© 2018 Deutscher Bundestag WD 7 - 3000 - 211/18 Die zivil- und strafrechtliche Regelung der Beschneidung von Jungen im deutschen Recht Zur Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht Sachstand Wissenschaftliche Dienste Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages unterstützen die Mitglieder des Deutschen Bundestages bei ihrer mandatsbezogenen Tätigkeit. Ihre Arbeiten geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Arbeiten der Wissenschaftlichen Dienste geben nur den zum Zeitpunkt der Erstellung des Textes aktuellen Stand wieder und stellen eine individuelle Auftragsarbeit für einen Abgeordneten des Bundestages dar. Die Arbeiten können der Geheimschutzordnung des Bundestages unterliegende, geschützte oder andere nicht zur Veröffentlichung geeignete Informationen enthalten. Eine beabsichtigte Weitergabe oder Veröffentlichung ist vorab dem jeweiligen Fachbereich anzuzeigen und nur mit Angabe der Quelle zulässig. Der Fachbereich berät über die dabei zu berücksichtigenden Fragen. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 2 Die zivil- und strafrechtliche Regelung der Beschneidung von Jungen im deutschen Recht Zur Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 211/18 Abschluss der Arbeit: 8. Oktober 2018 Fachbereich: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Bau und Stadtentwicklung Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 4 2. Zur zivilrechtlichen Regelung 5 3. Zur strafrechtlichen Regelung 6 Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 4 1. Einleitung Mit dem Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes vom 20. Dezember 20121 wurde § 1631d in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)2 eingefügt: § 1631d Beschneidung des männlichen Kindes (1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind. Mit dem 47. Strafrechtsänderungsgesetz vom 24. September 20133 wurde mit § 226a StGB4 der Straftatbestand der Verstümmelung weiblicher Genitalien in das Strafgesetzbuch eingefügt: § 226a Verstümmelung weiblicher Genitalien (1) Wer die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft. (2) In minder schweren Fällen ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Gefragt wird vor diesem Hintergrund, ob diese Vorschriften, indem sie jeweils ausdrücklich nach dem Geschlecht differenzieren, mit höherrangigem nationalem Recht vereinbar seien. Nachfolgend wird hierzu eine Auswahl des derzeitigen rechtswissenschaftlichen Meinungsstands dargestellt . 1 BGBl. I, 2749. 2 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Januar 2002 (BGBl. I S. 42, 2909; 2003 I S. 738), das zuletzt durch Artikel 6 des Gesetzes vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1151) geändert worden ist. 3 BGBl. I, 3671. 4 Aktuell geltende Fassung: Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618) geändert worden ist. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 5 2. Zur zivilrechtlichen Regelung Gegen die in § 1631d BGB getroffene Regelung werden im juristischen Schrifttum im Hinblick auf das in Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG5 normierte Verbot der nicht sachlich gerechtfertigten geschlechterbezogenen Ungleichbehandlung mitunter verfassungsrechtliche Bedenken erhoben: So wurde etwa an dem Gesetzentwurf kritisiert, dieser verkenne, dass es sowohl bei den Beschneidungen von Jungen als auch bei den Genitalverstümmelungen von Mädchen unterschiedlich intensive Eingriffe in die körperliche Integrität der Betroffenen gäbe.6 Diese Variation in der Intensität spiegele sich in dem unterschiedslosen Verbot der Verstümmelung weiblicher Genitalien in § 226a StGB einerseits und der unterschiedslosen Erlaubnis der Beschneidung in § 1631d BGB andererseits gerade nicht wider.7 Bereits diese „undifferenzierte“ Regelung der Beschneidungen von Jungen und der Genitalverstümmelung von Mädchen stelle einen Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG dar.8 Um eine solche ungerechtfertigte Ungleichbehandlung zu verhindern, sei eine entsprechende Anwendung von § 1631d BGB auf minder schwere Genitalverstümmelungen bei Mädchen im Wege einer Analogie in engen Grenzen in Betracht zu ziehen.9 Einer solchen Analogie wird aber von anderer Seite wiederum der auf die Beschneidung des männlichen Kindes begrenzte Wortlaut entgegengehalten; zudem sei ein Umkehrschluss, dass das elterliche Personensorgerecht im Falle der weiblichen Genitalverstümmelung gerade nicht zu einer Einwilligung in den Eingriff führen könne, naheliegender.10 Überdies wird bezüglich einer etwaigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs in Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG ausgeführt, dass die Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen und damit der Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG nicht in jedem Fall damit gerechtfertigt werden könne, dass den Eltern als kollidierendes Verfassungsrecht das sich aus Art. 6 Absatz 2, Satz 1 iVm. Artikel 4 GG ergebende religiöse elterliche Erziehungsrecht zustünde.11 Denn das Gesetz unterscheide in § 1631d BGB gerade nicht nach religiös und nicht-religiös moti- 5 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 100- 1, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 13. Juli 2017 (BGBl. I S. 2347) geändert worden ist. 6 Walter, Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative, JZ 2012, 1110 (1112). 7 Walter, Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative, JZ 2012, 1110 (1112). 8 Mandla, Von abzuschneidenden Vorhäuten und einem Gesetz, das zu spät und doch zu früh kommt, FPR 2013, 244 (247); So auch: Isensee, Grundrechtliche Konsequenz wider geheiligte Tradition, JZ 2013, 317 (322). 9 Hilgendorf, Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen kultureller Pluralisierung, JZ 2014, 821 (829). 10 Zöller/Thörnich, Die Verstümmelung weiblicher Genitalien, JA 2014, 167 (172). 11 Walter, Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung – Kritik und strafrechtliche Alternative, JZ 2012, 1110 (1112). Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 6 vierten Beschneidungen, sodass eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs in Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG aus den oben genannten Vorschriften im Falle einer nicht-religiös motivierten Beschneidung gerade nicht in Betracht käme.12 Der Annahme eines Verstoßes von § 1631d BGB gegen Artikel 3 Absatz 2, Absatz 3 Satz 1 GG wird von anderer Seite jedoch entgegengehalten, dass die Eingriffe bei der männlichen Beschneidung und der weiblichen Genitalverstümmelung hinsichtlich des Gefährdungspotentials nicht miteinander zu vergleichen seien.13 Deshalb läge mangels Vergleichbarkeit auch keine Ungleichbehandlung iSd. Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG vor: „Dass der Gesetzgeber das Gefährdungspotenzial der Beschneidung männlicher Kinder anders als das bei der weiblichen Beschneidung (Genitalverstümmelung) einschätzt und diese wegen des tiefgreifenden psychophysischen Destruktionseffekts als Kindeswohlverletzung einordnet, ist nicht nur vertretbar, sondern geradezu zwingend. Hierbei geht es nicht um eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts (Art. 3 III 1 GG), sondern um die unterschiedliche Bewertung körperlicher Eingriffe bei Kindern, die je nach der in Rede stehenden Eingriffsintensität anders ausfällt.“14 Deshalb sei die Auffassung des Gesetzgebers, dass es sich bei Genitalverstümmelungen an Mädchen in der Form, wie sie vorwiegend im asiatischen und afrikanischen Raum vorgenommen würden, um grundlegend verschiedene Eingriffe im Vergleich zu der Beschneidung von Jungen handele, zutreffend.15 3. Zur strafrechtlichen Regelung Die in § 226a StGB enthaltene Beschränkung des Tatbestands auf weibliche Genitalien und die darin liegende Differenzierung nach dem Geschlecht des Tatopfers wird von Teilen des juristischen Schrifttums als verfassungsrechtlich zweifelhaft angesehen: „Tatbestandlich geschützt sind nur weibliche Personen und keine männlichen. Vergleichbare Verstümmelungen äußerer männlicher Genitalien unterfallen nicht der Strafbarkeit aus § 226a. Im Hinblick auf den strafrechtlichen Schutz der äußeren Genitalien vor Körperverletzungen werden also Männer gegenüber Frauen benachteiligt. Damit muss die Vorschrift sich an Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG („Geschlecht“) messen lassen. Zu dieser Verfassungsnorm hat sich seit Jahren, insbes. seit einer Entscheidung aus dem Jahr 1992 (Nachtarbeitsverbot ), eine vom BVerfG selbst so bezeichnete „neuere Rechtsprechung“ herausgebildet, 12 Steinbach, Die gesetzliche Regelung zur Beschneidung von Jungen, NVwZ 2013, 550 (551). 13 Dettmeyer/Laux/Friedl/Zedler/Bratzke/Parzeller, Medizinische und rechtliche Aspekte der Genitalverstümmelung bzw. Beschneidung Teil II: Die rituelle Zirkumzion, Archiv für Kriminologie 227: 85-101 (2011), S. 86. 14 Rixen, Das Gesetz über den Umfang der Personensorge bei der Beschneidung des männlichen Kindes, NJW 2013, 257 (259). 15 Preisner in: Soergel/Zecca-Jobst BGB Familienrecht, 13. Auflage 2017, § 1631 d Rn. 12. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 7 die mittlerweile in (mindestens) zwei Fällen (Feuerwehrabgabe, Bleiberecht für Ausländerkinder ) zur Feststellung einer verfassungswidrigen Benachteiligung von Männern geführt hat.“16 Die faktisch höhere Opferzahl von Mädchen sei dabei kein tragfähiges Argument, um eine Ungleichbehandlung als solche verfassungsrechtlich rechtfertigen zu können.17 Auch ein Verweis auf die zu erwartenden unterschiedlich gravierenden Folgen der Eingriffe bei Jungen einerseits und bei Mädchen andererseits könne einen Eingriff in Artikel 3 Absatz 2, 3 Satz 1 GG verfassungsrechtlich schwerlich rechtfertigen.18 Denn bei Jungen würden Genitalverletzungen , die nicht durch die Einwilligung nach § 1631d BGB gerechtfertigt seien, ein mit der Verstümmelung weiblicher Genitalien vergleichbares Unrecht und Leid bei den Betroffenen hervorrufen .19 § 226a StGB stehe mithin angesichts von Artikel 3 GG in einem Wertungswiderspruch zu § 1631d BGB, da eine diesem entsprechende Regelung bei Eingriffen von geringerer Intensität bei Mädchen fehle und der Gesetzgeber damit das Personensorgerecht und eine mögliche Einwilligung in Eingriffe geringerer Intensität unterschiedlich ausgestaltet habe.20 Dem wird jedoch von anderer Seite entgegengehalten, es habe dem Gesetzgeber aufgrund der unterschiedlichen tatsächlichen Gefährdungslage durchaus freigestanden, eine explizite Norm für die weibliche Genitalverstümmelung zu schaffen, ohne damit gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichbehandlung zu verstoßen: „Umgekehrt werden gegen § 226a unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitsgrundsatzes Einwände vorgebracht, weil dadurch nur Mädchen und Frauen und nicht auch Männer vor Verstümmelungen ihrer äußeren Genitalien geschützt werden. Das ist zwar formal richtig und kann wegen Art 103 III GG auch nicht durch eine Analogie geschlossen werden; allerdings sind männliche Genitalverstümmelungen gerade nicht in einigen Kulturen als rituelle Handlungen verbreitet, so dass ein Bedürfnis für eine Spezialregelung – anders als bei der weltweit verbreiteten Genitalverstümmelung bei Frauen und Mädchen – nicht erkennbar ist. In theoretisch denkbaren Fällen (Fischer 5 nennt zB Folterungen) bleiben §§ 223, 224 und uU auch § 226 I, der den gleichen Mindeststrafrahmen wie § 226a ermöglicht.“21 16 Hardtung, in: Münchener Kommentar zum StGB, 3. Auflage 2017, Rn. 24. Rittig, Der neue § 226a StGB, JuS 2014, 499, 504 f.; Ladiges, Der Geschlechtsbegriff im Strafrecht – Zum neuen Tatbestand ‚Verstümmelung weiblicher Genitalien‘ in § 226a StGB, RuP 2013, 15. 17 Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 65. Auflage 2018, § 226a StGB Rn. 6. 18 Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 65. Auflage 2018, § 226a StGB Rn. 5, 6.; Ebenso: Rittig, Der neue § 226a StGB, JuS 2014, 499 (503, 504). 19 Fischer, Strafgesetzbuch mit Nebengesetzen, 65. Auflage 2018, § 226a StGB Rn. 5, 6.; Ebenso: Rittig, Der neue § 226a StGB, JuS 2014, 499 (503, 504). 20 Zöllner/Thörnich: Die Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a StGB), JA 2014, 167 (173). 21 Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 28. Aufl. 2014, Rn. 1. Wissenschaftliche Dienste Sachstand WD 7 - 3000 - 211/18 Seite 8 Einer vermittelnden Ansicht nach könne das bestehende Spannungsverhältnis der Ungleichbehandlung von Männern/Jungen einerseits und Frauen/Mädchen andererseits in § 226a StGB und § 1631d BGB durch eine restriktive Auslegung von § 226a StGB aufgelöst werden.22 So wird vorgeschlagen , § 226a StGB zur Vermeidung einer gleichheitswidrigen und diskriminierenden Anwendung dahingehend verfassungskonform auszulegen, dass über die Beeinträchtigung des Körpers hinaus auch andere Interessen verletzt sein müssten, die mithin als Schutzgut des § 226a StGB anzusehen seien.23 Von § 226a StGB würden dann Fälle erfasst, in denen über den Verlust eines Körperteils hinaus etwa die sexuelle Empfindsamkeit beeinträchtigt werde oder Schwierigkeiten beim Urinieren oder Menstruieren hervorgerufen würden.24 * * * 22 Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen Strafgesetzbuch, 5. Auflage 2017, § 226a StGB Rn. 3. 23 Wolters, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 9. Auflage 2017, § 226a Rn. 6, 7. 24 Wolters, in: Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 9. Auflage 2017, § 226a Rn. 7.