Deutscher Bundestag Islamische Paralleljustiz in Deutschland Anwendung der Scharia und außergerichtliche Streitbeilegung unter Muslimen Ausarbeitung Wissenschaftliche Dienste WD 7 - 3000 - 207/11 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 2 Islamische Paralleljustiz in Deutschland Anwendung der Scharia und außergerichtliche Streitbeilegung unter Muslimen Verfasser/in: Aktenzeichen: WD 7 - 3000 - 207/11 Abschluss der Arbeit: 11. Oktober 2011 Fachbereich: WD 7: Zivil-, Straf- und Verfahrensrecht, Umweltschutzrecht, Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Telefon: Ausarbeitungen und andere Informationsangebote der Wissenschaftlichen Dienste geben nicht die Auffassung des Deutschen Bundestages, eines seiner Organe oder der Bundestagsverwaltung wieder. Vielmehr liegen sie in der fachlichen Verantwortung der Verfasserinnen und Verfasser sowie der Fachbereichsleitung. Der Deutsche Bundestag behält sich die Rechte der Veröffentlichung und Verbreitung vor. Beides bedarf der Zustimmung der Leitung der Abteilung W, Platz der Republik 1, 11011 Berlin. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 3 Inhaltsverzeichnis 1. Art und Ausmaß der Anwendung der Scharia in Deutschland 4 1.1. Begriff der Scharia 4 1.2. Art der Anwendung der Scharia in Deutschland 4 1.2.1. Anwendung der Scharia durch deutsche Gerichte 4 1.2.2. Anwendung der Scharia durch islamische Institutionen 4 1.3. Ausmaß der Anwendung der Scharia 5 2. Zulässigkeit und strafrechtliche Erheblichkeit außergerichtlicher islamischer Streitbeilegung 5 2.1. Schlichtungen im Ehe- und Familienrecht 6 2.2. Schlichtungen im Strafrecht 6 Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 4 1. Art und Ausmaß der Anwendung der Scharia in Deutschland 1.1. Begriff der Scharia Der Begriff „Scharia“ wird sehr unterschiedlich verwendet und birgt daher die große Gefahr von Missverständnissen in sich. In einem weiten Sinne bezeichnet Scharia alle religiösen und rechtlichen Normen des Islam sowie die Instrumente ihrer Auffindung und Auslegung1. Dabei unterscheidet die Scharia zwischen religiösen Vorschriften, die das Verhältnis zu Gott regeln und rechtlichen Vorschriften für das Handeln der Menschen untereinander2. Der Begriff der Scharia im engeren Sinne beschränkt sich im Wesentlichen auf die Bereiche des Familien-, Erb- und Strafrechts3. 1.2. Art der Anwendung der Scharia in Deutschland Hinsichtlich der Art der Anwendung der Scharia in Deutschland muss unterschieden werden zwischen der Anwendung der Scharia durch deutsche Gericht einerseits und durch nichtstaatliche islamische Institutionen andererseits. 1.2.1. Anwendung der Scharia durch deutsche Gerichte Die direkte Anwendung der Scharia durch deutsche Gerichte gehört zum juristischen Alltag. Für einen ersten Überblick kann hier auf die Ausarbeitung der Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages zu dem Thema „Islamisches Recht in Deutschland: Außergerichtliche Streitbeilegung unter Muslimen“4 verwiesen werden. Weiterhin sei auf den Artikel „Islamisierung des deutschen Rechts?“5 von Mathias Rohe verwiesen , welcher die unterschiedlichen Möglichkeiten der Anwendung der Scharia-Normen in Deutschland differenziert darstellt. 1.2.2. Anwendung der Scharia durch islamische Institutionen Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass die Scharia auch durch nichtstaatliche Institutionen in Deutschland zur Anwendung kommt. Zu denken ist hier in erster Linie an die außergerichtliche Streitschlichtung durch muslimische Experten oder gar an die Entscheidung eines Konflikts durch einen muslimischen Richter, jeweils unter Anwendung des islamischen Rechts. 1 Rohe, Mathias, „Scharia und deutsches Recht“, in: Recht und Politik, 2009, S. 86. 2 , „Die Anwendung der Scharia in Deutschland“, Aktueller Begriff 85/08, 16. Dezember 2008, Fachbereich WD 3 3 Rohe, Mathias (Fn. 1), S. 86. 4 , „Islamisches Recht in Deutschland: Außergerichtliche Streitbeilegung unter Muslimen“, Ausarbeitung WD 1 – 004/04, 18. Februar 2004, S. 10. 5 Rohe, Mathias, „Islamisierung des deutschen Rechts?“, in: Juristen Zeitung (JZ) 2007, S. 801ff. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 5 Dabei ist zwischen der Beratung bei zivilrechtlichen - insbesondere bei Ehe- und Familienkonflikten - durch muslimische Gelehrte einerseits und dem Mitwirken jener im Hintergrund von Strafverfahren andererseits zu unterscheiden. Der Schwerpunkt der islamischen Streitschlichtung liegt hier wohl eindeutig bei der Beratung in Ehe- und Familienkonflikten6. Zu beachten ist jedoch, dass es in Deutschland kaum Erkenntnisse oder Untersuchungen zu dem Thema „Außergerichtliche Streitbeilegung unter Muslimen“ gibt7. Wissenschaftliche Studien speziell zu diesem Thema sind nicht ersichtlich. Allenfalls kommt es zur Schilderung von Einzelfällen 8. 1.3. Ausmaß der Anwendung der Scharia Soweit ersichtlich existieren in Deutschland keine wissenschaftlichen Untersuchungen oder Studien über das tatsächliche Ausmaß der Anwendung der Scharia. Zu verweisen ist lediglich auf Teilstudien für Österreich9 und Frankreich und Belgien10. Darüber hinaus existieren nur allgemeinere Studien, die statistische Erhebungen über die in Deutschland lebenden Muslime enthalten11 oder u.a. deren Einstellungen zu Demokatie und Rechtsstaat untersuchen12. 2. Zulässigkeit und strafrechtliche Erheblichkeit außergerichtlicher islamischer Streitbeilegung Fraglich ist, ob die außergerichtliche Streitbeilegung durch muslimische Schlichter gegen geltendes Recht verstößt oder ob es sich dabei um die zulässige Nutzung von rechtlichen und außerrechtlichen Handlungsspielräumen in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft handelt. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Tatsache, dass islamische Streitschlichter ausschließlich nach islamischem Recht tätig werden. Berücksichtigt werden muss jedoch auch, dass die 6 Vgl. Wagner, Joachim, „Richter ohne Gesetz“, Berlin, 2011, S. 57f.. 7 Vgl. (Fn. 4), S. 5f.. 8 Auch J. Wagner (Fn. 6) beschränkt sich in seinem Buch auf die Darstellung von Einzelfällen. Er zitiert den Bürgermeister von Berlin-Neukölln Heinz Buschkowsky mit den Worten, weil wir „hier wenig wissen und spekulieren “ müssen (S. 39) und räumt ein, dass die Frage, ob und wie Imame im Hintergrund von Strafverfahren agieren, bisher niemand untersucht hat (S. 57). 9 Schmied, Martina, „Familienkonflikte zwischen Scharia und Bürgerlichem Recht – Konfliktlösungsmodell im Vorfeld der Justiz am Beispiel Österreichs“, Frankfurt a.M., 1999. 10 Foblets, Marie-Claire, „Community Justice among immigrant family members in France and Belgium“, in: Kuppe/Potz (Hrsg.), Law & Anthropology, Vol. 7, 1994, S. 371ff.. 11 Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja, „Muslimisches Leben in Deutschland“, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), 1. Auflage, Juni 2009. 12 Brettfeld, Katrin/Wetzels, Peter, „Muslime in Deutschland – Integration, Integrationsbarrieren, Religion sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt, Bundesministerium des Innern (Hrsg.), 1. Auflage 2007. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 6 deutsche Rechtsordnung einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang in ihrem Geltungsbereich beansprucht und autonom darüber bestimmt, ob und in welchem Umfang „fremde“ Normen Anwendung finden können. Auf der Ebene des Geltungsanspruchs herrscht kein Normenpluralismus 13. Weiterhin muss die Schlichtungstätigkeit islamischer Gelehrter differenziert betrachtet werden: Zu unterscheiden ist jedenfalls zwischen Schlichtungen im Ehe- und Familienrecht einerseits und Schlichtungen im Hintergrund von Strafverfahren andererseits. 2.1. Schlichtungen im Ehe- und Familienrecht Grundsätzlich ist innerhalb unseres Rechtssystems in einem Konfliktfall immer auch der Weg der außergerichtlichen Streitbeilegung eröffnet. Vor allem in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten kann eine Schiedsstelle angerufen werden, welche jedoch keine rechtlich verbindliche Entscheidung treffen kann. Daneben existiert eine rein private und kaum formalisierte Art der Streitschlichtung in Form der Mediation.14 Im Rahmen dieser außergerichtlichen Streitbelegung ist in bürgerlich-rechtlichen Angelegenheiten auch eine private Streitschlichtung durch islamische Gelehrte denkbar. Allerdings wird zu Bedenken gegeben, dass eine Anwendung der Scharia in ehe- und familienrechtlichen Angelegenheiten teilweise im Widerspruch zu geltendem Recht stehe. Insbesondere verstoße die Scharia gegen das Gleichbehandlungsgebot und führe damit zu einer Diskriminierung der Frau. So folge z.B. aus dem Ausweichen auf eine außergerichtliche Streitbeilegung im Scheidungsrecht für die Frauen eine Durchsetzung rein männerorientierter Scheidungsregelungen.15 Darüber hinaus ist eine außergerichtliche Streitbeilegung immer dann problematisch, wenn sie mit Mitteln des Zwanges oder mit Gewalt ermöglicht oder durchgesetzt werden soll. In diesen Fällen kommt eine Strafbarkeit der beteiligten Personen nach den entsprechenden Vorschriften des Strafgesetzbuches (StGB)16 in Betracht (etwa wegen Nötigung gemäß § 240 StGB, Bedrohung gemäß § 241 StGB, Körperverletzung gemäß §§ 223ff. StGB usw.). 2.2. Schlichtungen im Strafrecht Im Bereich des Strafrechts gibt es die außergerichtliche Streitbeilegung nach § 380 Strafprozessordnung (StPO) 17. Danach muss bei Privatklagedelikten vor Klageerhebung ein Schlichtungsver- 13 Rohe (Fn. 5), S. 801. 14 Vgl. (Fn. 4), S. 3f.. 15 Vgl. dazu und zu den Argumenten für und gegen die Anwendung der Scharia (Fn.4), S. 12f.. 16 Strafgesetzbuch (StGB), in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322, zuletzt geändert durch Art. 4 G zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der opfer von Zwangsheirat sowie zur Änd. weiterer aufenthalts- und asylrechtl. vorschriften vom 23. Juni 2011 (BGBl. I S. 1266). 17 Strafprozessordnung (StPO), in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, ber. S. 1319), zuletzt geändert durch durch Art. 4 G zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der opfer von Zwangsheirat sowie zur Änd. weiterer aufenthalts- und asylrechtl. vorschriften vom 23. Juni 2011 (BGBl. I S. 1266). Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 7 such vor den durch die Landesjustizverwaltungen zu bezeichnenden Vergleichsbehörden unternommen worden sein. Daneben gibt es gemäß §§ 155a f. StPO den sog. Täter-Opfer-Ausgleich (TOA). Der TOA ist nicht auf bestimmte Delikte beschränkt, kommt aber im Wesentlichen bei Körperverletzungs- und Ehrdelikten , unter Umständen auch bei Freiheitsdelikten, Raub und Erpressung in Betracht18. In geeigneten Fällen können Staatsanwaltschaft und Gericht unmittelbar selbst vermitteln19 oder eine Ausgleichsstelle nach § 155b StPO einschalten. Ausgleichsstelle im Sinne von § 155b StPO können etwa auf den TOA spezialisierte private Vereine oder Einrichtungen , Jugend- und Erwachsenengerichtshilfen , soziale Dienste des Strafvollzugs sowie Schiedsleute sein20. Sowohl die außergerichtliche Streitbeilegung nach § 380 StPO, als auch der TOA nach §§ 155a f. StPO sind damit verfahrensrechtlich geregelt und finden entweder vor gesetzlich dazu bestimmten oder von Staatsanwaltschaft und Gericht beauftragten Stellen statt. Eine darüber hinausgehende private Schlichtung im strafrechtlichen Bereich bewegt sich daher zwangsläufig in einer rechtlichen Grauzone. Strafrechtlich erheblich ist eine außergerichtliche Schlichtung in Strafsachen zunächst immer dann, wenn sie mit Mitteln des Zwanges oder der Gewalt durchgeführt oder durchgesetzt wird21. In diesen Fällen kommt - wie auch bei der Schlichtung in Ehe- und Familienkonflikten - eine Strafbarkeit wegen Nötigung gemäß § 240 StGB, wegen Bedrohung gemäß § 241 StGB, unter Umständen auch wegen Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB oder wegen Köperverletzung gemäß §§ 223 ff. StGB in Betracht. Darüber hinaus können sich die an der Schlichtung beteiligten Personen strafbar machen, wenn sie auf ein laufendes Verfahren einwirken und beispielsweise Zeugenaussagen verändern, Beweise manipulieren oder zu solchen Handlungen raten. So sei gerade das Ziel vieler Schlichtungen, eine Strafanzeige zu verhindern oder zurückzunehmen, Opfer und Zeugen von einer Aussage abzubringen bzw. sie dazu zu bringen, ihr Aussageverhalten zu verändern oder von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen22. In diesen Fällen kommen folgende Strafbarkeiten in Betracht: Opfer und Zeugen, die vor Gericht falsch aussagen, können sich wegen Falschaussage gemäß § 153 StGB strafbar machen. Sollte - um etwa den Tatverdacht vom Beschuldigten auf einen in Wahrheit Unschuldigen umzulenken - eine andere Person wider besseren Wissens vor Polizei oder Staatsanwaltschaft verdächtigt werden, eine rechtswidrige Tat begangen zu haben, kommt eine Strafbarkeit wegen falscher Verdächtigung gemäß § 164 StGB oder wegen Vortäuschens ei- 18 Meyer-Goßner, Lutz: Strafprozessordnung, Beck’sche Kurz-Kommentare, 54. Auflage, 2011, § 155a Rn. 3. 19 Ebenda. 20 Meyer-Goßner, Lutz (Fn. 19), § 155b Rn. 1a. 21 Vgl. dazu Wagner (Fn. 6), S. 42ff.. 22 Vgl. Wagner (Fn. 6), S. 31, 36f.. Wissenschaftliche Dienste Ausarbeitung WD 7 - 3000 - 207/11 Seite 8 ner Straftat gemäß § 145d StGB in Betracht. Weiterhin ist es möglich, dass durch Beweismanipulationen eine Verurteilung des Täters tatsächlich verhindert oder auf geraume Zeit verzögert wird. In diesem Falle ist eine Strafbarkeit wegen Strafvereitelung gemäß § 258 StGB möglich. Sollten Schlichter oder auch Anwälte Opfer und Zeugen beeinflussen und auf die genannten Taten hinwirken, so können sie sich selber wegen Strafvereitelung oder wegen Anstiftung oder Beihilfe zu den jeweiligen Taten strafbar machen.