Genehmigungsverfahrens 41 Walther, Freiheitsentziehende Maßnahmen nach § 1906 Abs. 4, BtPrax 2005, S. 214. 42 Vennemann, Freiheitsentziehende Maßnahmen – ein Praxisbericht, BtPrax 1998, S. 59. - 20 - auch auf die Familienpflege erscheint daher schwer durchführbar und bietet keine nennenswerte Stärkung des Schutzes vor ungerechtfertigten Freiheitsentziehungen. Im Rahmen der Familienpflege wäre ein gesetzliches Genehmigungserfordernis daher wenig praktikabel und würde das Betreuerverhältnis im Einzelfall sehr belasten. Der Bereich der familialen Pflege erscheint wegen des besonderen Vertrauensverhältnisses des Betreuten zum Betreuer als zu sensibel, als dass ein staatlich angeordnetes Genehmigungsverfahren hier Sinn machte. So erscheint es sinnvoller durch Aufklärungsmaßnahmen und Gewaltprävention der eventuellen Überforderung der pflegenden Familienangehörigen entgegenzuwirken. Problematisch ist bei dieser Lösung aber, dass die Unterscheidung zwischen Pflege durch Angehörige einerseits und durch ambulante Dienste andererseits in vielen Fällen fragwürdig ist. In Wirklichkeit teilen sich professionelle Pflegekräfte und Angehörige die Pflege und Versorgung des Betreuten nach einem bestimmten Plan, der vom Ausmaß der notwendigen Pflege und den Einsatzmöglichkeiten bestimmt wird. Spätestens beim Ausfall der betreuenden Angehörigen (bspw. durch einen Urlaub) ergibt sich ein Übergewicht in der Betreuung durch fremde Hilfe. In diesem Fall würde auch eine differenzierende Regelung zu Unklarheiten führen. 5. Fazit Trotz eventueller Abgrenzungsschwierigkeiten wäre eine gesetzliche Erweiterung des Genehmigungserfordernisses auf den Fall einer Freiheitsentziehung durch ambulante Pflegedienste in der Wohnung des Betroffenen begrüßenswert. Im Bereich der familiären Pflege müssen Betreuer, Angehörige und Pflegekräfte, die eine schwierige Aufgabe haben und viel leisten, Klarheit darüber haben, wann sie das Vormundschaftsgericht einschalten müssen und wann nicht. Eine gesetzliche Fixierung einer Genehmigungspflicht oder auch der Genehmigungsfreiheit ist in jedem Falle wünschenswert , um Rechtsklarheit zu schaffen. Zudem muss man sich die Frage stellen, ob Art. 104 Abs. 2 GG wirklich zwingend eine richterliche Kontrolle bei Freiheitsentziehungen gebietet, auch wenn dadurch keine Ortsveränderungen mehr verhindert werden sollen, sondern sich als pflegerische Maßnahmen darstellen, die typischen Standards medizinischer oder krankenpflegerischer Behandlung entsprechen. - 21 - Im Zentrum des Betreuungsrechts stehen der Betreute und dessen Wohl. Eine Entscheidung für oder gegen eine gesetzliche Regelung muss sich in jedem Falle primär an seinen Interessen - und nicht an denen des Betreuers - orientieren.