WD 7 - 3000 - 244/18 (15.11.2018) © 2018 Deutscher Bundestag Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Die Anfechtung rechtskräftiger Urteile ist im deutschen Zivilprozessrecht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen. Sie stellt in diesen Fällen eine Durchbrechung der Rechtskraft eines Endurteils dar. Die Rechtskraft dient der Rechtssicherheit und dem Vertrauen in ergangene Urteile und ist ein wesentliches Rechtsgut des Zivilprozessrechts.1 Die Anfechtung kann gemäß § 578 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO)2 durch Klage auf Wiederaufnahme eines Verfahrens, das durch ein rechtskräftiges Endurteil abgeschlossen wurde, erfolgen . Als Wiederaufnahmeklagen sind die Nichtigkeitsklage und die Restitutionsklage statthaft, sie können gegen alle formell rechtskräftigen Endurteile ergehen.3 Nach § 578 Abs. 2 ZPO ist die Nichtigkeitsklage gegenüber der Restitutionsklage vorrangig. Beide Klagen können innerhalb eines Monats erhoben werden, maßgeblicher Zeitpunkt für den Fristbeginn ist die Kenntnis des Anfechtungsgrundes, § 586 Abs.1, 2 ZPO. Die Voraussetzungen der Nichtigkeitsklage richten sich nach § 579 ZPO. Danach können die in § 579 Abs. 1 ZPO aufgezählten Verfahrensfehler geltend gemacht werden, wobei unerheblich ist, ob sich die Verfahrensfehler tatsächlich auf das Urteil ausgewirkt haben.4 Zunächst kommt die nicht vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts in Betracht, § 579 Abs. 1, Nr. 1 ZPO. Dem liegt das in Art. 101 Abs. 1, Satz 2 Grundgesetz (GG)5 normierte Recht auf den gesetzlichen Richter zugrunde . Erforderlich ist, dass es sich um eine offensichtlich schwere Gesetzesverletzung handelt, 1 Musielak, in: Musielak/Voit Zivilprozessordnung Kommentar, 15. Auflage 2018, § 578, Rn. 1. 2 Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3202; 2006 I S. 431; 2007 I S. 1781), die zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/zpo/ (Letzter Abruf: 13.11.2018). 3 Musielak, in: Musielak/Voit Zivilprozessordnung Kommentar, 15. Auflage 2018, § 578, Rn. 10. 4 Musielak, in: Musielak/Voit Zivilprozessordnung Kommentar, 15. Auflage 2018, § 579, Rn. 1. 5 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2017 (BGBl. I S. 2347) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/index.html (Letzter Abruf: 13.11.2018). Wissenschaftliche Dienste Kurzinformation Anfechtung rechtskräftiger Urteile im Zivilrecht Kurzinformation Anfechtung rechtskräftiger Urteile im Zivilrecht Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 2 nicht jeder Fehler bei der Bestimmung der Gerichtspersonen ist ausreichend.6 § 579 Abs. 1, Nr. 1 ZPO findet auch dann Anwendung, wenn trotz Erforderlichkeit keine Vorlage an ein anderes Gericht , etwa an der Europäischen Gerichtshof, erfolgt.7 Weiter kann die Nichtigkeitsklage auf die Mitwirkung eines kraft Gesetzes vom Richteramt ausgeschlossenen Richters gestützt werden, § 579 Abs. 1, Nr. 2 ZPO. Die Ausschlüsse des Richters kraft Gesetz werden in § 41 ZPO normiert und erfassen im Wesentlichen Fälle, in denen die persönlichen Verhältnisse eines Richters zu einer der Parteien dessen Unparteilichkeit gefährden. Zudem kann als Nichtigkeitsgrund nach § 579 Abs. 1, Nr. 3 ZPO geltend gemacht werden, dass ein Richter bei der Entscheidung mitgewirkt hat, obgleich er wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde und das Ablehnungsgesuch für begründet erklärt wurde. Mithin muss ein Ablehnungsgesuch einer Partei für begründet befunden worden sein und dennoch eine Mitwirkung des betroffenen Richters an der Entscheidung vorliegen. Damit reicht allein die begründete Besorgnis der Befangenheit nicht aus.8 Schließlich kann die Nichtigkeitsklage auch darauf gestützt werden, dass eine Partei im Prozess nicht vorschriftsmäßig vertreten wurde, es sei denn, sie hat die Prozessführung ausdrücklich oder stillschweigend genehmigt, § 579 Abs. 1, Nr. 4 ZPO. Dieser Nichtigkeitsgrund erfasst drei Konstellationen: Der Ausgangsprozess wurde durch eine prozessunfähige Partei geführt, eine prozessunfähige Partei wurde gesetzlich vertreten, ohne dass dem Vertreter eine Vertretungsmacht zustand, oder der Prozess wurde von einem gewillkürten, also rechtsgeschäftlich bevollmächtigten Vertreter geführt, der keine Vollmacht hatte.9 Der nicht ordnungsgemäß vertretenen Partei soll durch § 579 Abs. 1, Nr. 4 ZPO nachträglich das verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Recht auf rechtliches Gehör gewährt werden.10 Die Voraussetzungen der Restitutionsklage sind demgegenüber in § 580 ZPO geregelt. Die Tatbestände des § 580 Nr. 1-5 ZPO betreffen allesamt Straftaten, die eine Auswirkung auf die Gerichtsentscheidung hatten: In § 580 Nr. 1-4 ZPO werden Straftaten aufgelistet, die auf das Vorstellungsbild des entscheidenden Gerichts eingewirkt haben, § 580 Nr. 5 ZPO erfasst hingegen eine durch den Richter selbst begangene strafbare Verletzung seiner Amtspflichten. Die Entscheidung des Gerichts muss jeweils kausal auf dem Restitutionsgrund beruhen.11 Weiter ist nach § 581 erforderlich , dass wegen der Straftat bereits eine rechtskräftige Verurteilung ergangen ist. Nach § 580 Nr. 6 ZPO kann die Anfechtung auf die Aufhebung eines anderen Urteils, auf dem das fragliche Urteil basiert, gestützt werden. Dadurch ist das angegriffene Urteil in seiner Grundlage erschüttert und kann im Wege der Restitution beseitigt werden; nicht ausreichend ist jedoch 6 Kemper, in: Saenger Zivilprozessordnung Handkommentar, 7. Auflage 2017, § 579, Rn. 2. 7 Kemper, in: Saenger Zivilprozessordnung Handkommentar, 7. Auflage 2017, § 579, Rn. 2. 8 Kemper, in: Saenger Zivilprozessordnung Handkommentar, 7. Auflage 2017, § 579, Rn. 4. 9 Braun, in: Rauscher/Krüger Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Auflage 2016, § 579, Rn. 12. 10 BVerfG, Entscheidung vom 29.10.1997, 2 BvR 1390/95, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1998, Seite 745. 11 Braun, in: Rauscher/Krüger Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Auflage 2016, § 580, Rn. 13, 14. Kurzinformation Anfechtung rechtskräftiger Urteile im Zivilrecht Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 3 der bloße Wandel der Rechtsprechung, der vorangegangene Urteile nicht aufhebt.12 § 580 Nr. 7, lit. a ZPO ermöglicht die Wiederaufnahme, wenn bereits ein Urteil ergangen ist, das sich auf den identischen Streitgegenstand oder zumindest durch Rechtskrafterstreckung auf das angegriffene Urteil bezieht.13 Gemäß § 580 Nr. 7, lit. b ZPO stellt auch das Auffinden einer bisher unbekannten Urkunde einen Restitutionsgrund dar. Dies setzt voraus, dass eine entscheidungserhebliche Urkunde im Sinne der §§ 415. ff. ZPO im Zeitpunkt des Vorprozesses bereits existierte, der Partei aber unbekannt war und sie auch keine Möglichkeit der Kenntniserlangung hatte.14 Schließlich kann die Restitutionsklage auf der Feststellung der Verletzung der Menschenrechte oder Grundfreiheiten durch den Europäischen Gerichtshof beruhen, § 580 Nr. 8 ZPO. § 582 ZPO stellt klar, dass die Restitutionsklage aus den genannten Gründen jeweils nur dann in Betracht kommt, wenn die Partei außerstande war, die Restitutionsgründe im Vorprozess geltend zu machen. Ein rechtskräftiges Urteil kann auch durch den Rechtsbehelf gemäß § 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)15 angefochten werden. Dieser kann erhoben werden, wenn der Titel erschlichen oder der Titel arglistig ausgenutzt wurde. Titelerschleichung liegt vor, wenn eine Partei die Entscheidung oder den Eintritt der Rechtskraft durch einen Verstoß gegen die guten Sitten herbeigeführt hat. Die Titelausnutzung liegt hingegen vor, wenn die Partei den Titel einwandfrei erlangt hat, dieser jedoch sachlich unrichtig ist, die Partei dies weiß und besondere Umstände vorliegen , die die Ausnutzung des Titels als sittenwidrig erscheinen lassen.16 Zusammenfassend ist die Anfechtung rechtskräftiger Gerichtsentscheidungen – und damit die Durchbrechung der Rechtskraft - im deutschen Zivilprozess nur in sehr eng begrenzten Ausnahmefällen zugelassen. Soweit entscheidungsbeeinflussende Unterlagen im Vorprozess nicht eingebracht wurden und die Partei davon auch schuldlos keine Kenntnis hatte, ist nach der Qualität der Unterlagen zu differenzieren: Allein entscheidungserhebliche Urkunden im Sinne der §§ 415 ff. ZPO berechtigen als Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 7 lit. b ZPO zur Anfechtung des rechtskräftigen Urteils. Weitere Rechtsbehelfe, durch die die Rechtskraft im Zivilrecht durchbrochen werden kann, sind die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht bei Grundrechtsverletzungen 12 Fleck, in: Vorwerk/Wolf Beck’scher Onlinekommentar Zivilprozessordnung, 30. Edition, Stand 15.09.2018, § 580, Rn. 16, 17. 13 Fleck, in: Vorwerk/Wolf Beck’scher Onlinekommentar Zivilprozessordnung, 30. Edition, Stand 15.09.2018, § 580, Rn. 19; vgl. hierzu ausführlich: Braun, in: Rauscher/Krüger Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Auflage 2016, § 580, Rn. 46 ff. 14 Fleck, in: Vorwerk/Wolf Beck’scher Onlinekommentar Zivilprozessordnung, 30. Edition, Stand 15.09.2018, § 580, Rn. 21, 22. 15 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) geändert worden ist, abrufbar unter: https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/ (Letzter Abruf: 14.11.2018). 16 Braun, in: Rauscher/Krüger Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung, 5. Auflage 2016, Vorbemerkung zu § 578, Rn. 13. Kurzinformation Anfechtung rechtskräftiger Urteile im Zivilrecht Fachbereich WD 7 (Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung) Wissenschaftliche Dienste Seite 4 nach Art. 93 Abs. 1, Nr. 4a GG, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei schuldloser Fristversäumung im Prozess nach § 233 ZPO und die Änderungsklage nach § 323 ZPO bei Verpflichtungen zu künftigen, wiederkehrenden Leistungen.